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Marktöffnung bedeutet für die Bauern nicht das Ende

Ob mit oder ohne Öffnung der Märkte: Der Agrarsektor hat mit grossen Veränderungen zu kämpfen. Jedes Jahr verschwinden in der Schweiz rund tausend Bauernhöfe. Keystone

Der Abbau von Agrarschutzzöllen würde die Schweizer Landwirtschaft vor grosse Herausforderungen stellen, ihre Existenz aber nicht bedrohen: Dies ist die Schlussfolgerung einer eben veröffentlichten Studie. Sie ging der Frage nach, wie sich eine allfällige Marktöffnung für die USA und die EU auf den Agrarstandort Schweiz auswirken würde.

«Die Schutzzölle sind weltweit immer mehr unter Druck. Die Öffnung der Märkte kommt bestimmt, auch in der Schweiz. Die Frage ist nur, innert welcher Frist und mit welcher Intensität. Angesichts dieser Tatsache ist es besser, sich darauf vorzubereiten als abzuwarten», erklärt Luzius Wasescha, Präsident der Interessengemeinschaft Agrarstandort Schweiz (IGAS), welche die Studie publiziert hat. 

IGAS 

Die Interessengemeinschaft Agrarstandort Schweiz (IGAS) setzt sich für eine Beibehaltung günstiger Bedingungen für den Agrarsektor ein, unter Berücksichtigung politischer und nationaler sowie internationaler wirtschaftlicher Entwicklungen.

Mitglieder der IGAS sind Organisationen und Unternehmen, die in dieser Branche tätig sind – von der Herstellung bis zum Konsum. Darunter IP-Suisse, die Vereinigung integriert produzierender Bäuerinnen und Bauern, Gastrosuisse, Hotellerie-Suisse, die Grossverteiler Migros und Coop, die Nahrungsmittelkonzerne Emmi und Nestlé sowie die wichtigsten Konsumentenverbände.

Nachdem die Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO) für ein globales Abkommen gescheitert waren, multiplizieren sich weltweit die bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen, oder gar mega-regionale, wie die Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)Externer Link, die zurzeit zwischen den USA und der Europäischen Union (EU) ausgehandelt wird.

Die mächtige Bauernlobby konnte bisher eine Öffnung des Agrarmarktes für die beiden wichtigsten Wirtschaftspartner der Schweiz verhindern. Wahrscheinlich wird sie aber einen Anschluss der Eidgenossenschaft an das TTIP-Abkommen nicht verhindern können. Denn ein Ausschluss würde den Industrie- und Dienstleistungssektor stark benachteiligen, die 26,3% respektive 73% des schweizerischen Bruttoinlandprodukts (BIP) liefern. Die Landwirtschaft hingegen macht gerade 0,7% des BIP aus. Zudem machen Wirtschaftskreise Druck für Freihandelsabkommen mit verschiedenen anderen gewichtigen Partnern wie Brasilien, Argentinien oder Australien.

Neue Gelegenheiten

«Wir können keine Abkommen mit diesen Ländern abschliessen, um unsere Exporte von Gütern und Dienstleistungen zu fördern, ohne dass wir bei den Agrarimporten Zugeständnisse machen», betont Wasescha. Für den ehemaligen Schweizer Chefunterhändler bei der WTO sind Freihandelsabkommen nicht mehr vorstellbar, ohne dass der Agrarmarkt zumindest teilweise liberalisiert wird. Dieser Schritt könnte jedoch auch sukzessive vollzogen werden und neue Möglichkeiten für den Agrarsektor bieten.

Mit der StudieExterner Link wollte die IGAS daher die Bauernzunft dazu anregen, darüber nachzudenken, wie sie sich dieser Entwicklung anpassen könnte, und gleichzeitig aufzeigen, dass eine Öffnung des Marktes nicht nur negative Auswirkungen haben müsse.

Eine Reduktion der Zollabgaben würde vor allem zulassen, die Lebensmittelpreise zu senken und auch den Einkauftourismus in den Nachbarländern zu verringern, der den Agrarsektor und die Händler bedeutender Einkünfte beraubt. Es sind vor allem Lebensmittel, die am häufigsten jenseits der Grenze eingekauft werden.

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Strukturwandel

Gemäss der Studie würde nicht einmal die Marktöffnung für die USA und die EU die Existenz des Agrarsektors bedrohen: Würde die Schweiz dem TTIP beitreten, müsste sie mit Produktionsverlusten von 3% rechnen. Betroffen wären insbesondere die Fleischproduzenten – die allerdings von tieferen Futtermittelpreisen profitieren könnten – sowie die Getreidebauern. Für Milch, Milchprodukte und Käse jedoch, die wichtigsten Landwirtschaftserzeugnisse der Schweiz, hätte ein Abbau von Zollschranken positive Auswirkungen.

«Die Schweizer Landwirtschaft müsste sich teilweise erneuern und hauptsächlich auf Qualitätsprodukte und Nischenmärkte setzen. Sie ist sowieso seit Jahrzehnten einem Strukturwandel ausgesetzt, und der Status quo ist auch keine Lösung, wenn man sieht, dass viele Schweizer ihre Einkäufe im Ausland tätigen und Lebensmittelkonzerne ihre Produktion in andere Länder auslagern», sagt Jacques Chavaz, Mitverfasser der Studie und ehemaliger Vize-Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW).

Aufgrund seiner Szenarien würden bei einer Marktöffnung für die EU und die USA vor allem die Konsumentinnen und Konsumenten profitieren: Ihre Gewinne wären viermal höher als die Verluste im Landwirtschaftssektor. Allgemein würde ein Anschluss ans TTIP ein Plus von 823 Millionen Franken erwirtschaften, so Chavaz. 

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Stärkste Lobby

Abzuwarten bleibt allerdings noch, in welchem Umfang die staatlichen Zuschüsse für die Bauern bei einer Marktöffnung erhöht würden. Schon heute belaufen sich die Aufwände der Eidgenossenschaft für den Agrarsektor auf 3,6 Milliarden Franken im Jahr. In der Schweiz stammen 55% der Landwirtschaftserträge aus Direktzahlungen, anderen Beiträgen und Schutzzöllen. In der EU sind es 19% und in den USA 8%.

«Die Regierung wird die Landwirtschaft nicht fallenlassen, die Zölle auf den Agrarprodukten aber reduzieren müssen. Diese sind weltweit die höchsten, zusammen mit jenen in Norwegen», meint Wasescha.

In welchem Mass diese Studie die Bauern beruhigen und den Widerstand gegen eine Marktöffnung reduzieren kann, bleibt abzuwarten, zumal die Verfechter des Agrarsektors bei den Eidgenössischen Parlamentswahlen 2015 gestärkt wurden.

Ausserdem macht die Aufwertung des Frankens zu Beginn des letzten Jahres die Produktion von Nahrungsmitteln ohne Schutzzölle noch schwieriger.

Gemäss der Schweizerischen Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor (SALS-Schweiz)Externer Link, die gegen eine Marktöffnung ist, nützt die Liberalisierung des Agrarsektors weder den Bauern noch den Konsumentinnen und Konsumenten, sondern lediglich den Grossverteilern. Schon in den letzten zehn Jahren seien die Preise, die den Produzenten bezahlt wurden, um 25% gekürzt worden, während die Konsumenten 10% höhere hätten bezahlen müssen, kritisiert die SALS.

Kann man Massnahmen zum Schutz der Landwirtschaft angesichts einer immer globalisierteren Wirtschaft rechtfertigen?

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(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)

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