Die Schweiz streitet vor deutschem Publikum
Der Schlagabtausch zwischen dem Schweizer Autor Lukas Bärfuss und SVP-Nationalrat Roger Köppel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) hat in deren Heimat für viel Wirbel gesorgt. Deutsche Leser werden gewahr, wie tief die Gräben in der Schweizer Gesellschaft geworden sind.
Die Wut des Thuner Schriftstellers Lukas Bärfuss angesichts der Entwicklungen in seiner Heimat spricht aus jeder Zeile seines am 15. Oktober in der FAZExterner Link veröffentlichten Essays. Ein Volk von Zwergen seien seine Landsleute mittlerweile, bedeutungslos geworden in einer globalen Welt, von der sie sich aus Furcht zunehmend abschotteten, irregeleitet von korrupten Politikern auf einen falschen, rechts-nationalen Weg.
In den Redaktionsstuben der angesehenen konservativen «Frankfurter Allgemeine Zeitung» war man sich klar, was der in Deutschland hochgeschätzte Bärfuss mit dieser Polemik auslösen würde: Ein Eidgenosse, der sein eigenes Volk beschimpft, in einer Überspitzung, die sich kein deutscher Journalist trauen würde, der je wieder einen Fuss in die Schweiz setzen will. Da konnte eine Replik nicht ausbleiben.
Sie folgte drei Tage später in bekanntem Gewande: Roger Köppel, Verleger der Schweizer «Weltwoche» und frisch gewählter Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), trat zur Ehrrettung seines Landes an. In gewohnter Schärfe widersprach der Journalist seinem Landsmann Bärfuss ebenfalls in der FAZExterner Link und präsentierte flugs eine Version der Schweiz, wie man sie aus SVP-Wahlkampfbroschüren kennt. Köppel preist seine Heimat als «Verwirklichung von Demokratie, Freiheit und Fortschritt, die in der Welt ziemlich einzigartig ist». Lukas Bärfuss nennt er einen «intellektuellen Geisterfahrer», bei dem «moralischer Dünkel die Hohlräume des Denkens füllt».
Was ist mit der Schweiz los?
In Deutschland reibt man sich derweil etwas verwundert die Augen angesichts der verbalen Vehemenz, die sowohl Barfüss als auch Köppel in ihren Beiträgen an den Tag legen. Was ist denn nur in die sonst so abgeklärten Schweizer gefahren? Und warum suchen sie sich ein deutsches Medium für ihre Debatte aus? «Schweizer kommunizieren per @faznet miteinander. Röschtigraben ade, es kommt die Sauerkrautbrücke», witzelte die Schweizer Autorin Güzin Kar auf Twitter.
Allerdings schlugen die Beiträge in Deutschland naturgemäss keine so hohen Wellen wie in der Schweiz. Vorwiegend schalteten sich jene ein, die einen biographischen Bezug zur Schweiz besitzen, wie der in Zürich geborene Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt, Raphael Gross. Seine Replik rundete, ebenfalls in der FAZ, die Debatte zwischen Bärfuss und Köppel ab. Darin zeigte Gross Verständnis für Bärfuss´ Wut auf seine Heimat und nennt die Schweiz «einen zum populistischen Experimentallabor avancierten Kleinstaat».
Das deutsche Publikum sitzt derweil in der ersten Reihe der Arena und beobachtet den in ihrem Land ausgetragenen Disput. Eines erreicht dieser in jedem Fall: Neben die rechts-konservative Weltsicht des in den deutschen Medien dauerpräsenten Roger Köppel gesellt sich eine andere, gänzlich konträre Einschätzung der Schweiz. Lukas Bärfuss wettert gegen Fremdenfeindlichkeit, Korruption und rechte Tendenzen in der Politik, gegen die Herrschaft des Geldes und die Lethargie seiner Landsleute.
Seine Argumentation ist der komplette Gegenentwurf zu Roger Köppels. Und eben deshalb tut er der Aussenwahrnehmung der Schweiz durchaus gut. Denn Bärfuss´ politischer Einwurf zeigt ein anderes Gesicht der Schweiz: eine kritische Selbstanalyse, die so dem deutschen Publikum selten präsentiert wird. Mit seiner Schweiz-Kritik knüpft Bärfuss an die Tradition der eidgenössischen Literaten Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt an. Sie begannen in den 60er-Jahren die Rolle ihres Landes im Dritten Reich zu hinterfragen und wurden dafür von ihren Landsleuten mit Schimpf und Schande bedacht.
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Köppel ist omnipräsent
In jüngster Zeit kam indes, wenn Eidgenossen gebeten wurden, die Entwicklungen in ihrer Heimat zu kommentieren, meist Roger Köppel zu Wort. Seit der Journalist von 2004 bis 2006 als Chefredakteur der Springer-Tageszeitung «Die Welt» fungierte, ist er in Deutschland ein Begriff. Er ist auch wegen seiner Eloquenz zum obersten Schweiz-Erklärer avanciert. Dabei besetzt der Verleger in der deutschen Medienlandschaft eine fast schizophrene Rolle: Von Talkshow-Gastgebern von Günther Jauch über Frank Plasberg bis zu Sandra Maischberger wird er zur besten Sendezeit als Ur-Schweizer, als aufrechter Kämpfer für die Interessen des Volkes und Verfechter der direkten Demokratie gebucht.
Köppel sei «der Mann, den deutsche Talkshow-Redaktionen lieben, weil er für Provokation und Quote sorgt – er selber würde sagen, weil er ausspricht, was viele Deutsche denken, aber nicht öffentlich zu sagen wagen», urteilt die Wochenzeitung «ZEIT». Köppel ist eine Allzweckwaffe: Vor den deutschen Zuschauern verteidigt der Verleger eloquent das Minarett-Verbot ebenso wie Abschottung, Sepp Blatter oder das Bankgeheimnis. Vielen Deutschen spricht er damit tatsächlich aus der Seele – nicht wenige reiben sich indes auch an seiner konservativen Weltsicht und der Beschreibung der Schweiz als durch Migranten bedrohte Insel der Glückseligkeit.
Die Kontrahenten
Sowohl Roger Köppel als auch Lukas Bärfuss haben eine enge Verbindung zu Deutschland und sind dort entsprechend bekannt.
Der Journalist, Verleger und SVP-Politiker Köppel war von 2002 bis 2004 Chefredakteur der deutschen Springer Tageszeitung «Welt». Seine Rolle als Verleger wird gerade von den linksliberalen Medien in Deutschland sehr kritisch begleitet. Insbesondere Köppels Übernahme der «Weltwoche» und deren stärkere Ausrichtung auf das rechtskonservative Spektrum sind häufig Thema.
Während Roger Köppel durch zahlreiche Medienauftritte einem breiten deutschen Publikum ein Begriff ist, hat sich der Dramatiker und Schriftsteller Lukas Bärfuss eher unter Theater- und Literaturinteressierten einen Namen gemacht.
Der 1971 in Thun Geborene gilt auch in Deutschland als einer der profiliertesten Intellektuellen und Autoren der Schweiz. Seine Stücke werden an zahlreichen deutschen Bühnen gespielt. 2013 erhielt er den Berliner Literaturpreis verbunden mit einer Heiner-Müller-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich.
«Ein Mensch, der sein Wissen über die Schweiz aus dem deutschen Fernsehprogramm bezieht, muss ein sehr verzerrtes Bild von unserem Nachbarstaat haben. Denn Köppel ist gefühlt der einzige Schweizer überhaupt, der in die Polittalks eingeladen wird», kommentiert die «Welt» Köppels Allpräsenz. Für die Printmedien verkörpert er indes eine anderen Rolle: Dort wird er häufig als Vertreter einer sich zunehmend abschottenden und nach rechts rückenden Schweiz präsentiert – sowohl in seiner Funktion als Journalist wie auch als SVP-Politiker.
Zwischen Heidi und Bankenskandal
Zwischen den Polen Verklärung und Verdammung – das Land, in dem Volkes Wille noch zählt (Köppel), doch das sich zugleich von der EU abwendet und gefährlich isoliert (Bärfuss) – oszilliert auch die Schweiz-Wahrnehmung vieler Deutscher. Basisdemokratie und Heidi-Land auf der einen Seite, gefährliches Grosskapital, Bankenskandale und Fremdenfeindlichkeit auf der anderen. Die Mitte, der ganz normal Alltag, findet in der deutschen Berichterstattung über die Schweiz wenig Raum, sie ist schlichtweg zu langweilig.
Nach wie vor gilt, was der Spiegel-Autor und gebürtige Schweizer Mathieu von Rohr vor einigen Jahren treffend beschrieb: «Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern ist auf beiden Seiten stark geprägt von Klischees, so sehr wie kaum irgendwo in Europa zwischen zwei Nachbarstaaten.» Doch eins ist gewiss: Im Ganzen denken Deutsche weit weniger über die Schweiz nach als es umgekehrt der Fall ist. «Deutsche wissen oft nicht, wie sensibel dieses Verhältnis ist», sagt Mathieu von Rohr.
Ihre Unwissenheit betrifft nicht nur die Empfindlichkeiten, sondern auch das politische System. Selbst deutsche Journalisten ignorieren die Mechanismen der direkten Demokratie, wenn sie den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz die gleiche richtungsweisende Bedeutung wie in Deutschland zuweisen. Nur eine Minderheit der Deutschen kann konkret erklären, nach welchen Prinzipien die Schweizer ihre Regierung bilden – dass konsensbetont regiert wird, ist zumindest bekannt. Eher schaffen es Referenden und Initiativen in die Zeitungen: Das knappe Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative im Februar 2014 ist ein Dauerbrenner – und stärkt die Wahrnehmung, dass die Schweiz weiter nach rechts rückt.
Dass dies nun dezidiert von einem Schweizer Intellektuellen kritisiert wird, kann für die Wahrnehmung der Schweiz im Ausland, insbesondere in Deutschland nur dienlich ein. Für das Bild einer Schweiz jenseits von Klischees und einfachen Lösungen hat die von Lukas Bärfuss angestossene Debatte somit viel geleistet. Das Heidi-Land erhält neue Facetten. Mittlerweile wird die Diskussion in den Schweizer Medien weitergeführt. Vor wenigen Tagen gab Bärfuss der „Schweiz am Sonntag“ ein Interview. Von Konsenssucht ist dort weiterhin keine Spur. Schweizer streiten wieder lautstark über die Schweiz und überlassen das nicht ihren Nachbarn: Zum Glück!
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