«Schweiz sendet fatales Signal in die Welt hinaus»
Mit neuen Anti-Terror-Gesetzen werde die Schweiz für autoritäre Regimes zum Vorbild. Das Online-Magazin "Republik" sprach mit der Frau, die diese scharfe Kritik formuliert hat: der UNO-Sonderbeauftragten für Menschenrechte, Fionnuala Ní Aoláin. Wir reproduzieren das Interview Externer Linkmit freundlicher Genehmigung.
Fionnuala Ní Aoláin, wir führen dieses Gespräch ausgerechnet am 11. September. Vor fast zwanzig Jahren hat der damalige US-Präsident George W. Bush wegen der Anschläge in den USA den Ausnahmezustand ausgerufen – der bis heute andauert. Zwanzig Jahre Ausnahmezustand – was bedeutet das für einen Rechtsstaat?
Fionnuala Ní Aoláin: Wir erleben seit zwanzig Jahren die Normalisierung des Ausnahmezustands. Nicht nur auf nationaler Ebene in den USA. Die Anschläge vom 11. September haben auf globaler Ebene zu Strukturen der Terrorismusbekämpfung geführt, die Menschenrechte und den Rechtsstaat kaum berücksichtigen. Auch bei der Uno selber.
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Umstrittenes Schweizer Antiterrorismus-Gesetz
Die Uno berücksichtigt in gewissen Bereichen Menschenrechte und den Rechtsstaat kaum? Wie meinen Sie das?
Im Nachgang zu 9/11 wurde ein Gremium geschaffen, ein Nebenorgan des Uno-Sicherheitsrats und eigentlich eine Kopie davon, mit denselben fünfzehn Mitgliedern: das Counter-Terrorism Committee (CTC). Die Mitglieder haben sich nach 9/11 verpflichtet, ihre rechtsstaatlichen Bestrebungen zur Terrorismusbekämpfung zu verbessern und im CTC darüber Berichte vorzulegen.
Doch während die Berichte im UNO-Menschenrechtsrat von Staaten zwar häufig zu spät und unvollständig eingereicht werden, aber trotzdem aufzeigen, welche Staaten wie mit Menschenrechten umgehen, sind die Berichte dieses Gremiums geheim. Niemand hat Einblick. Das Komitee sichtet die Berichte, und dann verschwinden sie.
Wir wissen nicht, ob hier jemals ein Staat verurteilt wurde, weil er Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung missbraucht hatte gegen die Zivilbevölkerung, gegen Medien und Oppositionelle. Was wir wissen, und das ist ein interessanter Fakt: dass sich im Gegensatz zum dysfunktional wirkenden Uno-Sicherheitsrat die Mitglieder im CTC immer einig sind.
Und was heisst das?
Ich spreche von «Menschenrechten light». Staaten und Gremien, zum Teil sogar UNO-Gremien, haben manchmal die Vorstellung, dass man den Begriff Menschenrechte nur zu verwenden braucht und schon sind sie auf magische Art und Weise gegeben. Während es in der Realität keinen verpflichtenden Mechanismus gibt, der dafür sorgt, dass die Menschenrechte eingehalten werden. «Menschenrechte light» bedeutet, dass Menschenrechte deshalb eine Rolle spielen, weil man darüber spricht, aber nicht, weil man mit Transparenz oder konkreten Mechanismen dafür sorgt, dass ihre Einhaltung auch wirklich garantiert ist.
Die UNO ist Teil eines gravierenden Problems?
Nicht die UNO. Aber ihre Mitgliedstaaten: Sie haben über den Sicherheitsrat ein Gremium geschaffen – und damit das einzige Uno-Gremium, das regelmässig Anti-Terror-Massnahmen überprüft –, das jedoch geheim ist. Dabei geht das Problem tief. Wir haben vor zwei Jahren einen Bericht publiziert, der auf diese Normalisierung des Ausnahmezustands als Folge von 9/11 fokussiert.
Dafür gibt es unzählige Beispiele: Der Ausnahmezustand, den Präsident Erdoğan in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch ausgerufen hat, wurde schliesslich in einen rechtlichen Normalzustand überführt. Dazu ändert sich aber auch eine grundsätzliche staatliche Praxis: Notstandsgesetze werden zu regulären Gesetzen.
Erdoğan sprach noch von einem Ausnahmezustand, und auch Frankreich verabschiedete nach den Terroranschlägen in Paris Notstandsgesetze, deren Titel schon warnt, dass es sich um eine aussergewöhnliche Massnahme handelt, dass Rechte beschnitten werden, weil der Staat mit einer akuten Krise konfrontiert ist. Doch derartige Gesetze werden heute als normale Gesetze verabschiedet, ohne leuchtend angestrichen zu sein als Ausnahmegesetze, die den Staaten extreme Macht geben und die deshalb befristet sind.
Diese schädliche Praxis stellt global ein Problem dar. Und mit der Pandemie hat sich das Problem noch einmal verschärft, denn zahlreiche Staaten benutzen jetzt ihren Sicherheitsapparat und ihren Anti-Terror-Apparat, um Covid-19 in den Griff zu bekommen.
Können Sie das ausführen?
Es gab Staaten, die mussten wegen Covid-19 Sondergesetze erlassen, um die Krise in den Griff kriegen zu können. Irland beispielsweise. Oder Frankreich. Diese Notstandsgesetze zu erlassen, war nötig, um angesichts der massiven Gesundheitskrise die Bewegungsfreiheit der Menschen temporär so massiv einzuschränken. Oder die Meinungsfreiheit, die Privatsphäre, die Wirtschaftsfreiheit.
Andere Staaten wiederum konnten angesichts dieser Krise einfach auf bestehende Gesetze zurückgreifen, die man zur Terrorismusbekämpfung geschaffen hatte. Wir haben in Zusammenarbeit mit zwei NGOs einen Tracker aufgeschaltet, der die jeweiligen Einschränkungen in den einzelnen Ländern dokumentiert. Man kann dabei beobachten, dass es eine Reihe von Ländern gibt, die Covid-19 benutzten, um die Kapazitäten der eigenen Demokratie dauerhaft erheblich einzuschränken.
Ein Beispiel?
Ungarn. Mit Beginn der Pandemie hat Viktor Orbán eine Struktur der Exekutivmacht geschaffen. Alle Entscheidungen im Staat müssen über sein Büro laufen. Der Europarat hat deutlich kritisiert, dass eine solche Form mit den Grundsätzen einer Demokratie nicht vereinbar ist.
Nur wenn man Terrorismus mit den Mitteln des Rechtsstaats bekämpft, wird man die Gewalt beenden.
Die Strategie der UNO zur Bekämpfung von Terrorismus besteht aus vier zentralen Säulen. Eine davon: sicherzustellen, dass dabei die Menschenrechte aller respektiert werden und dass der Rechtsstaat die fundamentale Basis dieser Handlungen bildet. Können oder wollen sich Demokratien im Kampf gegen den Terrorismus Menschenrechte überhaupt noch leisten? Was antworten Sie Leuten, die sagen, wir können doch nicht Menschen, die uns im Strassencafé niedermähen, rechtliches Gehör zugestehen?
Ich bin in Nordirland aufgewachsen, wo wir jahrzehntelang mit einem bewaffneten Konflikt konfrontiert waren. Ich spreche als jemand, für den alltägliche Gewalt und Angst eine Lebensrealität waren und keine abstrakte Bedrohung. Aber ich sage Ihnen das klar und deutlich, und ich sage das allen, die behaupten, Menschenrechte stünden einer effizienten Terrorismusbekämpfung im Weg: Nur wenn man Terrorismus mit den Mitteln des Rechtsstaats bekämpft, wird man die Gewalt beenden.
Wenn Sie im Kampf gegen den Terrorismus das Gesetz brechen und die Menschenrechte missachten, dann begeben Sie sich in einen endlosen Kampf, den Sie nicht gewinnen können. Unzählige Studien und Auswertungen zeigen, wie schädlich staatliche Verstösse in dieser Auseinandersetzung sind. Sie alle zeigen, dass die nie endende Spirale der Gewalt, die zahlreichen, zum Teil schweren Konflikte mit bewaffneten Gruppen durch die Rechtsbrüche der involvierten Staaten nicht nur verlängert, sondern regelrecht befeuert wurden.
Heisst das, dass es gerade auch aus einer Sicherheitsperspektive fahrlässig ist, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu missachten?
Wir wissen heute ohne Zweifel, dass eines der grossen Probleme in der Terrorismusbekämpfung die Rechtsbrüche der Staaten sind, die in diesen Kampf verwickelt sind. Somit ist es in der Tat auch aus einer Sicherheitsperspektive extrem kurzsichtig, Verletzungen der Menschenrechte in Kauf zu nehmen oder sich daran zu beteiligen. Das Einzige, was diese Staaten damit tun, ist, mehr Öl ins Feuer zu giessen.
Fionnuala Ní Aoláin ist Anwältin und Rechtsprofessorin mit Schwerpunkt Menschenrechte. Sie lehrt derzeit in Minneapolis (USA) und im nordirischen Ulster. Sie publizierte mehrere Bücher, darunter «The Politics of Force», in dem sie die Morde staatlicher Agenten im Nordirlandkonflikt untersuchte.
2003 ernannte der UNO-Generalsekretär die in Nordirland aufgewachsene Ní Aoláin zur Sonderexpertin zur Frage der Geschlechtergleichheit in Konflikten und Friedensprozessen.
Später war sie Beraterin der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der Frauen sowie des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte bei der Studie über Wiedergutmachungen für konfliktbedingte sexuelle Gewalt.
2017 ernannte der UNO-Menschenrechtsrat Ní Aoláin zur Sonderberichterstatterin für den Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten bei der Terrorismusbekämpfung.
Sie sagen, wenn wir die Spirale der Gewalt durchbrechen wollen, dann muss sich der Staat an geltendes Recht halten. Das sagen Sie, während gleichzeitig mit Gina Haspel eine Frau CIA-Direktorin ist, von der wir heute wissen, dass sie in Thailand ein Geheimgefängnis geführt hat, in dem Menschen gefoltert wurden, und die damit bis heute kein moralisches Problem hatExterner Link. Was heisst das, wenn wir wissen, dass Folter einen nicht ins Gefängnis bringt, sondern im Gegenteil: dass sie im mächtigsten Land der Welt sogar der Karriere dienlich sein kann?
Als Akademikerin habe ich sehr deutlich und wiederholt betont, dass es mit einem Rechtsstaat nicht kompatibel ist, eine Person in ein solches Amt zu berufen, die Folterprogramme verantwortet hat. Und dass die Message an Regierungen in der ganzen Welt dabei nur eine ist: «Es ist Jagdsaison. Folter ist erlaubt. Es gibt keine Konsequenzen.»
Gleichzeitig stehe ich im Dialog mit vielen Staaten. Nicht wenige sind entsetzt darüber, dass man Menschen, die folterten, befördert, statt sie für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Es ist unsere Aufgabe, stetig daran zu erinnern, dass Gina Haspel Folterungen verantwortet hat. Und es ist unsere Aufgabe, uns bewusst zu sein, dass Recht und Gesetz einen langen Atem haben. In Guatemala oder Argentinien beispielsweise dauerte es zwanzig und dreissig Jahre, Folterer zur Rechenschaft zu ziehen. Aber dann ist es geschehen.
Und das bringt mich zurück zum fundamentalen Kern: Niemand steht über dem Gesetz. Auf keinen Fall werde ich die Möglichkeit ausschliessen, dass das Gesetz auch irgendwann in den USA Menschen zur Verantwortung zieht, bis in die höchsten verantwortlichen Ämter.
Und in der Zwischenzeit?
In der Zwischenzeit arbeiten wir mit jenen Staaten weiter, die an diese Werte glauben und sie fördern und die überzeugt davon sind, dass ihre Gesellschaften sicherer und geschützter sind, wenn die Menschenrechte geachtet werden. Ich arbeite im Rahmen meines Uno-Mandats sehr viel mit Geheimdiensten, mit Polizei, mit Militär, dem Sicherheitssektor. Viele von ihnen verstehen die kontraproduktive Natur von politischen Entscheiden, Menschenrechte zu missachten.
Und viele betrachten auch Sicherheit und Menschenrechte nicht als zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Häufig ist man sich einig: Sicherheit und die Achtung der Menschenrechte sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig.
Wir wollen keine hundertprozentige Sicherheit. Denn diese totale Sicherheit könnten wir nur bekommen, wenn wir alle unsere Rechte aufgäben.
Trotzdem: Fast jede Gesetzesverschärfung in diesem Bereich scheint von den Parlamenten befürwortet zu werden. Auch in der Schweiz. Als hätte sich in den Gesellschaften das Gefühl verinnerlicht, dass der Rechtsstaat Terrorismus nicht besiegen kann.
Und dieses Gefühl ist auch nicht neu, was es nicht richtiger macht. Aharon Barak, ehemaliger israelischer Generalstaatsanwalt und dann der höchste Richter des Landes, nannte es die grosse Herausforderung von Demokratien, mit einer Hand auf dem Rücken kämpfen zu müssen.
Demokratien, die sich dem Rechtsstaat verpflichteten, hätten das Gefühl, sie seien gegenüber jenen im Nachteil, die keine Regeln beachteten. Das, sagte Barak, ist letztlich der springende Punkt: Man kämpft nicht mit denselben Mitteln. Es gibt einen Unterschied. Und es ist wichtig, diesen Unterschied zu betonen als Gesellschaften, die Meinungsfreiheit wollen, Versammlungen wollen und Privatsphäre: Wir wollen keine hundertprozentige Sicherheit. Denn diese totale Sicherheit könnten wir nur bekommen, wenn wir alle unsere Rechte aufgäben.
Was heisst das für die aktuell von Corona geprägte Zeit?
Eine der zentralen Herausforderungen in diesem Corona-Moment, mit denen unsere Gesellschaften hadern, ist: die Balance zu finden zwischen den Restriktionen und dem Recht der Bürgerinnen, ein erfülltes, anständiges Leben zu führen. Das internationale Recht sieht das ja ausdrücklich vor: Es soll und muss Staaten erlaubt sein, angesichts einer extremen Ausnahmesituation während kurzer Zeit die Rechte der Bürger zu beschneiden. Der Punkt ist: Irgendwann muss das wieder enden.
Das Gesetz verändert die Definition von Terrorismus. Das ist extrem zentral und schwerwiegend.
Im Mai hat die UNO geplante Gesetzesverschärfungen in Sachen Terrorbekämpfung in der Schweiz erstmals scharf kritisiert. Jetzt, am Tag, an dem wir dieses Interview führen, haben Sie und die UNO die Schweizer Parlamentarierinnen erneut davor gewarnt, den geplanten Anti-Terror-Massnahmen zuzustimmen. Die Kritik ist scharf und eindeutig: «Der Entwurf für das Schweizer Anti-Terror-Gesetz bricht internationale Menschenrechtsstandards, indem er die Definition von Terrorismus ausdehnt, und könnte zu einem gefährlichen Präzedenzfall werden für die Unterdrückung von politischer Opposition weltweit.» Warum betrachtet die UNO-Sonderbeauftragte im Bereich Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung dieses Gesetz als derart problematisch?
Das Gesetz verändert die Definition von Terrorismus. Mit Blick auf Menschenrechte, Rechtsstaat und nicht zuletzt die Weltlage ist das extrem zentral und schwerwiegend. Es gibt andere Punkte, die extrem besorgniserregend sind, etwa, dass von diesem Gesetz auch Kinder betroffen sein sollen. Aber der Kernpunkt ist die neue Definition des Begriffs Terrorismus, die abweicht vom Konsens im internationalen Recht und fernab ist vom üblichen, unmissverständlichen Modell. Diese Definition von Terrorismus wird von autoritären Staaten benutzt, um die Opposition zu unterdrücken.
Was ist genau anders?
Terrorismus soll in der Schweiz nicht mehr gekoppelt sein an eine schwere Straftat. Neu ist die Rede von Gefährdern, von potenziellen Terroristen. Allein die Sprache des Textes sagt es schon: Es geht nicht mehr um eine terroristische Handlung, sondern um eine potenzielle Gefahr. Gefährder ist ein vager Begriff. Rechtlich ist das hochproblematisch, weil es Missbrauch Tür und Tor öffnet. Umso mehr, weil das Schweizer Gesetz zudem vorsieht, dass diese potenzielle Gefährdung nicht von einem Gericht beurteilt werden soll, sondern von der Bundespolizei.
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Terror-Prävention auf Kosten der Grundrechte?
Stellen Sie sich vor, was das in einem autoritären Staat bedeutet. Und das alles ist dann auch noch gekoppelt an administrative Massnahmen, die selbst Kinder treffen können. Massnahmen, die ihre Bewegungsfreiheit massiv einschränken können, obwohl sie keine Straftat begangen haben. Das ist, so bin ich überzeugt, eine Verletzung von Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und das wäre nur der eine Teil des Problems.
Und der andere Teil des Problems?
Die Schweiz ist eine Demokratie. Und nicht irgendeine Demokratie. Das vergessen Sie als Schweizer vielleicht manchmal. Die Schweiz war historisch einer der wichtigsten Staaten, wenn es darum ging, andere Staaten zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung ihre Macht missbraucht haben. Das Signal, das die Schweiz jetzt sendet, steht dem entgegen. Die Schweiz signalisiert anderen Staaten – und das dürfen Sie auf gar keinen Fall unterschätzen, den Umstand, dass dieses Signal aus der Schweiz kommt –, dass breite, vage, unpräzise und interpretierbare Definitionen von Terrorismus zulässig und statthaft sind.
Und das ist extrem gefährlich. Denn die Geschichte zeigt, dass dies den Boden legt für Autoritarismus. Es passiert immer wieder, dass Staaten Anti-Terror-Gesetze missbrauchen. Und wir sind zutiefst besorgt, dass die Schweiz – historisch zuvorderst, wenn es darum ging, präzise, eng gefasste, rechtlich adäquate Definitionen von Terrorismus zu verteidigen – ein fatales Signal in die Welt hinaussendet.
Die Schweiz gibt für Missbräuche indirekt grünes Licht, wenn sie Terrorismus derart vage interpretiert.
In welche Welt?
Denken Sie an Hongkong. China bezeichnet inzwischen jeden, der die Regierung in Hongkong kritisiert, als Terroristen beziehungsweise verfolgt ihn mit Anti-Terror-Massnahmen. Hier sagen wir klar: Eine solch vage Auslegung des Begriffs von Terrorismus ist nicht zulässig. In Saudiarabien wurden Anti-Terror-Gesetze dazu benutzt, Frauen einzusperren, die sich für das Recht eingesetzt haben, Auto fahren zu dürfen. In der Türkei werden unter dem Vorwurf des Terrorismus Anwälte weggesperrt, Professorinnen, Journalisten, Menschenrechtsaktivistinnen.
Das alles funktioniert, weil der Begriff des Terrorismus nicht mehr an schwere Gewalttaten gekoppelt ist und fast alles bedeuten kann. Die Schweiz gibt für derartige Missbräuche indirekt grünes Licht, wenn sie selbst nun Terrorismus derart vage interpretiert. In Ägypten wurde vor zwei Wochen der Menschenrechtsanwalt Bahey el-Din Hassan von einem Anti-Terror-Gericht zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, weil er die Regierung kritisiert hatte.
Was hatte er gesagt?
Er hat der Regierung vorgeworfen, die vagen Anti-Terror-Gesetze zu missbrauchen, um die Opposition auszuschalten.
Das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (PMT) fokussiert auf präventive Massnahmen gegen «terroristische Gefährder»: Personen, von denen eine mutmassliche Gefahr ausgeht, die sich aber noch nicht strafbar gemacht haben. Mit dem neuen Gesetz wird die Polizei gegen diese Personen Kontakt- und Ausreiseverbote aussprechen oder sogar einen Hausarrest anordnen können. Die Massnahmen können auch gegen Kinder angewandt werden: Hausarrest darf bereits 15-Jährigen auferlegt werden, alle anderen Massnahmen bereits 12-Jährigen.
Seit 9/11 wurden in der westlichen Welt die Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung fast ins Unermessliche ausgebaut, Gesetze massiv verschärft, ganze Kriege gegen Terrorismus geführt. Ist die Welt zwanzig Jahre später ein sicherer Ort?
Das ist eine grosse Frage: Haben uns all die Massnahmen, die seit 9/11 ergriffen wurden, freier gemacht, sicherer gemacht? Aus der Perspektive meines Mandats kann ich diese Frage nicht eindeutig mit Ja beantworten. Wir haben den Aufstieg erlebt von mächtigen, gewalttätigen nicht staatlichen Akteuren, die massivste Menschenrechtsverletzungen begangen haben: IS. Wir haben andere massive, systematische Verletzungen der Menschenrechte gesehen: Guantanamo Bay. Systematische illegale Auslieferungen, Verschleppungen, systematische Folter, Waterboarding.
Guantanamo existiert immer noch, ich war 2017 als Anwältin dort. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen ohne rechtliche Grundlage dort festgehalten werden und Folter und demütigender Behandlung ausgesetzt sind. Gleichzeitig sind unsere Sicherheitsapparate explodiert. Bürgerrechte wurden beschnitten. In dem Sinne: Nein. Es ist mir nämlich nicht klar, ob wir überhaupt noch vor Augen haben, dass das Ziel von Terrorismusbekämpfung wäre, Gewalt und Radikalisierung überhaupt zu verhindern. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob das überhaupt noch das Ziel ist.
Jelani Cobb, Professor für Journalismus an der Columbia University und Mitarbeiter des Magazins «New Yorker», hat zum Jahrestag der Terroranschläge auf New York getwittert: «Die Geschichte darüber, wie uns die Vorfälle am 11. September 2001 auf direktem Weg in das momentane Chaos geführt haben, würde ein gutes Buch ergeben.»
9/11 hat einen langen Schatten auf uns geworfen. 9/11 hat dazu geführt, dass die Uno eine neue Anti-Terror-Architektur geschaffen hat, die folgenschwer ist für die Integrität und die Balance der ganzen Behörde. Die überdimensionale Rolle, die Terrorismusbekämpfung seither in der Uno einnimmt, verbunden mit der mangelnden Integration der Rolle der Menschenrechte innerhalb der Behörde in diesem Bereich, ist ein globales Vermächtnis von 9/11.
Ein anderes Vermächtnis, auf nationaler Ebene, ist die massive Zunahme des Gebrauchs von Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung, auch in demokratischen Staaten. Und auch das Schweizer Gesetz, über das wir gesprochen haben, ist ein Vermächtnis von 9/11. Es ist das Ergebnis eines massiv gestiegenen Drucks auf nationale Parlamente, neue Gesetze zur Terrorismusbekämpfung zu erlassen, oftmals kurzsichtig und nicht effektiv.
Was hat 9/11 bei den Menschen ausgelöst?
9/11, aber auch die Bombenanschläge von London, die Anschläge von Madrid, der Horror von Paris, der Horror von Brüssel, hat die Menschen mit einer tiefen Angst erfüllt. Durch diese Angst haben viele Menschen den Glauben verloren, dass der Rechtsstaat die Möglichkeit hat, sie tatsächlich zu beschützen.
Und das ist womöglich die grösste Herausforderung der heutigen Zeit: dass wir mit einer Öffentlichkeit konfrontiert sind, die durch all den Schrecken, den wir erlebt haben, zur Überzeugung gelangt ist, dass die Angst, die wir empfinden, alle Mittel rechtfertigt. Und dass wir diese Öffentlichkeit wieder davon überzeugen müssen, dass der Schrei nach immer noch schärferen Gesetzen, die Militarisierung der Gesellschaft, uns nicht freier und nicht sicherer macht.
Was ist die Alternative?
Der einzige Weg für eine nachhaltige Sicherheit liegt im sehr altmodischen Rechtsstaat, in der Wahrung der Menschenrechte. Wir müssen herausfinden, wo die Gründe liegen für die Gewalt, die uns heimsucht. In Nordirland haben wir diese Lektion gelernt. Sie lernen müssen. Es war ein langer Weg. Aber am Ende war es nicht noch mehr Aufrüstung, militärische, gesetzliche, die uns von der Gewalt befreit hat, sondern ein Friedensabkommen, dem ein langwieriger Prozess zugrunde lag.
Die Gemeinschaften, die am meisten von der massiven Gewalt betroffen waren, sind dabei stark einbezogen worden. So hat man Schritt für Schritt erfasst und erkannt, was der Gewalt zugrunde lag, und dann hat man das adressiert – auf eine Art und Weise, die schliesslich, nach dreissig Jahren Terror, Wirkung zeigte.
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