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«Die Schadenbilanz bei einem UNO-Beitritt wäre enorm»

Haus und Plakat
Abstimmungsplakat am Dorfeingang von Wildhaus im Toggenburg, aufgenommen im Februar 2002, kurz vor der Abstimmung zum UNO-Beitritt. Keystone / Arno Balzarini

Die Schweiz zögerte lange, der UNO beizutreten. Als das Schweizer Stimmvolk dem Beitritt beistimmte, wurde eine 50-jährige Anomalie beendet. Doch das Land blieb gespalten.

«Wir werden in aller Schärfe in Erinnerung rufen, was Neutralität heisst», droht Christoph Blocher am 10. August 2001. Der Nationalrat und Chef-Stratege der Schweizer Volkspartei (SVP) wird von zwei führenden Persönlichkeiten seiner Partei flankiert: Parteichef Ueli Maurer, heute Bundesrat, und Christoph Mörgeli, damals Nationalrat.

Die rechtskonservative Partei hat in Bern eine Pressekonferenz einberufen, um sich vor der anstehenden Parlaments-Abstimmung gegen einen UNO-Beitritt der Schweiz zu positionieren.

«Die Aufgabe der Schweiz besteht nicht darin, es allen anderen Staaten gleich zu tun, sondern freiheitlicher, unabhängiger und demokratischer zu bleiben als die übrigen», sagt Mörgeli. Seiner Ansicht nach ist der Schweizer Sonderfall keine Anomalie, sondern eine Mission.

Das Ziel der SVP ist klar: Sie will die Frage der Neutralität und Unabhängigkeit in den Mittelpunkt der Debatte stellen. Sie will nicht nur die militärische Neutralität wahren, sondern auch vermeiden, dass die Schweiz von der UNO beschlossene Wirtschaftssanktionen übernehmen muss. Und dies, obwohl der Bund seit 1991 eigenständig UNO-Sanktionen anwendet.

Die SVP gegen alle anderen Parteien

Doch selbst ein konservativer Journalist wie Max Frenkel, ein bekannter Autor der Neuen Zürcher Zeitung, wendet sich gegen den Isolationismus der SVP: «Geradezu lieben müssen wir die Uno ja nicht. Aber wir sollten unsere eigenen nationalen Interessen achten und etwas mehr Vertrauen in unsere Fähigkeit haben, nicht nur eine einsame Blockflöte auf dem Finsteraarhorn zu blasen, sondern aus freiem Willen in einem Orchester einen tragenden Part zu übernehmen», schreibt er Anfang September 2001.

Die Positionen der SVP stösst auch bei den anderen bürgerlichen Parteien auf viel Unverständnis: «Wir würden uns aus der Gemeinschaft der Rechtsstaaten hinauskatapultieren», kommentiert Christine Beerli, Ständerätin der FDP.

Die Debatte im Nationalrat steht im Herbst 2001 unter dem Eindruck der Terroranschläge in den USA. «Es gibt keine Neutralität gegenüber Menschenrechtsverletzungen, sozialer Ungerechtigkeit und auch keine Neutralität gegenüber Terror, sondern nur Feigheit», stellt die sozialdemokratische Abgeordnete Anita Fetz fest.

Im Bundeshaus sieht sich die SVP isoliert. Die anderen grossen Fraktionen des Parlaments sprechen sich geschlossen für den Beitritt aus. Nach dem Ständerat stimmt auch der Nationalrat der Beitrittsinitiative zu.

Alleine und neutral

Doch die von Blocher geführte SVP weiss, dass sie auf eine lange Schweizer Tradition des Isolationismus und der Skepsis gegenüber den Vereinten Nationen zurückgreifen kann.

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Während die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg dem Völkerbund beigetreten war, nachdem ihre immerwährende Neutralität anerkannt wurde, sah die Situation 1945 anders aus. Unmittelbar nach dem Krieg war die Schweiz isoliert – sie wurde nicht einmal zur Gründungskonferenz der Vereinten Nationen eingeladen.

Im Oktober 1946 scheiterte ein Versuch des Schweizer Aussenministers Max Petitpierre, zu erreichen, dass die UNO-Versammlung die Schweizer Neutralität anerkannte. Man gab die Idee eines raschen UNO-Beitritts auf und Bern hielt an einer restriktiven Auslegung der Neutralität fest.

Dennoch gelang es der Schweiz, sich über Umwege einen Platz in der neuen Architektur der internationalen Beziehungen zu erobern: Dank der Gebäude des Völkerbundes wird Genf der zweite Sitz der UNO. Und seit 1947 ist die Schweiz Mitglied zahlreicher «technischer» UNO-Gremien geworden, darunter die UNESCO, die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen), der Internationale Gerichtshof in Den Haag und das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR).

Ein Schlagabtausch mit Folgen

Die Schweiz änderte ihre Haltung auch nicht, als das ebenfalls neutrale Österreich 1955 Mitglied der UNO wurde. Bis Mitte der 1960er Jahre stellte sich die Frage der Mitgliedschaft in der UNO nicht mehr. Ab den 1970er Jahren sprach sich der Bund wiederholt für einen Beitritt aus. Im Jahr 1984 genehmigte auch das Parlament das Ziel, ein Beitrittsgesuch zu stellen.

In der Schweizer Öffentlichkeit war die UNO jedoch nicht nur beliebt. Als die Regierung 1986 beschloss, den Beitrittsplan dem Volk zur Abstimmung vorzulegen, sprachen sich konservative Kreise unter der Führung von Nationalrat Christoph Blocher und dem ehemaligen Vorsteher des Schweizerischer Gewerbeverband, Otto Fischer, entschieden dagegen aus.

Sie warnten vor den Risiken für die Neutralität. Würde die Schweiz der UNO beitreten, drohe sie zu einem  «Spielball der Weltmächte» zu werden,  hiess es. Das Stimmvolk gab ihnen Recht: Am 16. März 1986 lehnten 75,7% der Stimmberechtigten und alle Kantone den Vorschlag der Regierung ab.

Die langsame Wiederbelebung des Projekts

Für die Regierung war es eine schwere Niederlage. Im Anschluss an die Abstimmung gründeten die triumphierenden Beitrittsgegner eine Organisation, die die schweizerische Aussenpolitik in den folgenden Jahren massgeblich beeinflussen sollte: die Arbeitsgemeinschaft für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns).

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1991: Das Europa-Dilemma der Schweizer Regierung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Neu veröffentlichte Dokumente zeigen, wie der gespaltene Bundesrat vor 30 Jahren über den Europäischen Wirtschaftsraum verhandelte.

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Einige Jahre lang verschwand das Thema von der politischen Agenda, obwohl die geopolitischen Veränderungen nach 1989 zu einer immer engeren Zusammenarbeit der Schweiz und der UNO führten.  Die Idee eines Beitritts wurde 1992 nach dem Beitritt der Schweiz zum Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder aufgegriffen, aber nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Dezember 1992 durch das Volk wieder auf Eis gelegt.

1998 bekräftigte der Bundesrat in einem Bericht das strategische Ziel eines Beitritts und iim gleichen Jahr wurde die Volksinitiative für einen Schweizer UNO-Beitritt lanciert.

«Ein Nein würde im Ausland kaum verstanden»

Nach dem Ja des Parlaments ging die Kampagne für die Abstimmung in ihre heisse Phase. Im Januar 2002 ging das Komitee gegen die Initiative an die Presse. Christoph Blocher und seine Mitstreiter:innen wiederholen die Argumente, die ihnen 1986 zum Sieg verhalfen.

Der Regierung wird vorgeworfen, sich von der Neutralität abzuwenden und die Souveränität des Landes aufs Spiel zu setzen. Das Schreckgespenst der horrender Kosten wird heraufbeschworen. «Die Uno-Finanzen sind ein Fass ohne Boden», schreibt SVP-Nationalrat Jean Henri Dunant in der Basler Zeitung. «Die Schadenbilanz bei einem UNO- Beitritt wäre enorm», resümierte Blocher.

In Anbetracht der vorangegangenen Niederlage bleibt der Bundesrat jedoch nicht untätig und setzt sich mit der Unterstützung von Wirtschafts- und Finanzkreisen, Gewerkschaften und der Kulturwelt für die Kampagne ein. Aussenminister Joseph Deiss stellte klar: «Ein Nein würde im Ausland kaum verstanden.»

Bundespräsident Kaspar Villiger weist in seiner Neujahrsansprache darauf hin, dass die Arbeit der UNO in den Bereichen Menschenrechte, friedliche Konfliktlösung, Bekämpfung des Hungers und der Umweltzerstörung im Interesse der Schweiz liege. Es sei an der Zeit, dass die Schweiz mit vollen Rechten den Vereinten Nationen beitrete und mitbestimme, die Stimme erhebe und Einfluss gewinne.

Bye bye Vatikan

Das Ergebnis der Wahlen vom 3. März 2002 zeigt jedoch, dass das Land noch immer gespalten ist. 54,6% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stimmten dem Beitritt zu, aber in fast der Hälfte der Kantone überwogen die Nein-Stimmen.

Dennoch stellt die Abstimmung einen Wendepunkt dar. Zu den ersten, die ihre Zufriedenheit mit dem Ergebnis zum Ausdruck brachten, gehörte UN-Generalsekretär Kofi Annan. Zwei Tage später titelt die französische Zeitung Le Monde in ihrem Leitartikel «Die grosse Schweiz». Die französische Zeitung ist kategorisch: Man erlebe hier  «die Ablehnung des egoistischen Isolationismus».

Am 10. September 2002 erhob sich die Schweizer Delegation in der UNO-Generalversammlung in New York unter der Leitung von Botschafter Jenö Staehelin von der Beobachterbank, verabschiedete sich von den Vertretern des Vatikans und begab sich unter dem Beifall der anderen Delegierten zu ihrem neuen Sitz in der Versammlung zwischen Schweden und Syrien.

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