«Versteckte Kinder» fordern Gerechtigkeit
Tausende Kinder von Saisonniers lebten von den 1950er- bis in die 1990er-Jahren illegal bei ihren Eltern in der Schweiz. Denn der Kindernachzug war für ausländische Arbeiter:innen mit diesem prekären Status offiziell verboten. Das Schicksal dieser "Schrankkinder" hat viele Familien gezeichnet. Nun fordert ein Verein vom Bund eine offizielle Entschuldigung sowie Wiedergutmachung.
Egidio Stigliano ist Vizepräsident des Vereins Tesoro, der sich am 1. Oktober in Zürich der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Gefordert wird eine offizielle Entschuldigung der Schweizer Behörden für die Opfer des Saisonnier-Statuts, genauso wie eine Wiedergutmachung, wenn auch nur im Sinne einer symbolischen Entschädigung.
«Diese Geschichte hat sich nicht im Mittelalter oder irgendwo zugetragen, sondern in der Schweiz, in der Heimat des Roten Kreuzes. Es war ein Angriff auf die Integrität der Familie; und niemand hat damals dagegen protestiert», so Stigliano.
Um was geht es genau? Saisonarbeit hat es schon immer gegeben. Während einer bestimmten Zeitperiode kannte die Schweiz jedoch ein regelrechtes Saisonnierstatut für ausländische Arbeitskräfte.
«Das mit dem Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer 1931 eingerichtete Saisonnierstatut entstand im Kontext einer Migrationspolitik, die eine den wirtschaftlichen Bedürfnissen angepasste Flexibilität des Arbeitsmarkts sichern und gleichzeitig die ‹ausländische Übervölkerung› bekämpfen wollte», heisst es zum Stichwort Saisonniers im Historischen Lexikon der Schweiz.Externer Link
Die Schweizer Wirtschaft hat in der Tat stark von dieser Aufenthaltsbewilligung für Saisonarbeiter:innen profitiert. Beispielsweise gelange es dadurch, die Auswirkungen der Ölkrise in den 1970er-Jahren abzufedern. Die Krise wurde gewissermassen exportiert, indem die Anzahl der Saisonarbeitsverträge drastisch reduziert wurde, wie aus der folgenden Grafik hervorgeht. In dem die Schweiz Saisonniers heimschickte, vermied sie grosse Arbeitslosigkeit.
Illegale Kinder
Doch was bedeutete das Saisonnierstatut eigentlich? Nebst einer beschränkten Aufenthaltsdauer von neun Monaten pro Jahr waren auch die Leistungen der Sozialversicherungen und die Selbstständigkeit der Arbeiter eingeschränkt: Verboten war der Wohnort- und Arbeitgeberwechsel während der Saison.
Insbesondere war der Familiennachzug untersagt. Das bedeutete konkret: Wer in die Schweiz kam, um in der Baubranche oder in der Hotellerie zu arbeiten, konnte seine Familie nicht mitnehmen. Wenn in einem Ehepaar beide Partner Saisonniers waren, mussten diese allein kommen und ihre Kinder zu Hause lassen.
Mit der Zeit gab es einige Verbesserungen. Ab 1964 galt für Italien die Umwandlung der Saisonbewilligung in eine Jahresbewilligung nach fünf aufeinanderfolgenden Saisons, einhergehend mit dem Recht auf Familiennachzug. Diese Neuerung wurde 1976 auf die Angehörigen weiterer Nationen ausgedehnt. Das Saisonnierstatut bestand aber bis 2002. Es wurde erst mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU im Rahmen der bilateralen Verträge abgeschafft.
Während die Schweizer Wirtschaft von den Saisonniers profitierte, hinterliess dieses Sonderstatut bei vielen Familien tiefgreifende und unauslöschliche Spuren. Denn viele Saisonniers mussten sich für viele Monate von ihren Kindern trennen.
Andere brachten ihre Kinder hingegen illegal in die Schweiz. Diese Kinder wurden versteckt beziehungsweise «unsichtbar» gemacht, um von den Behörden nicht entdeckt und möglicherweise abgeschoben zu werden. Daher ist auch von «Schrankkindern» die Rede.
Der Zug fährt ab, das Kind bleibt
Der 61-jährige Egidio Stigliano, der heute als Neuropädagoge in einer Klinik im Kanton St. Gallen arbeitet, hat dieses Schicksal am eigenen Leib erfahren. Egidios Eltern verliessen 1963 ihre Heimat, die Region Basilikata in Süditalien, um in die Schweiz als Saisonniers zu arbeiten. Egidio war damals drei Jahre alt. Er wird der Grossmutter anvertraut.
Sie nahm ihn am Tag der Abreise mit aufs Land, um einem vorbeifahrenden Zug zuzuwinken. Damals wusste er natürlich nicht, dass in diesem Zug seine Eltern sassen, um in die Schweiz zu gelangen. Heute denkt er voller Emotionen an diesen Moment zurück, an dem seine Mutter und sein Vater aufgebrochen sind, ohne zu wissen, wann sie ihren Sohn wiedersehen würden. Es muss sehr leidvoll gewesen sein.
Die Grossmutter starb an einem Schlaganfall, als er sieben Jahre alt war. Die Eltern beschlossen daraufhin, sich dem Gesetz zu widersetzen und ihren Sohn Egidio in die Schweiz zu holen. Sie wohnten in Altstätten im Kanton St. Gallen. Dort waren die Regeln für den Sohn klar: «Sie sagten mir: Junge, du musst den ganzen Tag in der Wohnung bleiben, und wenn du rausgehen willst, musst du den Hinterausgang nehmen und im Wald spielen, ohne dass dich jemand bemerkt.»
«Der Wald wurde für mich so etwas wie ein Zuhause, ich verbrachte dort ganze Tage allein. Sobald ich eine Sirene hörte, rannte ich los und versteckte mich in einem Unterstand, den ich entdeckt hatte, weil ich dachte, dass mich dort niemand finden würde. Ich dachte immer, dass jemand kommen würde, um mich meiner Mutter wegzunehmen», erinnert sich Egidio Stigliano.
Die Angst im Nacken
Wie Egidio erging es Tausenden von Jungen und Mädchen, die vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren gezwungen waren, «in Kleiderschränken zu leben», wie man einst sagte. Sie verwandelten sich in Geister. Es gibt keine offiziellen Erhebungen zu diesem Phänomen, aber Schätzungen gehen davon aus, dass es allein in den 1970er-Jahren etwa 15’000 «illegale» Kinder gab. «Die lebhafteste Erinnerung aus diesen Tag ist die Angst», sagt Egidio Stigliano.
Eines Tages sieht er eine Schulgruppe im Wald. Und er beschliesst, sich nicht länger zu verstecken, «Der Wunsch, mit anderen Kindern zusammen zu sein, war so stark, dass ich nicht anders konnte», erinnert er sich. Und fügt an: «Zudem spielten sie immer in der Sonne, während ich im Schatten bleiben musste.»
Eine Frau spricht ihn auf Italienisch an. «Vielleicht tat sie das, weil ich nicht wirklich blond war», meint er im Nachhinein. Sie fragte ihn jedenfalls nach seinem Namen und sie wollte wissen, was er dort machte. Es war eine Lehrerin. Sie ging zurück ins Dorf und zeigte den Fall an. «Mit der Absicht, mich in die Schule zu bringen», erzählt er.
Einige Stunden später klopften Polizisten an die Tür der Familie Stigliano. Das Kind müsse nach Italien zurückkehren, sagten sie. Aber der Arbeitgeber seines Vaters, ein Bauunternehmer, sprang als Bürge ein und überzeugte die Polizei, dem jungen Egidio zu erlauben, bei seinen Eltern zu bleiben und endlich zur Schule zu gehen. «Der Kapitalismus hat sich durchgesetzt», erinnert er sich heute mit einem Hauch von Sarkasmus.
Schrankkinder erzählten dem Schweizer Fernsehen von ihren Erfahrungen:
Die Wunden bleiben
Das ist lange her. Doch die Wunden der Vergangenheit sind nie ganz verheilt und immer wieder aufgebrochen. Auch bei zufälligen Begegnungen mit anderen Menschen, die ein ähnliches Schicksal teilten. Aus den gemeinsamen Erfahrungen der versteckten Kinder ist die Idee zum Verein Tesoro entstanden.
«Mit unserer Initiative wollen wir uns nicht rächen. Wir wollen einfach zum Nachdenken anregen, auch aus einer heutigen Perspektive. Denken wir nur daran, wie Einwander:innen in vielen Ländern behandelt werden. Wir wollen auch die Schweizer Politiker:innen sensibilisieren, damit sich so etwas nie wiederholen kann», betont Stigliano als Vizepräsident des Vereins.
Neben einer offiziellen Entschuldigung der Bundesbehörden fordert die Organisation eine Wiedergutmachung für die Opfer. Es handelt sich allerdings eher um ein «symbolische Entschädigung», wie Egidio Stigliano betont. «Ich persönlich würde dieses Wort Entschädigung nicht einmal benutzen. Auch ein Franken würde ausreichen. Uns interessierte dieser finanzielle Aspekt nicht besonders.»
Das Ziel sei es, die Bevölkerung ein wenig aufzurütteln, so wie es bereits bei den Verdingkindern geschehen ist. Es gehe darum, dass das Trauma der versteckten Kinder anerkannt werde, denn nicht alle hätten ihre damalige Zeit unbeschadet überstanden, erklärt Stigliano.
Nicht zuletzt soll durch diese Initiative die historisch-wissenschaftliche Forschung über die damalige Zeit und das Schicksal der «Schrankkinder» angeregt werden. Denn bisher sei nur sehr wenig darüber recherchiert und geschrieben worden. Eine der wenigen Abhandlungen ist das Buch von Maria Frigerio «Verbotene Kinder. Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität»Externer Link (Rotpunktverlag, Zürich 2014). Ansonsten hat sich die Forschung kaum mit dem Phänomen beschäftigt.
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Interpellation in Sicht
Bald jedoch soll die Diskussion auch auf politischer Ebene aufflammen. Dies zumindest beabsichtigt SP-Nationalrätin Samira Marti. «In Bezug auf die Kriminalisierung der Kinder von Saisonniers brauchen wir ein Umdenken in der öffentlichen Meinung, in der Politik und in der Geschichte. Es braucht eine symbolische Anerkennung und Entschuldigung für diese Menschenrechtsverletzungen», sagt die Parlamentarierin aus Basel-Landschaft.
In der Dezembersitzung des Schweizer Parlaments wird Samira Marti eine Interpellation einreichen, um vom Bundesrat eine Stellungnahme zum Phänomen der Schrankkinder zu erhalten. «In Zusammenarbeit mit dem Verein Tesoro werden wir uns dann über die nächsten Schritte Gedanken machen», so Marti.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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