Warum die Schweiz mit ihrer Neutralität hadert und Österreich nicht
Wie die Schweiz kennt auch Österreich die immerwährende Neutralität, ja der Nachbar hat sich sogar die Schweiz zum Vorbild genommen. Doch während die Eidgenossen im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit ihr Neutralitätsverständnis infrage stellen, gibt es in Österreich keine ersthafte Diskussion. Das hat gute Gründe.
Die Schweizer Regierung hat auf den wachsenden internationalen Druck mit einer Worthülse reagiert: Bundespräsident Ignazio Cassis sprach in seiner Eröffnungsrede beim World Economic ForumExterner Link vor ein paar Wochen von «kooperativer Neutralität», ein neuer Begriff, der in der Folge heftig diskutiert wurde. Schon in der Vergangenheit gab es Neutralitätskontroversen in der Schweiz, sie kreisten um Begriffe wie «aktive oder umfassende» oder «differentielle Neutralität». Es ging und geht dabei letztlich nie um die Abschaffung der Neutralität, sondern um eine Neudefinition.
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Die Neutralität der Schweiz – wohin des Weges?
Die Reformforderungen kommen von innen wie von aussen. Als die Schweiz den Dänen kürzlich untersagte, 20 Radschützenpanzer aus Schweizer Fertigung an die Ukraine abzugeben, sorgte das international für Wirbel. Das schien vielen eine zu enge Auslegung des Kriegsmaterialgesetzes eines neutralen Landes.
Völkerrechtsprofessor Marco Sassoli von der Universität Genf erklärt die Haltung der Schweizer Landesregierung mit dem Umstand, dass diese zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterscheidet. «Der Bundesrat stellte am 3. Juni nochmals fest, dass der Staat keine Waffen an kriegsführende Länder liefern darf, auch nicht als Umgehungsgeschäft über Dritte. Wenn er Privaten Waffenausfuhren erlaubt, müsste er nach Völkerrecht auch Lieferungen an beide Kriegsparteien erlauben.»
Nach dem Muster der Schweiz
Doch jedes neutrale Land wählt seine Auslegung des Neutralitätsrechts in der Praxis selbst. Das zeigt gerade auch ein Blick auf das Nachbarland Österreich, das wie die Schweiz die immerwährende Neutralität kennt, ja sich sogar in der Stunde der Geburt stark ans Modell des Nachbarlandes anlehnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg beeindruckt das Schweizer Modell der Neutralität die Russen derart, dass sie von Österreich dessen Nachahmung als Bedingung für ihren Abzug forderten. Sie hielten im April 1955 im Moskauer MemorandumExterner Link fest, dass es eine Neutralität «nach dem Muster der Schweiz» geben müsse. Die strategische Überlegung eines neutralen Riegels zwischen den NATO-Staaten BRD und Italien dürfte dabei für die Sowjetunion eine wichtige Rolle gespielt haben. Das zeigte sich auch in der späteren Entwicklung.
«Die Sowjetunion versuchte, die österreichische Neutralität auch für andere westliche Staaten attraktiv zu machen, um so die NATO zu zersetzen», sagt Wolfgang Müller, Professor für Russische Geschichte in Wien. Doch die Neutralität «nach dem Muster der Schweiz» war keineswegs eine «Erfindung» der russischen Besatzungsmacht allein. Schon im Januar 1945 hatte der amerikanische Aussenminister John Foster Dulles bei der Viermächtekonferenz in Berlin davon gesprochen, dass man eine Neutralität Österreichs akzeptieren würde – aber nur, wenn sie nach dem Vorbild der Schweiz gestaltet ist.
Die Schweiz ist bereits seit dem Wiener Kongress 1815 auf international vertraglicher Ebene neutral. Während Österreich damals als Siegermacht das Schicksal der Schweiz mitbestimmte, waren es 1955 in einer ganz ähnlichen Situation. Letztendlich war die «dauerhafte Neutralität» der Rettungsanker, um die vier Besatzungsmächte loszuwerden, und der Neubeginn für das heutige freie Österreich. Ab sofort war Österreich gemeinsam mit der Schweiz eine neutrale Insel in der Mitte Europas. «Damit spielen diese beiden Länder einander gegenseitig den Ball zu, sie setzen gewissermassen zu zweit ihr eigenes Völkerrecht», sagt Ralph Janik, Lehrbeauftragter der Universität Wien für Völkerrecht und internationale Beziehungen.
Uno, EU und die Neutralität
Österreich lebte seine Neutralität jedoch von Beginn an anders als die Schweiz. Schon im Jahr des Staatsvertrages trat es den Vereinten Nationen bei und schloss sich später der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an. Die Schweiz zögerte noch bis 2002 mit dem Beitritt zur UNO. Sassoli sagt dazu: «Einen UNO Beitritt hielt die Schweiz anfänglich mit der Neutralität nicht für vereinbar, da man davon ausging, dass man die UNO-Truppen bei militärischen Sanktionen durch eigene Truppen unterstützen muss. Neutralität gilt ja rechtlich nur im Krieg. In Friedenszeiten wollte man jedoch in der Schweiz keine Abmachung treffen, welche dann später verhindert, dass man neutral bleiben kann.»
Als manche die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg als Kriegsprofiteure verunglimpften, begann diese damit, ihre guten Dienste zur Verfügung zu stellen und sich international für den Frieden einzusetzen. «Die Schweizer denken noch viel mehr als die Österreicher, dass sie ein Sonderfall sind», sagt Sassoli. «Die Neutralität ist tief im Bewusstsein verankert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie durch das Konzept der Solidarität, einschliesslich guter Dienste, ergänzt und ausgeglichen, um zu zeigen, dass die Schweizer keine Egoisten sind.»
Die Schweiz bemühte sich aber bei ihrem Alleingang auch, eine starke Verflechtung mit der EU zu vermeiden, während Österreich 1989 ein formelles Beitrittsansuchen an die Europäischen Gemeinschaften stellte. Zwei Drittel der Österreicher bejahten diesen Wunsch bei einer Volksabstimmung, und seit 1995 ist das Land Mitglied der Europäischen Union. Der zeitgleiche Zusammenbruch der Sowjetunion ermutigte Österreich wohl zu einer grosszügigeren Interpretation der «immerwährenden Neutralität».
In der Schweiz wurde 2001 zwar über einen EU-Beitritt diskutiert, eine Initiative, die Beitrittsverhandlungen verlangte, wurde in einer Volksabstimmung aber mit 77% abgeschmettertExterner Link. Neben dem Thema der direkten Demokratie und Föderalismus spielte auch die Neutralität für die Ablehnung eine Rolle. Das Selbstverständnis der Schweiz ist, sich aus ausländischen Konflikten herauszuhalten.
Dass sich der EU-Beitritt überhaupt mit der Neutralität vereinbaren lässt, wird auch von österreichischen Experten stark bezweifelt: «Der EU-Beitritt hat den aussenpolitischen Spielraum stark eingeschränkt. Man muss sich ausserdem fragen, ob die EU nicht eigentlich ein Militärbündnis im Sinne des Neutralitätsgesetzes ist“, sagt Ralph Janik. Allerdings nehme die Beistandspflicht auf die Neutralität Rücksicht. «Österreich schuldet also jedenfalls keine militärische Hilfe.»
Doch es gab für Österreich niemals eine Sonderregelung wie für Dänemark, das sich als einziges Mitglied weder finanziell noch militärisch an EU-Militäraktionen beteiligen wollte. Seit einigen Tagen ist dies aber auch Geschichte, denn in einer Volksabstimmung verabschiedeten sich die Dänen mit einer Zweidrittelmehrheit von dieser knapp 30 Jahre existierenden Vereinbarung. Das war als Signal an Putin gedacht und zeigt welche Bedeutung der Sonderweg hatte.
Vorwurf: «Trittbrettfahrer»
Wie die Schweiz ist auch Österreich laut Neutralitätsgesetz verpflichtet, keinen militärischen Bündnissen beizutreten und diesen Status aufrecht zu erhalten und zu verteidigen. Doch die Zahlen, welche die Wehrhaftigkeit umreissen, zeichnen ein ernüchterndes Bild im Vergleich zur Schweiz. Bei fast identischer Einwohnerzahl steht in Österreich beispielsweise nur ein Fünftel der aktiven Soldaten zur Verfügung, die mit 215 gepanzerten Fahrzeugen – im Gegensatz zu 1500 in der Schweiz – auskommen müssen.
«Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee“, sagt Müller. „Das sieht man am Wehrbudget, der Infrastruktur und Bewaffnung, den Übungen der Miliz. Österreich spart hier und steckt das Geld in die Sozialpolitik. Der Vorwurf an Österreich, sicherheitspolitisch ein Trittbrettfahrer zu sein, ist nicht unberechtigt.» Tatsächlich ist die Neutralität in Österreich für ihn mit einer unrealistischen Erwartungshaltung behaftet: «Man erwartet, dass man bei einem Angriff von der ganzen Welt verteidigt wird, aber will selbst niemandem militärisch beistehen.»
Einen Abriss der Geschichte der Schweizer Milizarmee finden Sie hier:
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Das Schweizer Milizsystem
Doch auch der wehrhaften Schweiz wurde – trotz finanzieller Beteiligung – schon der Vorwurf gemacht, ein NATO-Trittbrettfahrer zu sein. In diesem Sinne sitzen die beiden Länder dann doch im gleichen Boot, wobei Österreich übrigens kein einziges militärisches Patrouillenboot auf der Donau besitzt, aber die Schweiz 16 für Einsätze an den Grenzseen.
Die österreichische Nachlässigkeit ist auch in der Schweiz ein Thema: „Es wird in der Schweiz oft gesagt, dass man völkerrechtlich verpflichtet ist, die Neutralität zu verteidigen. Da wird auch auf Österreich hinabgesehen, das nicht einmal seinen Luftraum verteidigen könne“, sagt Sassoli. „Selbst will man aber kein Trittbrettfahrer sein und plant eine Erhöhung des Wehrbudgets.“
Ein Modell für die Ukraine?
Der Vorschlag der kleinen Nichtregierungspartei NEOS, den ukrainischen Präsidenten Selenski im März zu einer Live-Videorede im österreichischen Nationalrat einzuladen, stiess sofort auf Widerstand. Sowohl die SPÖ (Sozialdemokraten) als auch die FPÖ (Freiheitliche Partei) argumentierten, dass dies nicht mit der Neutralität vereinbar sei. Letztendlich wagte es niemand eine Einladung auszusprechen. In der Schweiz hielt Selenski eine Rede per Live- -Schaltung eine Rede auf dem Berner Bundesplatz, vom Bundespräsidenten Ignazio Cassis mit den Worten «Lieber Wolodimir» persönlich begrüsst.
Österreichs immerwährende Neutralität hat so wie jene des Schweizer Vorbildes noch kein Ablaufdatum. Das Parlament könnte sie theoretisch mit einer Zweidrittelmehrheit aufheben. Ein realistisches Szenario ist das in absehbarer Zeit nicht. Hingegen wird das Neutralitätsmodell als mögliches Vorbild für die Ukraine gehandelt. Ähnlich wie Russland 1955 von Österreich die Neutralität verlangte, wird sie nun auch von Kiew gefordert. Der Kreml macht allerdings die völlige Entmilitarisierung der Ukraine zur Bedingung für eine zukünftige Neutralität – wohl wissend, dass die Ukraine einem wehrlosen Status gegenüber Russland niemals freiwillig zustimmen wird. Mit dem Vorbild der Neutralität der Schweiz und Österreich haben diese «Vorschläge», so gesehen, wenig bis gar nichts zu tun.
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