Das Schweizer Demokratie-Tool für Tibet
Wie Schweiz-Tibeter und Tibeterinnen mit dem Wahlhilfe-Tool Smartvote die tibetischen Exilwahlen belebt.
Palmo Brunner hat sich gut ein Jahr lang ehrenamtlich für die tibetischen Exil-Wahlen in diesem Frühjahr engagiert. «Diese Präsidentschafts- und Parlamentswahlen waren sehr wichtig. Denn es ist erst die dritte Wahl, seit Seine Heiligkeit der Dalai Lama 2011 im Zuge der Demokratisierung seine politische Verantwortung an eine gewählte Führung abgegeben hat», erläutert die 33-jährige Schweiz-Tibeterin.
Das politische Engagement Brunners gilt nicht einer Partei oder einer Kandidatin, sondern der Meinungsbildung an sich: Die Politologin hat gemeinsam mit einem Team aus der Schweiz, Nordamerika und Indien den Verein Project DemocracyExterner Link gegründet und mit diesem eine Schweizer Erfindung adaptiert: Smartvote. Durch das Wahlhilfe-Tool Made in Switzerland konnte die tibetische Diaspora überall auf der Welt herausfinden, mit welchen Kandidierenden sie die grösste politische Übereinstimmung haben.
Demokratie einer Minderheit
Bereits vor seiner Flucht vor der chinesischen Besatzung 1959 entwickelte der Dalai Lama seine Idee eines demokratischen Tibets. Die erste Wahl für das damals 13-köpfige Parlament fand 1960 bereits im indischen Exil, in Dharamsala, statt. Bis heute leben um die 3,5 Millionen Tibeter und Tibeterinnen in der nominell autonomen Provinz Tibet in China.
Am demokratischen Prozess teilhaben können aber nur die 150 000 Exil-Tibeter und -Tibeterinnen rund um den Globus. Gut 80’000 von ihnen sind registriert für die Wahl der Central Tibetan Administration, wie die Exilregierung formell heisst.
Das künftige tibetische Parlament hat 45 Mitglieder. Zwei Drittel davon haben die Wähler und Wählerinnen in Indien, Nepal und Bhutan entsprechend ihrer Herkunftsprovinz in Tibet gewählt. Eine einzige Person vertritt Australien und das übrige Asien, je zwei bestimmte die tibetische Diaspora in Nordamerika und Europa.
Zehn Sitze sind den verschiedenen Klosterschulen vorbehalten. In der tibetischen Exilpolitik gibt es kein Parteiensystem; die politischen Lager verlaufen oft entlang der einstigen Herkunftsprovinzen. «Es gibt keine klassischen Parteien, dafür viele Kandidierende», sagt Brunner. Darum nahmen es sich die Initianten von Smartvote Tibet zum Ziel, eine Informationsbasis für die Meinungsbildung zu schaffen.
So richtig startete «Project Democracy» die Arbeit an smartvote Tibet im Frühling 2020, erzählt Brunner. Etwa die Hälfte der Energie sei in die Ausarbeitung des Fragebogens geflossen. Da die Politik so stark regionalistisch geprägt ist, sei es nicht einfach gewesen, Fragen so zu bündeln, dass Unterschiede zwischen den Kandidierenden deutlich wurden.
«Wir hatten einen sehr partizipativen Ansatz, bei dem öffentlich aufgerufen wurde, Fragen einzureichen und in Workshops zu erarbeiten.» Die Pandemie machte das schwieriger. Als der Fragebogen schliesslich stand, war die Mobilisierung nochmals ähnlich aufwändig: die Plattform unter den Kandidierenden bekannt machen, beim Ausfüllen unterstützen und das Angebot unter den Stimmberechtigten zu streuen.
«In unserem Verein sind die meisten jung und gesellschaftsliberal», sagt Brunner. «Wir wollten aber nicht unsere Sicht dominant machen, im Gegenteil.» Zwischen den Generationen gebe es grosse Unterschiede; vor allem Ältere würden am «alten Tibet festhalten». «Damit unsere eigene Perspektive möglichst ausgeglichen wird, haben wir einen Beirat einberufen, in welchem auch Ältere und Konservative einsitzen», sagt Brunner.
Neutrale Information war schon der Hauptanspruch, als vor 20 Jahren vier Studierende mit der Entwicklung von Smartvote für den Schweizer Politikbetrieb begannen. Heute sind die Smartvote-Fragen aus der Schweizer Politlandschaft nicht mehr wegzudenken, ob lokal oder national.
Während die Fragen bei Wahlen in der Schweiz auf Sachgeschäfte zielen – so wird etwa beim Smartvote für die Gemeinderatswahlen in der Jurasüdfussstadt Grenchen die Frage gestellt «Befürworten Sie den Bau eines Bootshafens?» -, stellt Smartvote Tibet grundsätzlichere Fragen.
Als allererstes, wer überhaupt gemeint ist: «Stimmen Sie zu, dass Tibetisch sprechen muss, wer sich als Tibetisch bezeichnet?» Diese Frage stellt sich in einer globalen Diaspora; innerhalb eines Staats wäre sie eher polemisch und nationalistisch. Ein Grossteil der 37 Fragen befasst sich damit, wie das politische System ausgestaltet werden soll. Daneben gibt es auch konkrete Sachfragen, etwa ob die Exilregierung eine öffentliche Krankenversicherung für die Tibeterinnen und Tibeter in Südasien aufbauen soll.
Wirkungsmächtiges Instrument
Im Smartvote-Heimatland Schweiz nutzte bereits bei den nationalen Parlamentswahlen 2007 mehr als jede zehnteExterner Link Stimmberechtigte die online-Plattform, heute sei es jede fünfte. In der Schweiz gehören die dazugehörigen Smartspider-Diagramme (die so heissen, weil sie wie ein Spinnennetz aussehen) mittlerweile zu jedem Wahlkampf.
Sie werden in Zeitungen neben Porträts von Kandidierenden gedruckt. Obwohl die Kritik an Smartvote fast so alt wie die Wahlempfehlung selbst ist, ist den meisten bewusst, dass die Plattform politische Diskussionen nicht ersetzt. Trotzdem soll gemäss einer Befragung des Trägervereins ´PolitoolsExterner Link’ 2015 jeder siebte Smartvote-Nutzenden die Wahlempfehlung 1:1Externer Link übernommen haben. Fast neun von zehn gaben da an, dass Smartvote ihren Wahlentscheid beeinflusste habe.
In der Schweiz ist die Plattform also wirkungsmächtig. Doch Smartvote ist weder institutionalisiert noch dauerhaft finanziert. Michael Erne von Politools sagt: «Wir müssen für jedes Projekt neu finanzielle Mittel suchen.» Bereits in den Nullerjahren kamen Smartvote-Varianten in Bulgarien in und LuxemburgExterner Link zum Einsatz. Vor drei Jahren hat Politools dann eine international adaptierbare Version entwickelt. «Seither suchen wir auch proaktiv nach Partnern im Ausland», so Erne.
Smartvote profitiere vom guten Ruf der «gefestigten demokratischen Prozesse» in der Schweiz. «Das grösste Hindernis solcher Kooperationen sind die fehlenden Mittel.» Jede lokale Anpassung, samt Beratung, koste rund 25’000 bis 50’000 Franken. Dass Politools «politische Neutralität und eine von den Parteien unabhängige Finanzierung» verlange, macht die Geldsuche kaum leichter.
«Die Partner dürfen bei den Wahlen keine eigene politische Agenda haben.» Man kooperiere mit Universitäten oder eben mit zivilgesellschaftlichen Vereinen wie Project Democracy, die smartvote Tibet dank Stiftungsbeiträgen durchführen konnten.
Brunner hat durch smartvote:Tibet bemerkt, wie sehr sie persönlich vom Schweizer Konzept von Demokratie geprägt ist. «Im Kontrast zu Tibetern, die in den USA leben, die von der amerikanischen Vorstellung von Demokratie geprägt sind.» Die tibetische Exil-Verfassung wiederum orientiere sich stark an jener Indiens, wo noch immer die meisten Exil-Tibeter leben. Die indische Verfassung sei wiederum stark an die britische angelehnt. «Diese transnationalen Wechselwirkungen würde ich gerne einmal erforschen», sagt die Politologin.
Höhere Beteiligung
Mitte Mai gab die tibetische Wahlbehörde die SchlussresultateExterner Link der diesjährigen Wahlen bekannt. Über 11’000 Tibeter*innen nutzten das Angebot von Smartvote Tibet – eine markante Zahl. 63’991 Tibeterinnen und Tibeter haben in der Stichwahl ihre Stimme abgegeben, gut 4500 mehr als bei der Wahl vor fünf Jahren. Die hohe Beteiligung überrascht angesichts der Pandemie, denn eine briefliche Stimmabgabe gibt es nicht. Die Exil-Tibeter und -Tibeterinnen müssen persönlich an die Urne.
«Was ich vor allem mitnehme ist, dass wir in Indien und Nepal präsenter werden müssen. In Europa und Nordamerika waren wir aber sehr stark», bilanziert Brunner. Das Projekt soll weitergehen.
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