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Ruhestörung: Der einen Freud ist der andern Lärm

Die Europa-Allee bei Nacht
In der Nacht legt sich Ruhe über die Europaallee beim Zürcher Hauptbahnhof. Aber auch tagsüber wirkt die Geräuschkulisse im Herzen der Schweizer Metropole vergleichsweise unaufdringlich - Dank einer ausgeklügelten Klanginstallation. Eyeem / Alamy Stock Photo

Siedlungen sollen nach innen verdichtet werden, schreibt das Schweizer Raumplanungsgesetz vor. Bevor Städterinnen und Dorfbewohner aber enger zusammenrücken, müssen sie sich über den Sound ihrer Umgebungen einigen.

Um 22 Uhr ein Schrei im Korridor, drei Stunden später kreischt vor dem Fenster eine aufgedrehte Stereoanlage, um Viertel vor fünf fährt schon die erste Tram – mitten in der Nacht, oder ist es schon Morgen? Für die einen ist noch Schlafenszeit, wenn für andere der Tag beginnt.

Je globaler wir operieren, desto öfter gibt es Kontakte über die Zeitzonen hinweg. Hier ist Tag und dort ist Nacht – die Vielfalt der Gesellschaft bildet sich auch im Tagesablauf ab. Schlaflose Menschen und Motoren beim Durchstarten: Es gibt viel Krach, der nicht allen Freude macht.

Der Ruf nach mehr Ruhe ist nichts Neues. Seit Jahrhunderten beklagten sich Leute über Musikant:innen, Fahrzeugmotoren, Kindergeschrei und Schiffshupen. Wer sich die Geräuschkulisse der Wilden Zwanziger des letzten Jahrhunderts anhört, mag staunen, wie laut Strassenpflaster und Strassenverkäuferinnen einst tönten:

Auf der Website «The Roaring TwentiesExterner Link” hat die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Emily Thompson vielerlei Szenerien mit Tonaufnahmen und Stadtplänen interaktiv ausgestaltet, die Recherche basiert auf ihrem legendären Buch «The Soundscape of Modernity». Gemeinsam mit einem Interaction-Designer zeigt sie: Wo Menschen sind, gibt es auch Lärm.

Ohne Tag und Nacht

Wie viel Lärm zumutbar ist, wird derzeit in breiten Kreisen diskutiert. Dies nicht nur, weil der Trend zur 24-Stunden-Gesellschaft alle Regionen der Welt erreicht hat. Es gibt auch immer mehr Verordnungen und Gesetze, die sich dem Ruheschutz widmen.

Gleichzeitig verschärft sich in der Schweiz das Problem, seit die Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG) von 2016 die Verdichtung bestehender Siedlungsräume fordert. Dies bedeutet auch, dass die Menschen in Stadt und Land näher zusammenrücken und sich auch besser hören werden – Störungen inklusive.

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Der Umweltpsychologe Rainer Guski schreibt, dass «vor allem die direkt vom Schall Betroffenen darüber entscheiden, ob ein Geräusch unerwünscht, d. h. Lärm ist oder nicht.» Deshalb sei Lärm weitgehend ein psychologischer Begriff. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet Partylärm: für die einen bedeutet er Ausgelassenheit und Freude, für die anderen ist er nur eine üble Störung. Solche Unterschiede nimmt das Gesetz allerdings kaum in Betracht, gemäss Lärmvorschrift sollen einzig die jeweiligen Grenzwerte nicht überschritten werden. Egal, ob das Singen oder Brummen vor dem Fenster stört oder nicht.

In Zukunft werden also vermehrt Menschen mit unterschiedlichen Lifestyles Nachbarschaften pflegen müssen. Die einen kommen eben erst nach Hause, wenn andere bereits den Tag beginnen. Wenn die Schlaflosen gerade wieder eingeschlafen sind, beenden andere vielleicht gerade lautstark eine Telekonferenz mit kalifornischen Kolleg:innen und stellen die Kaffeemaschine an.

Gegen akustische Störungen gibt es verschiedene Formen der Abhilfe: Beispielsweise haben Lärmbeschwerden seit der Einführung des Schweizer Umweltschutzgesetz (USG) von 1985 eine neue Grundlage erhalten. Seither gibt es in der Schweiz wirksame rechtliche Mittel, sich gegen störende und zuweilen gesundheitsschädigende Geräusche zu wehren.

Die Rufe nach mehr Ruhe könnten in Zukunft lauter werden, wenn die Häuser dichter zusammengebaut und die Tagesrhythmen immer unterschiedlicher werden. Zunehmend bedeutet nach innen zu verdichten zudem, an stark befahrenen Verkehrsachsen zu bauen. Dort stehen reihenweise Lärmschutzwände, sogar Fenster wurden zugemauert oder wurden gar nicht erst gebaut. Grosse Fenster zur (jenseits der Gleise oder Strassen vielleicht doch schönen) Aussicht waren nämlich gemäss der Lärmschutzverordnung nur noch mit Ausnahmeregelung möglich.

Die Politik in der Zwickmühle

Der Zielkonflikt zwischen Ruheschutz und Verdichtung ist offenkundig, spätestens nachdem das Bundesgericht 2016 mit einem wegweisenden Entscheid den immer häufiger gewordenen Ausnahmen den Riegel schob. Um die Ziele des Raumplanungsgesetzes trotzdem in Reichweite zu bringen, wurde der Bundesrat 2018 beauftragt, die gesetzlichen Grundlagen zu überprüfen.

Die Diskussionen bis in die parlamentarische Ebene in Gang gesetzt hatte eine Motion von GLP-Nationalrat Beat Flach, der sich in seiner Funktion als Jurist des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins einer qualitativ hochstehenden Architektur verpflichtet fühlt. Der Bundesrat berät sich nun, diesen Sommer könnte seine Botschaft ans Parlament gelangen.

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Flach wünscht sich ausser Rechtssicherheit vor allem, dass die Experimentierfreude der Planerinnen und Architekten wieder einen angemessenen Spielraum erhält. Doch diese wurde Ende 2021 noch einmal ausgebremst, als das Projekt der Swisscanto-Anlagestiftung im Zürcher Enge-Quartier mit 124 Wohnungen gestoppt wurde.

Der abschliessende Entscheid des Bundesgerichts berief sich darauf, dass die Lärmgrenzwerte nicht in allen Räumen eingehalten und die vorab beantragten Ausnahmen nicht genügend begründet seien. «Wenn das angepasste Umweltschutzgesetz dann hoffentlich 2023 in Kraft ist, könnten auch diese Wohnungen mit kleinen Anpassungen in einzelnen Bereichen bewilligt werden», glaubt Flach.

Thomas Gastberger, Leiter des Bereichs «Bauen im Lärm» der Fachstelle Lärmschutz des Kantons Zürich, sieht in den 124 Wohnungen ebenfalls ein Musterprojekt: Fast alle Wohnräume können lärmabgewandt gelüftet werden. Der strukturierte Gebäuderiegel wirkt nicht verschlossen, sondern richtet sich über grosse Fenster zur Strasse. «Es macht vor, wie an lärmbelasteten Zentrumslagen dennoch eine hohe Wohnqualität hergestellt werden kann», lobt Gastberger das in seinen Augen städtebaulich vorbildliche Projekt.

Der offensichtlichste und auch kostengünstigste Ausweg aus diesem Zielkonflikt wäre allerdings eine Reduktion des Lärms an der Quelle, wie Fachleute stets betonen. Gastberger sieht trotz umfassenden Massnahmen an den Lärmquellen keine Alternative zum gebäudeseitigen Schutz vor Immissionen. Also wird weiterhin eine intelligente Anordnung der Räume und Wohnungen die Ruhe garantieren müssen.

Gar nichts mehr bauen?

Die politische Diskussion um den Lärm nimmt zurzeit an Fahrt auf. Schliesslich betrifft die Lärmfrage längst nicht mehr nur die Umwelt- und Gesundheitsschützer, sondern auch die Stadtbildschützerinnen und Abrissgegnerinnen. In jüngerer Zeit erhalten letztere auch vermehrt die Unterstützung der Klimajugend, die den Versprechen klimaneutraler Bautechniken wenig Glauben schenkt.

Die Abrisskritik ist immer breiter abgestützt: Die einen sorgen sich um die Ökobilanz, die anderen um den Verlust an Geschichte. Und im Kampf gegen Neubauten ist nun auch der Lärm zum schlagenden Argument avanciert. Tatsächlich ist es so, dass manche Architektin und mancher Fachplaner ratlos an den befahrenen Strassen stehen, an denen sie neue Häuser entwerfen sollen.

Dass es nicht nur ums Isolieren der Innenräume geht, sondern auch ums Modulieren der Töne im Aussenraum, haben das Duo O+A, Bruce Odland und Sam Auinger an der Zürcher Europaallee vorgemacht. Ihre KlangwolkeExterner Link entschleunigt den Platz hinter dem Hauptbahnhof mit sphärischen Tönen, ohne ihn lauter zu machen.

Erreicht haben sie dies, indem sie keine zusätzlichen Töne erfinden, sondern die vorhandenen Geräusche so verändern, dass die meisten Passant:innen die Kompositionen kaum bewusst wahrnehmen. Die Atmosphäre aber ist eine ruhige, trotz aller Hektik und trotz dem vielen Verkehr.

Auch die Elektromobilität werde das Problem nicht lösen, so Gastberger, denn ab Geschwindigkeiten von ungefähr 25 Stundenkilometern sind die Abrollgeräusche lauter als Verbrennungsmotoren. Deshalb setzt die Fachstelle neben Temporeduktionen auch auf mehr lärmarme Beläge

«Ich sage nun absichtlich nicht ‘Flüsterbeläge’», betont der Lärmfachmann, «weil dies etwas suggerieren würde, was nicht so eintreten kann. Der Strassenverkehr wird nie so leise wie ein Flüstern sein.» Störende Musik mag seit der Einführung von Kopfhörern und Ohrsteckern mancherorts verschwunden sein, aber vieles, wie eben Fahrgetriebe und das Reiben von Reifen auf dem Asphalt, lassen sich nicht einfach wegstöpseln.

Erwünschter Lärm

Welche klanglichen Umgebungen wünschen wir uns? Etwa ein einsames Haus nicht in der schweizerischen Dichte, sondern in der Weite der kanadischen Landschaft? Der im letzten August gestorbene Komponist Murray R. Schafer hatte sich für seine zweite Lebenshälfte ein solches ausgesucht, sogar ohne Telefonanschluss, um jegliche Störung der Naturklänge zu vermeiden.

Als Musikpädagoge machte Schafer das Wort «Soundscape» in 1970er-Jahre weltweit bekannt, verwendet wurde es allerdings auch schon früher, beispielsweise vom Stadtplaner Michael F. Southworth in seiner MasterthesisExterner Link am Massachusetts Institute of Technology im Jahr 1967. Der Basler Geograf Justin Winkler hat die Idee der KlanglandlandschaftExterner Link aus dem angelsächsischen Raum in die Schweiz geholt und die Grundlagen für die Arbeit der zeitgenössischen Klanglandschaftsforscher:innen, wie Cercle Bruit oder urbanidentity, geleistet.

Bei allem Bestreben um weniger Lärm lohnt es sich allerdings, daran zu erinnern, dass Lärm auch positive Bedeutungen hat. Rainer Guski führt dazu aus, wie das für die einen nicht hörbare Rauschen der Heizung für andere Lärm sein kann. Das Donnern von Produktionsmaschinen in einer Fabrikhalle wiederum kann genauso als Zeichen des Fortschritts wie als gesundheitsschädigend eingestuft werden. Die zeitgenössische Lärmwirkungsforschung klassifiziert deshalb nicht nur störende Geräusche als Lärm, sondern auch solche, die erwünscht sind.

Sabine von Fischer ist Freie Journalistin, Architektin und Autorin, zuletzt von «Das akustische Argument.» 2019-2022 war sie Redaktorin für Architektur und Design beim NZZ-Feuilleton, ab August 2022 steht sie in dieser Funktion im Dienst von espaziumExterner Link, Verlag für Baukultur.


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