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Auszeichnung für Pionierin des zeitgenössischen Tanzes

Noemi Lapzeson wurde 1940 in Buenos Aires geboren. Seit 1980 lebt sie in Genf. Gregory Batardon

Noemi Lapzeson, Genferin argentinischer Herkunft, hat den diesjährigen Schweizer Grand Prix Tanz gewonnen, der vom Bundesamt für Kultur (BAK) verliehen wird. Blick auf die Kindheit und Karriere einer Choreografin, die in der Schweiz und im Ausland brilliert.

Die anderen Schweizer Tanzpreise 2017:

Claudio Prati und Ariella Vidach, Gründer des Tanzensembles AiEP (Spezialpreis).

Marthe Krummenacher und Tamara Bacci (ausserordentliche Tänzerrinnen)

József Trefeli & Gábor Varga, Marco Berrettini, Thomas Haubert und Yasmine Hugonnet (aktuelle Tanzkreation)

Kiriakos Hadjiioannou (June Johson Dance Prize )

Ihr Gedächtnis verlasse sie in jüngster Zeit oft, sagt sie. Sie vergesse manchmal die Stücke, die sie produziert habe, deren Titel und die zahlreichen Auszeichnungen, die sie im Laufe ihrer langen Karriere gewonnen hat. Soll man Noemi Lapsezon Glauben schenken, wenn sie ihr Gedächtnis anklagt? Nein! Es ist eher ihre Bescheidenheit, die sie ihre Erfolge vergessen lassen will. Die 77-jährige Künstlerin, die sich vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt hat, ist sich bewusst, dass Ruhm und Ehre vergänglich sind. «Schlichtheit» ist eines ihrer Schlüsselworte. Ihre Choreografien zielen auf die Hauptsache, auf eine körperliche Ausdrucksweise, die Emotion und Sinnsuche vereinen.

Theater, Musik und Kino haben sie geformt. Zu unserer Begegnung im Kulturzentrum «Maison du Grütli» in Genf bringt sie eine Video-Kassette mit: «Das ist ein Film von Buñuel, ‹Das Tagebuch eines Zimmermädchens›. Ich mag diesen Filmemacher sehr, und ich mag Vittorio De Sica», sagt Noemi Lapzeson.

Das Kulturzentrum ist für die unermüdliche Künstlerin ein symbolträchtiger Ort, in dem sich ihr Tanzstudio befindet, in dem Dutzende Schülerinnen und Schüler ihre Kurse und Stages absolvierten. Hier hat sie Ende der 1980er-Jahre auch die Verwaltung ihres Ensembles untergebracht.

Gregory Batardon

Kindheit in Argentinien

In diesen glanzvollen Jahren veränderte sich die Choreografie in der Westschweiz entscheidend. Noemi Lapzeson verhalf damals dem zeitgenössischen Tanz zum Durchbruch. 1986 gründete sie in Genf den Verein ADC (Association pour la danse contemporaine) – ein idealer Nährboden für die Avantgardisten jener Zeit und die jungen Künstler von heute –, der auch in die Deutschschweiz und selbst nach Frankreich und Belgien ausstrahlte.

Im Café des Maison du Grütli wird unser Gespräch ständig unterbrochen, weil Freunde und Bekannte Noemi Lapzeson grüssen. «Ich kenne noch viele Leute hier», sagt sie. Wehmut? «Nein, überhaupt nicht», antwortet sie. «Ich bin mir bewusst, dass ich einer vergangenen Epoche angehöre. Ich gehöre heute nicht zu diesem Universum, das in eigensinniger Weise mit diesen kleinen Bildschirmen verbunden ist, welche die Kultur töten.»

«Ich gehöre nicht zu diesem Universum, das mit diesen kleinen Bildschirmen verbunden ist, welche die Kultur töten.»
Noemi Lapzeson

Rollen wir also den Zeitfaden ein bisschen auf, bis in die Kindheit zurück, die das Gedächtnis nie verlässt. In Buenos Aires ging Noemi in eine Kindertagesstätte, wo Rhythmik nach den Methoden des Schweizer Pädagogen Jaques Dalcroze unterrichtet wurde. Was sie damals in der Schule und zuhause lernte, trug später in ihrem professionellen Leben Früchte.

Kurioses Schicksal

«Meine Mutter war Physikerin. Sie bewunderte Bach und spielte regelmässig dessen Musik, und ich machte an ihrer Seite meine ersten Tanzbewegungen. Mein Vater hat mir seine Liebe zum Film und zu Büchern weitergegeben. Ich lese viel und habe meine Stücke oft mit den Klängen grosser Komponisten und den Gedanken grosser Schriftsteller, etwa Heiner Müller und Roberto Juarroz, vereinigt. Letzterer hat mich bei der Suche nach einem Namen für mein Unternehmen, Vertical danse, inspiriert. Meinen Eltern verdanke ich alles, und auch meiner Lehrerin bin ich zu Dank verpflichtet. Sie war es, die mir eines Tages sagte: Wenn du tanzen willst, musst anderswo hingehen», erinnert sich die Choreografin.

Deshalb verlässt Noemi mit 16 Jahren Buenos Aires und zieht nach New York. Sie wird Schülerin an der Juillard School und später Tänzerin bei Martha Graham. Der Start in eine brillante internationale Karriere steht unter einem guten Stern. 1980 zieht sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter nach Genf. Dort lässt der Erfolg nicht lange auf sich warten. Ihre Stücke werden vor allem in Lateinamerika aufgeführt. Viele ihrer Schülerinnen und Schüler von damals sind ausgezeichnete Tänzerinnen und Tänzer geworden, wie zum Beispiel Marcela San Pedro.

Der Schweizer Grand Prix, der Noemi Lapzeson am Donnerstag von Bundesrat Alain Berset überreicht wurde, ehrt la «Grande Dame» des zeitgenössischen Tanzes in der Westschweiz. «Der Preis wird zu einem Zeitpunkt verliehen, indem ich bereits seit einem Jahr nicht mehr berufstätig bin. Kurioses Schicksal!», sagt sie.

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Noemi Lapzeson

1940 in Buenos Aires geboren

Seit 1980 in Genf.

1956: Schülerin an der Juillard School de New York

1958: Kurse am Martha Graham Center für zeitgenössischen Tanz

1962: Engagement als Solistin im Martha Graham Ensemble.

1969: Wechsel nach London, wo sie die London Contemporary Dance Company and School aufbaut. Parallel dazu erteilt sie Kurse in Toronto.

1986: Gründung der Genève l’Association pour la danse contemporaine (ADC).

1989: Gründung des eigenen Tanzensembles Vertical Danse.

Ihre bekanntesten Stü, «Larmes», «Amour baroque/Monteverdi» und ihre letzte Choreografie von 2015 «Variations Goldberg».

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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