«Wir sind hier, um den Puls zu fühlen»
Ob auf Patrouille in Mostar oder in umliegenden Dörfern, bei Gesprächen mit der Bevölkerung und Verantwortlichen aus Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft: Das 8-köpfige EUFOR-Beobachtungsteam der Schweizer Armee ist ständig auf Achse, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen, die zwar relativ ruhig, aber nicht unbedingt stabil ist.
Punkt acht beginnt das Morgenmeeting. «Ein Mann, der ein verschollenes Original des Dayton-Friedensvertrags für umgerechnet 50’000 Euro verscherbeln wollte, wurde verhaftet, und der Prozess gegen den früheren bosnisch-serbischen Armeechef Ratko Mladić am UNO-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag wurde einmal mehr verschoben.» Dies zwei der News aus den Tageszeitungen, die eine bosnische Übersetzerin zusammenfasst. Sie arbeitet für die Mitglieder des Schweizer Liaison and Observation Teams (LOT).
Wir befinden uns im Aufenthaltsraum des Schweizer LOT-Hauses in der herzegowinischen Stadt Mostar. Die Soldaten des 27. Schweizer Kontingents sind hier stationiert, weil die Region zu den potentiellen Konfliktherden gehört. In Mostar war es im Bosnienkrieg (1992-1995) zu Kämpfen zwischen kroatisch-bosniakischen und serbischen Einheiten und später auch zwischen Kroaten und Bosniaken gekommen. Seither ist die Stadt praktisch zweigeteilt.
Nach einem Rückblick auf den Vortag und einem Ausblick auf die heutige Aufgabenverteilung und die geplanten Treffen erinnert Hauskommandant Claudio Wiederkehr seine Leute, allfällige «Päckli» für Angehörige bereitzustellen, da der nächste Flug in die Schweiz bevorstehe.
Die sechs Männer und zwei Frauen wohnen in sechs Zimmern, haben 6-Tage-Dienst, kochen und waschen selber. Morgens kommt jeweils eine Putzfrau für Küche und Bad. Während des sechsmonatigen Einsatzes haben die Soldaten 20 Tage Ferien. Die Uniform dürfen sie in ihrer Freizeit ablegen.
Den Puls fühlen
Die LOTs sind das Frühwarnsystem der EUFOR, wie uns Carlo Kaufmann, Stabsoffizier und höchster Schweizer Armee-Repräsentant in Bosnien-Herzegowina am Vortag im EUFOR-Hauptquartier, im Camp Butmir bei Sarajevo, erklärt hatte. «Wir markieren Präsenz, bauen Beziehungen auf, beobachten die Lage und beschaffen Informationen.»
Um die Lage einschätzen zu können, suchen die Schweizer das Gespräch mit Leuten aller Gesellschaftsschichten: mit Politikern, religiösen Führern, Schulleitern, Spitaldirektoren, NGO, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und vielen mehr. «Wir wollen dokumentieren, was in unserem Verantwortungsbereich läuft. Wir tragen kleine Mosaiksteinchen zusammen. Sehr aktiv sind wir in der Stadt Mostar, gehen aber auch ins abgelegenste Dorf», sagt Wiederkehr. Die meisten seien der Mission gegenüber positiv eingestellt. «Vielleicht einer von zehn ist misstrauisch und fragt, ‹was wollt ihr eigentlich von mir?'»
Laut dem Hauskommandanten ist es im Raum Mostar, wo 49% Kroaten, 44% Bosniaken und wenige Serben leben, zurzeit ruhig. «Kroaten und Bosniaken leben getrennt, lassen sich in Frieden.» Bei einer Umfrage der EUFOR in Bosnien-Herzegowina unter 2000 bis 3000 Personen sagten allerdings 80%, die Lage habe sich verschlechtert und sei nicht stabil. «Das ist auch der Grund, weshalb die EUFOR noch da ist.»
Ein Thema, das viel Zündstoff birgt, sind die Autonomiebestrebungen der Kroaten. Und immer wieder kommt es zu Hakenkreuz-Sprayereien oder zum Hitlergruss rechtsorientierter nationalistischer Kreise während Fussballspielen im Stadion. Die Kroaten ihrerseits werfen den Bosniaken vor, in den extremen Islam abzudriften. Und die bosnisch-muslimische Seite empört sich ob dem 33 Meter hohen Kreuz auf dem Berg Hum über der Stadt Mostar, das sie als Provokation empfinden.
Kinder und Jugendliche werden in Mostar in getrennten Schulklassen unterrichtet. Das Problem seien nicht etwa die Lehrer, sondern die Eltern, die nicht wollten, dass ihre Kinder mit der anderen Ethnie die Schule besuchten. «Sie haben andere Lehrer und lernen wohl auch eine andere Geschichte», sagt Soldat Yves Dätwyler.
Einmal die Woche stellt ein Teammitglied ein Thema vor. Heute referiert Carmen Müller zehn Minuten lang über Islamismus und Radikalisierung in Bosnien-Herzegowina. Rund 280 Kämpfer aus Bosnien-Herzegowina sollen in den Dschihad gezogen sein. Sie erwähnt Gornja Maoca, das im Nordosten Bosniens liegt und als Salafistendorf bekannt ist. Bosnische Sicherheitsbehörden vermuten, dass hier Dschihadisten rekrutiert werden.
Auf Patrouille
Nach dem Meeting ist es Zeit, aufzubrechen. Wir fahren im Militärjeep, Müller und Dätwyler sind im Tarnanzug mit Beret als EUFOR-Angehörige klar erkennbar. Die beiden sind unbewaffnet, aber im Schusswaffengebrauch geschult. Waffen und Munition sind im Schweizer LOT-Haus eingeschlossen und nur zum Selbstschutz gedacht, wie Wiederkehr betont.
«Für den Fall, dass sich die Lage zuspitzen würde und wir das Haus evakuieren müssten, oder ein geordneter Rückzug bevorstünde. Sollte in der Stadt geschossen werden, müssten wir Schutzwesten und Helm anziehen und die Waffe mitnehmen. Das war aber noch nie der Fall.»
Kritische Vorfälle gab es allerdings schon, etwa 2014, als das Regierungsgebäude angezündet wurde und die Wahlen abgebrochen werden mussten. 2018 stehen erneut Wahlen an. Kaum jemand, mit dem wir gesprochen haben, glaubt daran, dass sie dieses Mal durchgeführt werden.
Begegnung als winziges Mosaik-Steinchen
Auf der Patrouille im Raum Mostar treffen wir zufällig einen deutschen Velofahrer, der für eine christliche NGO im Einsatz ist, die in der islamischen Welt die «Liebe zu Jesu» verbreiten will. Soldat Dätwyler notiert und wird diese Begegnung in seinen Tages-Rapport aufnehmen.
Es folgt ein kurzes Mittagessen in einem kleinen, traditionellen Restaurant in der malerischen Altstadt Mostar mit der berühmten Brücke, die zusammen zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Bei Patrouillen essen die Schweizer Militärs jeweils auswärts, einerseits um Präsenz zu markieren, aber auch um die lokale Wirtschaft zu unterstützen.
Am Nachmittag geht’s aufs Arbeitsamt des Kantons Herzegowina-Neretva. Es ist bereits das siebte Treffen mit Direktor Vlado Čuljak. Man begrüsst sich, tauscht Höflichkeiten aus, es wird Kaffee serviert, Soldat Dätwyler und Soldatin Carmen Müller führen das Gespräch, Zijada, die während des Krieges in Deutschland gelebt hat und als Übersetzerin für das Schweizer LOT tätig ist, übersetzt auf Deutsch.
Stolz erzählt Čuljak, die Arbeitslosigkeit sei um 4-5% gesunken. Erfreulich sei zudem, dass die Fluggesellschaft Eurowings ab nächstem Sommer Mostar anfliegen werde. «Es wäre schön, wenn auch die Schweiz eine direkte Verbindung hätte.» Dann erzählt er frustriert von einem in der Schweiz ansässigen Bosnier, der in Belgrad investiert habe. «Wieso dort und nicht hier? Wir haben billige Arbeitskräfte, und die Lage ist weitgehend stabil.» Allerdings nennt er dann auch die politische Stagnation. «Seit acht Jahren hatten wir keine Wahlen. Wir haben keinen Stadtrat und somit niemanden, der Baubewilligungen ausstellt. Das ist ein Problem.»
Nach den ernsten Themen gibt es noch eine Runde Smalltalk: Direktor Čuljak erzählt begeistert von seinem Besuch am Münchner Oktoberfest, von der Jagd, seiner Jagdhütte und seinem Hund. Nach einer guten Stunde verabschieden wir uns. Die beiden jungen Schweizer Soldaten werden die Informationen und Beobachtungen, die sie an diesem Tag gesammelt haben, im Rapport vermerken. Der Bericht wird an die EUFOR gehen, als winziges Mosaik-Steinchen eines Gesamtbilds über die Lage und Stimmung im zerrissenen Vielvölkerstaat Bosnien und Herzegowina.
Die Schweiz ist eines von 19 Ländern, dass sich an der Mission Althea der EUFOR (European Union Force) in Bosnien und Herzegowina (BiH) beteiligt – mit 20 Armee-Angehörigen. Sie stellt zwei Liaison and Observation Teams (LOT), bestehend aus je acht Armeeangehörigen in Mostar und Trebinje, drei Stabsoffiziere und ein Unteroffizier sind im Hauptquartier der EUFOR und im LOT Coordination Center im Camp Butmir in Sarajevo stationiert. Insgesamt gibt es an potentiellen Konfliktherden in BiH 17 LOT-Häuser. Die LOTs sind das Frühwarnsystem der EUFOR und arbeiten eng mit der lokalen Bevölkerung und den Behörden zusammen.
Die EUFOR startete 2004 mit einer Truppenpräsenz von 7000 Personen, heute sind es noch 600, Österreich und die Türkei stellen am meisten Truppen zur Verfügung. Die EUFOR löste die NATO-geführte SFOR (Stabilisation Force) ab. Die SFOR ging aus der IFOR (Implementation Force) hervor, die nach dem Dayton-Abkommen mit 60’000 Mann in Bosnien und Herzegowina den Frieden durchgesetzt hatte. Das Kommando lag bei der NATO, das Mandat kam von der UNO.
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