«Genf behandelt uns wie Bürger zweiter Klasse»
Die Genferin Houda Khattabi findet keine Arbeit in der Schweiz. Grund ist ihr Wohnsitz: Frankreich, ennet der Grenze. Nun will sie auf politischem Weg für die Rechte tausender Schweizer Grenzbewohner im Grossraum Genf kämpfen. Porträt einer atypischen Kandidatin der Kantonswahlen vom 15. April.
Houda Khattabi ist wütend und scheut sich nicht, ihrem Ärger Luft zu machen: «Wir leiden unter dem gleichen Anti-Grenzgänger-Rassismus wie unsere französischen Mitbürger. Man nennt uns Profiteure, Verräter, Belästigungen am Arbeitsplatz sind an der Tagesordnung. Aufgrund der bevorstehenden Wahlen und der überall aufgehängten Anti-Grenzgänger-Plakaten, äussern sich einige Personen uns gegenüber schamlos und äusserst diskriminierend.»
Schweizer Kandidaten aus Frankreich
Vier im benachbarten Frankreich ansässige Schweizer stehen am 15. April zur Wahl ins KantonsparlamentExterner Link von Genf (Grosser Rat): Paolo Lupo (CVP), Houda Khattabi (CVP), Nicolas Girod (Liste für Genf) und Denis Bucher (Die Grünen). Derzeit lebt keines der 100 Mitglieder des Grossen Rates ausserhalb des Kantons Genf.
Die 48-Jährige ist Mitglied des 2013 gegründeten Vereins «Genevois sans frontièreExterner Link«. Sie kandidiert für die Christlich-Demokratischen Partei (CVP/Mitte-Rechts) bei den kantonalen Parlamentswahlen vom 15. April in Genf. Houda KhattabiExterner Link setzt sich für eine bessere Vertretung der fast 25’000 im benachbarten Frankreich lebenden Genfer ein, von denen die meisten in der Schweiz arbeiten.
Genf als Heimathafen
Houda Khattabis politischer Kampf ist eng mit ihrer persönlichen Erfahrung verbunden. Sie wird als Tochter marokkanischer Eltern in Genf geboren – ihr Vater ist Botschafter bei der UNO. Die Stadt, in der sie die ersten Jahre ihres Lebens verbringt, lässt Houda Khattabi nicht mehr los. Mit 17 scheint es fast selbstverständlich, dass sie an die Ufer des Genfersees zurückkehrt, um zu studieren. Während dieser Zeit lernt sie ihren zukünftigen Ehemann kennen. Später entscheidet sie sich für die Einbürgerung.
Als sie und ihr Mann Anfang der 2000er-Jahre eine Familie gründen, stellt sich ihnen – wie so vielen Genfern der Mittelklasse – die schwierige Frage des Wohnens: «Wir erkannten schnell, dass es unmöglich sein würde, unsere Familie zu einem vernünftigen Preis angemessen in Genf unterzubringen. Die Miete einer nicht subventionierten Fünfzimmerwohnung kostete bis zu 9000 Franken im Monat», erinnert sie sich.
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Ohne lange zu zögern, entscheidet sich das Paar, sich im benachbarten Frankreich, in einem kleinen Dorf im Pays de Gex, nur wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt, niederzulassen. «Es schien uns damals eine weise und vernünftige Entscheidung zu sein», sagt Houda Khattabi. Sie hätten nicht geahnt, was ihnen aufgrund dieses Entscheides noch alles bevorstehen werde.
Erfolglose Suche
Am Anfang läuft alles relativ gut. Mit ihrem Universitätsabschluss in Ökonometrie und einem MBA aus Edinburgh in der Tasche startet Houda Khattabi in Genf eine vielversprechende berufliche Laufbahn. Sie arbeitet als Statistikerin bei der Welthandelsorganisation (WTO) und später als Finanzanalystin bei der Schweizer Grossbank UBS. Wie Zehntausende anderer Grenzgänger reist sie täglich von ihrem französischen Wohnsitz über die Grenze in die Schweiz.
Als sie zum dritten Mal Mutter wird, gründet Houda Khattabi ihr eigenes Unternehmen. Sie kann Familie und Beruf so besser miteinander vereinbaren. Doch als sie acht Jahre später beschliesst, ihr Glück auf dem Genfer Arbeitsmarkt erneut zu versuchen, erlebt sie ihr blaues Wunder.
«Ich hatte keinen Anspruch auf die berufliche Wiedereingliederungshilfe für Mütter, da ich nicht in Genf wohnhaft war», erinnert sie sich. Trotz dieser Benachteiligung gibt sie nicht auf. Während zwei Jahren schickt sie jede Woche zwischen drei und vier Bewerbungen über die Grenze. Doch eine positive Antwort bleibt aus.
Genug ist genug
Houda Khattabi fühlt sich aufgrund ihrer französischen Wohnadresse in ihrem Lebenslauf diskriminiert. Denn 2013 wird die kantonale Einstellungspräferenz für die Genfer Verwaltung eingeführt, ein Jahr später wird sie auf alle staatlich geförderten Organisationen ausgedehnt. Private Unternehmen in Genf hätten diese Praktik übernommen, ohne dies offen zu sagen, so Houda Khattabi. «Mit der Annahme der SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung 2014 auf Bundesebene ist die Situation noch schwieriger geworden», sagt die CVP-Kandidatin fürs Kantonsparlament.
«Die Genfer aus Frankreich haben die Nase voll, sie verspüren gar eine gewisse Traurigkeit. Es tut weh zu sehen, dass der Herkunftskanton seine Bürger so behandelt.»
Houda Khattabi
Vielen Schweizerinnen und Schweizern, die in den Departementen Ain und Haute-Savoie leben, gehe es ähnlich, sie seien ernüchtert. «Die Genfer aus Frankreich haben die Nase voll, sie verspüren gar eine gewisse Traurigkeit. Es tut weh zu sehen, dass der Herkunftskanton seine Bürger so behandelt», sagt Houda Khattabi.
Andere Entscheidungen der Genfer Behörden haben das Gefühl «Bürger zweiter Klasse» zu sein, unter den Genfer Grenzgängern noch verstärkt. So soll beispielsweise die Ausnahmeregelung, die ihren Kindern den Schulbesuch in der Schweiz erlaubt, nicht mehr gelten.
Illegale Schweizer
Houda Khattabi macht aber kein Geheimnis daraus: Die in Frankreich ansässigen Schweizer, die dort aber nicht offiziell angemeldet sind, tragen auch eine gewisse Verantwortung für das schädliche Klima, das sich in der Region angesiedelt hat. Ihre Zahl wird auf rund 20’000 geschätzt. «Deren beschämendes und egoistisches Verhalten untergräbt die grenzüberschreitenden Beziehungen. In der Schule meiner Töchter zum Beispiel hat sich die Zahl der Schüler durch die Anwesenheit von nicht angemeldeten Schweizern verdoppelt. Frankreich leidet darunter.»
Mit Schweizern und Schweizerinnen, die oft schon lange ennet der Grenze leben und sich an die Regeln halten, muss man aber respektvoller umgehen, wie Houda Khattabi findet. «Neben der Zahlung von zwei Dritteln ihrer Steuern und Sozialbeiträge in Genf tragen Grenzgänger, ob Schweizer oder Europäer, mehr als 20% zum BIP des Kantons bei und geben dort jährlich 2,5 Milliarden Franken aus», betont die gelehrte Ökonomin.
Auch wenn die CVP-Kandidatin ihre Chancen, ins Genfer Parlament gewählt zu werden, als eher gering einschätzt, war ihr Kampf der letzten Monate nicht umsonst. «Unsere Sorgen werden von den französischen Gemeinden und vom Aussendepartement in Bern ernst genommen. Das ist schon ein Sieg an sich», sagt Houda Khattabi.
Grenzgänger im selben Boot
Der Verein «Genevois sans frontière» (GSF) wurde 2013 von Mitgliedern der Christlich-Demokratischen Partei (CVP/Mitte-Rechts) gegründet. «Unser Ziel ist es, eine positive Dynamik zu schaffen, um die Probleme an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich zu überwinden. Wir wollen uns auch um die besondere Situation der Schweizer Grenzbewohner im sogenannten Grossraum Genf kümmern», erklärt Paolo Lupo, Präsident des Vereins.
Die Organisation Groupement transfrontalier européenExterner Link, welche die Interessen der mehr als 100’000 französischen Grenzgänger in Genf vertritt, begrüsst das Engagement. «Ich bin sehr froh über die Gründung dieser Vereinigung, auf die ich schon lange gewartet habe», sagt Präsident Michel Charrat.
Seine Organisation begrüsst auch die Kandidatur mehrerer GSF-Mitglieder für die Kantonswahlen vom 15. April. «Im Falle einer Wahl in den Grossen Rat, werden sie alle Grenzbewohner vertreten. Für mich ist der Grenzarbeiter jemand, der in einem Land lebt und in einem anderen arbeitet, es ist keine Frage der Nationalität. Ob Europäer, Franzose oder Schweizer, sie sitzen alle im selben Boot», sagt Michel Charrat.
Sie können den Autor dieses Artikels auf Twitter kontaktieren: @samueljabergExterner Link
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
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