«Heidi» – der erfolgreichste Schweizer Film. Wirklich?
Mit einer Million Zuschauer in der Schweiz und weiteren 2,4 Millionen weltweit wird das Remake von "Heidi" von Alain Gsponer als grösster Erfolg des Schweizer Filmschaffens gefeiert. Die erfolgreiche Marketingstrategie ist schwierig zu durchschauen, weil Zahlen und Statistiken fehlen. Und was ist überhaupt ein Schweizer Film?
In einem Land, in dem das Filmschaffen zu einem grossen Teil vom Staat subventioniert wird, sollte man davon ausgehen können, dass es detaillierte Statistiken gibt, die den Erfolg an der Kasse, die Präsenz an Festivals und die erhaltenen Preise belegen können. Doch die Realität sieht anders aus.
Die wenigen Zahlen, die zur Verfügung stehen, betreffen hauptsächlich den einheimischen Markt. Was den internationalen Erfolg betrifft, konnte uns nicht einmal Swiss Films – die Promotionsagentur des Schweizer Filmschaffens – ausreichende Daten liefern. Es ist also gar nicht möglich zu bestätigen, dass Heidi der meist gesehene Film aller Zeiten ist, obwohl die über 2,4 Millionen Zuschauer ohne Zweifel eine eindrückliche Zahl ist.
Doch gehen wir der Reihe nach: Auf nationaler Ebene ist die verlässlichste Quelle das Bundesamt für Statistik (BFS), das eine Klassierung der erfolgreichsten 500 Schweizer Filme Externer Linkvon 1976 bis heute aufgelistet hat.
Das Verdikt ist klar: Die Komödie «Die Schweizermacher» (1978) bleibt mit fast einer Million Zuschauer der populärste Film der letzten 40 Jahre. Es ist eine Ironie des Schicksals, denn die Behörden von damals haben es abgelehnt, den Film zu unterstützen, der mit Humor die verschlungenen Wege der Einbürgerung aufzeigt und die Bedeutung der nationalen Identität hinterfragt.
Frédéric Maire, Direktor der Cinémathèque suisse, ist nicht erstaunt über den Erfolg dieses Films. «Das Thema Ausländer und Nationalität stand in diesen Jahren durch die Schwarzenbach-Initiative im Zentrum der politischen Aktualität. Und Emil Steinberger war ein Star. Er ist einer der wenigen Deutschschweizer Schauspieler, der die Sprachgrenzen überschritten hat.»
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Der zeitlose Kassenschlager
Und das Remake von «Heidi»? Mit über 500’000 Eintritten wäre der neue Film von Alain Gsponer an fünfter Stelle. Wäre – denn die Bestimmung der Nationalität eines Films ist nicht einfach. Das BSF berücksichtigt nur zu 100% schweizerisch finanzierte Produktionen und Koproduktionen, in denen mehrheitlich Schweizer Geld steckt. Dieses Kriterium wird europaweit angewendet. Obwohl «Heidi» von einem Schweizer Regisseur realisiert wurde, gilt der Film als eine mehrheitlich deutsche Koproduktion. Eine Klassierung in der Liste widerspräche also den Tatsachen.
Das Bundesamt für Kultur verwendet jedoch weniger strenge Parameter und betrachtet «Heidi» als Schweizer Film. Er erhielt Bundesgelder und ist in drei Kategorien für den Schweizer Filmpreis nominiert.
Das Fehlen eines «Schweizer Filmschaffens»
Die Zahlen des BFS beleuchten, wenn auch nur partiell, einige Charakteristika des Schweizer Filmschaffens, allen voran die sprachlichen und kulturellen Unterschiede.
Um in der Schweiz Erfolg zu haben, muss ein Film in erster Linie das zahlenmässig grösste Publikum überzeugen, nämlich das deutschsprachige. Doch Schweizer Filme, welche die Sprachgrenzen überwinden, sind rar. Es ist nicht erstaunlich, dass nur zwei Regisseure aus der Romandie in den Top 25 auftauchen: Yves Yersin und Claude Goretta, beides Vertreter des «neuen Schweizer Films», der in den 1970er-Jahren nicht nur in Europa Anerkennung fand.
«Damals war das Deutschschweizer Publikum viel stärker am französischsprachigen Autorenkino interessiert, dieses weckte die Neugier und galt als innovativ», erklärt Frédéric Maire.
Erwähnenswert ist noch ein anderer Kultfilm der Schweizer «Nouvelle Vague»: «Jonas, qui aura 20 ans en 2000». Er verzeichnete in der Schweiz bloss 140’000 Eintritte (Rang 27), jedoch über zwei Millionen in Europa und den USA. Bevor «Heidi» entstand, galt der Film von Alain Tanner – nicht ganz nachvollziehbar – als grösster Schweizer Erfolg.
Noch heute gilt das Filmschaffen aus der Romandie, mit Regisseuren wie Stéphane Bron und Ursula Meier, als Autorenkino, zumindest was die Spielfilme betrifft. Doch trotz internationalem Echo hat diese neue Generation Mühe, das deutschsprachige Publikum zu erobern, weil sie sich auch gegen eine internationale Konkurrenz durchsetzen muss, die vor vierzig Jahren noch viel weniger stark war.
Europäischer Erfolg
Die Datenbank der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle, welche die Filme in den verschiedenen Ländern erfasst, gibt Auskunft über den Erfolg von Schweizer Filmen auf dem Kontinent. Die Daten gibt es jedoch erst seit 1996.
Wenn man die registrierten Eintritte in der Schweiz ausschliesst, steht der 2014 realisierte Fantasy-Film «Northmen – A Viking Saga» von Claudio Fäh an erster Stelle mit 500’000 Eintritten, davon allein 300’000 in Russland und 100’000 in Italien.
In Frankreich hingegen erreichte der Animationsfilm «Max & Co» (2007) der Gebrüder Guillaume den grössten Erfolg mit fast 162’000 Zuschauern. In der Schweiz wurde er von knapp 31’000 Personen gesehen. In Deutschland war der Film «Die Herbstzeitlosen» (2006, Bettina Oberli) der erfolgreichste mit mehr als 288’000 Zuschauern.
Das Gleiche gilt auch in umgekehrtem Sinn. Die grossen Erfolge des Deutschschweizer Kinos, «Achtung, fertig, Charlie!» (2003) oder «Mein Name ist Eugen» (2005), interessieren das Publikum in der Romandie und im Tessin wenig. Das hat auch kulturelle Gründe: «Wir lachen nicht über die selben Sachen», beteuert Frédéric Maire. «Zudem kann das Deutschschweizer Publikum auf eine gewisse Zahl von eigenen Stars zählen, die in den anderen Regionen des Landes vollkommen unbekannt sind.»
Die grossen Erfolge der 40er- und 50er-Jahre
Auch wenn die Statistiken des BFS die letzten 40 Jahre abdecken, gehen die Ursprünge des Schweizer Films sicher nicht auf das Jahr 1976 zurück! Beim Versuch, einen vollständigeren Überblick zu erhalten, haben wir die Bücher des Historikers Hervé Dumont* durchforstet, dem ehemaligen Direktor der Cinémathèque suisse. Welch eine Überraschung: Einige Filme, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg herauskamen, waren noch erfolgreicher als «Die Schweizermacher», sowohl in der Heimat wie auch im Ausland.
Darunter figuriert «Marie-Louise» (1944) mit mehr als einer Million Zuschauern in der Schweiz. In dieser Zeit war die Schweizer Kultur geprägt von der «geistigen Landesverteidigung», einem Versuch, die «Schweizer» Werte gegenüber der Bedrohung des Totalitarismus aufrecht zu erhalten.
Der Film von Leopold Lindtberg passte zu diesem Zeitgeist. Er erzählt die Geschichte eines französischen Flüchtlingsmädchens und zeichnet ein idyllisches Bild der Schweiz. Bejubelt von der New Yorker Intellektuellenszene war «Marie-Louise» der erste europäische Film, der nach Kriegsende auf den amerikanischen Leinwänden gezeigt wurde, und er war auch der erste ausländische Film, der einen Oscar für das beste Drehbuch erhielt.
Ein Jahr später drehte Lindtberg «Die letzte Chance», ein Film über jüdische Flüchtlinge an der Schweizer Grenze, der zu einem weiteren grossen Erfolg des Schweizer Filmschaffens avancierte. Der Film erlebte seine Uraufführung 18 Tage nach der deutschen Kapitulation und war sofort ein weltweiter Erfolg. In der Schweiz sahen ihn mehr als eine Million Zuschauer, und er figurierte in den «Top Ten» von 1946 der New York Times.
Ein anderer Regisseur aus dieser Zeit, Franz Schnyder, lockte mit seinem Bauerndrama «Uli der Knecht» (1954) 1,6 Millionen Menschen in die Kinosäle. Und dies in einer Zeit, als die Schweiz nur 5 Millionen Einwohner zählte. Im gleichen Jahr erschien von Schnyder «Heidi und Peter». Der erste Schweizer Farbfilm verzeichnete auch international einen grossen Erfolg, nicht zuletzt wohl dank der Werbung im grossen Stil in New York.
*Die zusammengetragenen Informationen in diesem Abschnitt stammen aus dem Buch «Geschichte des Schweizer Films – Spielfilme 1896-1965», Hervé Dumont, 1987.
Kontaktieren Sie die Autoren via Twitter @duc_qnExterner Link e @stesummiExterner Link
Der Schweizer Filmpreis
Am 18. März werden die «Oscars» für das Schweizer Filmschaffen vergeben. Hier eine Auswahl der «Nominierten»:
Bester Film, jede Nomination CHF 25’000
«Amateur Teens» (Niklaus Hilber)
«Heimatland» (Jan Gassmann, Jonas Meier, Benny Jaberg, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Lisa Blatter, Gregor Frei, Michael Krummenacher, Carmen Jaquier, Mike Scheiwiller)
«Köpek» (Esen Isik)
«La Vanité» (Lionel Baier)
«Nichts Passiert» (Micha Lewinsky)
Bester Dokumentarfilm
«Above And Below» (Nicolas Steiner)
«Als die Sonne vom Himmel fiel» (Aya Domenig)
«Dirty Gold War» (Daniel Schweizer)
«Grozny Blues» (Nicola Bellucci)
«Imagine Waking Up Tomorrow And All Music Has Disappeared» (Stefan Schwietert)
Der Film «Heidi» wurde bloss in den Kategorien «Bester männlicher Darsteller» (Bruno Ganz), «Beste Filmmusik» (Niki Reiser) und «Beste Montage» (Michael Schaerer) nominiert, was von verschiedenen Branchenvertretern kritisiert wurde.
Die 25 erfolgreichsten Schweizer Filme (1976 – 2015)
(Übertragung aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)
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