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Flirt mit der Nato, Sitz im Sicherheitsrat – schwankt die Neutralität der Schweiz?

Was heisst «neutral»?

Schweizer Fahne und Soldaten
© Keystone / Alessandro Della Valle

Die Schweiz ist auf der Suche nach einer neuen Auslegung ihrer Neutralität. Der internationale Vergleich zeigt: Neutralität hat viele Gesichter.

Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fordert Russland bei Friedensverhandlungen, dass die Ukraine neutral wird. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wäre damit vom Tisch.

Laut dem Neutralitätsforscher Pascal Lottaz geht es bei diesem Vorschlag um eine Neutralisierung der Ukraine. «Ähnlich ist es der Schweiz 1815 ergangen, mit dem Unterschied, dass die Schweiz das damals aktiv suchte.»

Aus nachvollziehbaren Gründen verlangt die Ukraine bei den Verhandlungen über eine allfällige Neutralität aber Sicherheitsgarantien durch andere Länder, bevorzugt durch NATO-Staaten. «An diesem Punkt gingen die Verhandlungen nicht weiter. Russland will das nicht, denn das wäre gleichbedeutend mit einem NATO-Beitritt», so Lottaz.

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Ergibt Neutralität heute noch Sinn?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Ukraine-Krieg hat die Debatte über die Schweizer Neutralität neu lanciert.

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Die Schweiz hat bei den Verhandlungen 1815 keine militärische Schutzmacht bekommen, sie ist auch nicht Mitglied der NATO, sondern muss selbst für ihre Sicherheit sorgen.

Dies zeigt bereits: Neutralität hat viele Gesichter. Staaten und Organisationen wie das IKRK oder die UNO gestalten sie auf unterschiedliche Weise. Und es gibt eine selbstgewählte oder eine von aussen aufgezwungene Neutralität. Grossmächte hatten immer wieder Interesse an neutralen Staaten als Puffer zwischen wichtigen Einflusszonen.

Typen der Neutralität

Die meisten neutralen Staaten sind stark bewaffnet, um sich verteidigen und den Durchzug fremder Truppen verhindern zu können. Länder wie Costa Rica, Liechtenstein oder der Vatikan kennen hingegen eine unbewaffnete Neutralität, sie verzichten auf eine Armee. Costa Rica vertraut auf den Schutz durch die USA, Liechtenstein zählt gewissermassen auf die Schweiz und der Vatikan ist ohnehin ein Sonderfall.

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Es gibt Staaten, welche die Neutralität nutzen, um sich abzukapseln. Turkmenistan etwa, eine totalitäre Diktatur, hat sich die Neutralität gross auf die Fahne geschrieben, um sich zu isolieren. «Turkmenistan verwendet die Neutralität dazu, um sich aus internationalen Gremien rauszuhalten, damit sich niemand in die inneren Angelegenheiten einmischt», urteilt Lottaz. Ähnlich gehalten hätten es Myanmar bis vor zehn Jahren oder Albanien während des Kalten Krieges.

Andere Staaten, allen voran die Schweiz, Österreich sowie früher Schweden und Finnland, nutzen die Neutralität, um sich auf dem internationalen Parkett einzubringen und ihre Guten Dienste anzupreisen. Sie pflegen laut Lottaz einen integrativen Ansatz. «Schweden und Finnland bezeichnen sich allerdings schon länger nicht mehr als neutral, sondern als bündnisfrei und sogar das wollen sie jetzt mit dem NATO-Beitritt aufgeben», sagt Lottaz.

Lottaz hält dies für eine Eskalation des Konflikts, was der Stabilität auf dem Kontinent Europa abträglich sei. Der Neutralitätsforscher findet es zwar gut, dass die Debatte über die Neutralität international und national neu geführt wird. Er hofft aber, dass möglichst viele Länder neutral bleiben, weil das Konflikte entschärfe. «Der Tenor im Moment ist jedoch gegen die Neutralität. Gerade im Westen wird etwa die Schweizer Neutralität als Russland helfend wahrgenommen und damit als moralisch verwerflich.»

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Manche Analyst:innen und Politiker:innen sprechen von einer Zeitenwende, andere von einem neuen Kalten Krieg. Damit könnte die Bewegung der Blockfreien Staaten ein Revival erleben, zu denen im Übrigen auf Druck Russlands von 2010 bis 2014 auch die Ukraine gehörte. Diese internationale Organisation wurde während des ersten Kalten Krieges auf Initiative von Ägypten, Indien und Jugoslawien gegründet und umfasste Länder vor allem aus Asien und Afrika, die sich im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und keinem der beiden Militärblöcke angehörten. Nach 1989 verlor die Institution an Bedeutung. «Ähnlich wie sich die NATO durch den Ukraine-Krieg neu erfunden hat, könnte das Bündnis blockfreier Staaten saniert werden, weil das Forum wieder Sinn macht», sagt Lottaz. «Die Dynamik ist wieder da.» So haben China, Indien, Indonesien, Ghana und südamerikanische Staaten bei den aktuellen Sanktionen gegen Russland nicht mitgemacht.

Indien und China verfolgen im Ukraine-Krieg eine situative Neutralität, auch wenn sie den Begriff offiziell nicht verwenden; sie halten sich aus diesem Konflikt raus. Im Unterschied zu Staaten mit einer dauernden Neutralität wie der Schweiz versprechen sie damit aber nicht, immer neutral zu sein.

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Dieses Verhalten ist vergleichbar mit dem Isolationismus der USA zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, damals sprach man von Neutralismus, der bekanntlich mit einem Kriegseintritt der USA beendet wurde. Davor waren die USA 150 Jahre lang neutral gegenüber europäischen Kriegen gewesen. «Die USA des 19. Jahrhunderts kann man mit dem heutigen China vergleichen», sagt Neutralitätsforscher Lottaz. China versuche nicht, militärische Allianzen zu schmieden. Auch sei China alles andere als glücklich über den Ukraine-Krieg. China wolle in keinen Krieg verwickelt sein. «Nur beim Streit um Taiwan, da wäre China bereit, einen Krieg zu führen.»

Auch in Österreich hat sich die Auffassung, was Neutralität bedeutet, über die Zeit verändert. Nicht zuletzt der EU-Beitritt hat zu einem dynamischeren Begriffsverständnis geführt. «Wirtschaftssanktionen sind für Österreich kein Problem, weil die Neutralität rein militärisch ist», sagt Sicherheitsforscherin und Völkerrechtlerin Elisabeth Hoffberger-Pippan vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin. Die EU hat aber auch entschieden, die Ukraine militärisch zu unterstützen. «In solch einem Fall nützt Österreich das Konzept der ‹konstruktiven Enthaltung›. Es stimmt selbst nicht aktiv mit, verhindert aber auch nicht das Zustandekommen des jeweiligen Beschlusses.»

Dass Österreich in internationale Organisationen wie die EU eingebunden ist, sorgt immer wieder für Reibungspunkte, auch wenn laut der österreichischen Regierung die Teilnahme an internationalen Gremien mit der Neutralität vereinbar ist.

Laut Hoffberger-Pippan ist es wichtig, dass die EU auf die Besonderheiten neutraler Staaten eingeht und Rücksicht nimmt. Die EU hat sich in den Verträgen dazu auch explizit verpflichtet.

Anders als die Schweiz lässt Österreich Überflüge von NATO-Flugzeugen immer wieder zu, obgleich dies nach traditioneller Rechtsauffassung mit der Neutralität schwer vereinbar ist. «Es gibt keinen internationalen Aufschrei», so Hoffberger-Pippan. Man sei vom klassischen Verständnis ohne grosses Aufheben abgewichen. Österreich argumentiert, dass keine Verletzung der Neutralität vorliegt, wenn NATO-Flugzeuge österreichisches Territorium überfliegen, weil die Flüge bislang keine Waffen in Kriegsgebiete liefern, sondern in andere NATO-Staaten.

Hin und wieder wird der schwache Zustand der österreichischen Armee kritisiert. Aus dem Neutralitätsrecht leitet sich ab, dass bewaffnete neutrale Staaten wehrfähig sein müssen, damit sie den Durchzug fremder Truppen verhindern oder einen Angriff abwehren können. «Österreich verlässt sich auf andere Staaten der EU und der NATO», so Hoffberger-Pippan. Wenn Österreich angegriffen würde, kann es sich auf die Solidarität der EU verlassen. Vor allem EU-Staaten, die gleichzeitig NATO-Partner sind, verfügen über beträchtliche militärische Ressourcen und würden Österreich militärisch zu Hilfe kommen.

Würde hingegen beispielsweise Frankreich angegriffen, so würde Österreich aufgrund der Neutralität keine Truppen schicken, um Frankreich bei Kampfhandlungen zu helfen, sondern es würde sich mit anderen Mitteln solidarisch zeigen. Ähnlich wie die Schweiz wird Österreich deshalb des Trittbrettfahrens bezichtigt. «Österreich will ein Stück vom Kuchen haben, aber beim Backen nicht dabei sein», fasst Hoffberger-Pippan die gängige Kritik zusammen.

Im Unterschied zur Schweiz, wo eine lebendige Debatte geführt wird, will sich in Österreich – mit einer Ausnahme – keine Partei mit der Neutralität befassen, laut Hoffberger-Pippan wären damit keine Lorbeeren zu holen. Die Neutralität ist fester Bestandteil der politischen Kultur und seit Jahren Handlungsmaxime der österreichischen Aussen- und Sicherheitspolitik. Nur die liberale «NEOS – Das Neue Österreich» wagt sich an das Thema Neutralität und fordert eine Diskussion über alle Optionen, darunter eine EU-Armee.

Laut Lottaz waren Grossmächte immer mal wieder situativ neutral. Die Haager Konventionen seien für sie geschrieben worden, nicht so sehr für kleine Neutrale wie die Schweiz oder Österreich. «Das Neutralitätsrecht ist aus diesem Grund sehr liberal, so dürfen Neutrale beispielsweise mit Waffen handeln, sofern sie die kriegsführenden Parteien gleichbehandeln.» Die Haager Übereinkommen sind laut Lottaz veraltet, sie wurden seit 1907 nur sporadisch aufdatiert. Der Cyberspace und Raketen sind im Neutralitätsrecht nicht geregelt, weil es das damals noch nicht gab. «Die Abkommen müssen aufdatiert werden, um die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts zu spiegeln», so Lottaz.

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Kai Reusser / swissinfo.ch

Schweizer Neutralität immer schon formbar

Laut der Sicherheitsforscherin Lea Schaad wissen viele Leute in der Schweiz nicht, dass es einen erheblichen Unterschied gibt zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik. Während das internationale Neutralitätsrecht gemäss Haager Übereinkommen statisch vorsieht, dass neutrale Länder sich nicht an militärischen Konflikten beteiligen, zielt die freiwillige Neutralitätspolitik darauf ab, andere Länder davon zu überzeugen, dass man sich im Fall eines Krieges raushalten würde, und ist entsprechend flexibler.

Laut Schaad hat die Schweiz die Neutralitätspolitik bewusst nicht in die Verfassung geschrieben, damit man sie je nach Situation anders auslegen kann. «Im Kalten Krieg war die Schweiz strikt. Danach legte sie ihre Neutralität unter der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey aktiver aus.» So hat die Schweiz seit dem Ende des Kalten Krieges regelmässig wirtschaftliche Sanktionen übernommen.

Micheline Calmy-Rey
Prägte den Begriff der «aktiven Neutralität» und setzte sich für den Multilateralismus ein: Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey von der Sozialdemokratischen Partei (links). Keystone / Abedin Taherkenareh

Auch Lottaz nennt Beispiele für den schweizerischen Schlingerkurs: Als die Schweiz in der Zwischenkriegszeit Mitglied des Völkerbundes war, verfolgte sie eine «differenzielle Neutralität» und nahm, wenn nicht an militärischen, so doch an wirtschaftlichen Sanktionen teil. Doch bereits beim Angriff Italiens auf Äthiopien 1935 konnte die Schweiz diesen Kurs nicht durchhalten, weil aufgrund der Wirtschaftssanktionen gegen Italien das Tessin abgeschnitten war, also ging sie zurück zur integralen Neutralität.

Neuinterpretierung der Schweizer Neutralität

Laut Schaad wird es jetzt richtig spannend, denn der amtierende Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis hat Ende Mai am Weltwirtschafts-Forum mit der Wortschöpfung «kooperative Neutralität» für Aufsehen gesorgt. Laut dem Neutralitätsforscher Pascal Lottaz handelt es sich bei Wortschöpfungen wie ‹Aktive Neutralität›, ‹Engagierte Neutralität› oder jüngst ‹Kooperative Neutralität› um politische Begriffe, die erfunden wurden, um die Neutralität neu zu verpacken. Das versteht Schaad ähnlich: «Möglicherweise war das der Anfang eines neuen Framings, wie Cassis die Neutralität interpretieren wird.»

Ignazio Cassis
Strebt eine «kooperative Neutralität» an: Bundespräsident Ignazio Cassis von der FDP.Die Liberalen (mitte-rechts). ©keystone/peter Schneider

Gerade diese Formbarkeit der Neutralitätspolitik führt laut den beiden Forschenden aber auch zu den immer gleichen Diskussionen zwischen denselben Fronten: Auf der einen Seite fordern jene mit einem strikten Verständnis der Neutralität, dass die Schweiz kriegsführende Parteien sowohl militärisch als auch wirtschaftlich gleichbehandeln soll, was Sanktionen ausschliesst. «Heute sind wir wieder an einem Punkt, an dem manche zurück zu einer integralen Neutralität wollen», so Lottaz.

Auf der anderen Seite lehnen andere mit einem aktiveren Verständnis der Neutralität den isolationistischen Kurs ab und fordern, dass die Schweiz aktiv Stellung bezieht.

«Es wäre schön, wenn geklärt werden könnte, was unsere Policy ist», sagt Schaad. Dann gäbe es nicht bei jedem geopolitischen Ereignis eine Diskussion, wie sich die Schweiz zu verhalten habe.

Schweiz könnte schneller reagieren

Dieser Wunsch könnte bald in Erfüllung gehen: Die Regierung hat einen neuen Bericht über die Neutralität angekündigt. In dem letzten Bericht aus dem Jahr 1993 legte die Regierung dar, wie sie die Neutralität auszulegen gedenke.

Christoph Blocher
Vertritt eine strikte Auslegung der Neutralität und möchte dies in die Verfassung schreiben: Alt Bundesrat Christoph Blocher von der rechtskonservativen SVP. © Keystone / Gaetan Bally

Laut Schaad könnte es mit dem neuen Bericht erneut zu einem Richtungswechsel kommen, ähnlich wie nach dem Ende des Kalten Krieges. Auch heute erfordere eine veränderte geopolitische Lage eine Neudefinition der Neutralität.

Auch für das Ausland könnte es interessant sein, ob und wie die Schweiz ihre Neutralität neu interpretiert. «Es besteht die Hoffnung, dass die Schweiz schneller reagieren kann», so Schaad. Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges war die Schweiz für ihre zögerliche Sanktionsübernahme von den USA und deren westlichen Verbündeten kritisiert worden.

Der Regierung einen Strich durch die Rechnung machen könnte allerdings alt Bundesrat Christoph Blocher von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Er plant eine Volksinitiative, mit der eine allumfassende Neutralität in die Verfassung geschrieben würde. Damit wäre eine strikte Neutralität verbindlich verankert. Das letzte Wort über die Schweizer Neutralität hat also das Volk.

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