Schweizer Nationalbank schüttelt Finanzmärkte durcheinander
Der Euro-Mindestkurs von 1,20 Franken ist Geschichte. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat die im September 2011 eingeführte Untergrenze per sofort aufgehoben. Nach der Ankündigung fiel der Euro kurzzeitig auf den tiefsten Stand seit November 2003.
Die Unterschiede in der geldpolitischen Ausrichtung der bedeutenden Währungsräume hätten sich in letzter Zeit markant verstärkt und dürften sich noch weiter akzentuieren. Der Euro habe sich gegenüber dem US-Dollar deutlich abgewertet, wodurch sich auch der Franken zum US-Dollar abgeschwächt habe, schreibt die SNB in ihrem CommuniquéExterner Link.
Vor diesem Hintergrund sei die Nationalbank zum Schluss gekommen, dass die Durchsetzung und die Aufrechterhaltung des Euro-Mindestkurses nicht mehr gerechtfertigt sei.
Der Franken bleibe zwar hoch bewertet, aber die Überbewertung habe sich seit Einführung des Mindestkurses im September 2011 insgesamt reduziert. Die Wirtschaft habe diese Phase nutzen können, um sich auf die neue Situation einzustellen.
Die Währungshüter verteidigten rückblickend die Massnahme: Der Mindestkurs sei in einer Zeit der massiven Überbewertung des Frankens und grösster Verunsicherung an den Finanzmärkten eingeführt worden. «Diese ausserordentliche und temporäre Massnahme hat die Schweizer Wirtschaft vor schwerem Schaden bewahrt», hält die SNB fest.
«Ökonomischen Unsinn nicht weiterführen»
Für die SNB sei nicht der grosse Druck auf den Mindestkurs ausschlaggebend gewesen, sagte Jordan an einer Medienkonferenz, sondern, weil die internationale Entwicklung die SNB zur Überzeugung geführt habe, dass der Mindestkurs aufgehoben werden könne.
Der Ausstieg habe dabei genauso überraschend erfolgen müssen, wie der Einstieg, weil die Märkte zu starken Übertreibungen tendierten.
Mit der Aufhebung des Mindestkurses erleidet die SNB grosse Bewertungsverluste. «Es macht keinen Sinn, eine aus ökonomischen Gründen nicht sinnvolle Politik weiterzuführen», sagte Jordan dazu. Die SNB könne das internationale Umfeld nicht beeinflussen. «Ein Aussteigen ist darum besser.»
Laut Jordan war es zudem keine Option zuzuwarten, weil die Rücknahme der Massnahme in sechs oder zwölf Monaten in einem deutlich schlechteren Umfeld stattfinden könnte.
Im Kampf um die Durchsetzung des Mindestkurses hat die SNB wiederholt am Devisenmarkt intervenieren müssen. Daher sind die Devisenbestände der SNB auf gegen 500 Mrd. Franken angeschwollen. Zuletzt profitierte sie von der Aufwertung der Dollar-Anlagen, was ihr einen Jahresgewinn von 38 Mrd. Franken bescherte. Nun drohen aber markante Verluste auf den Euro-Beständen.
Negativzins erhöht
Damit die Aufhebung des Euro-Mindestkurses nicht zu einer unangemessenen Straffung der monetären Rahmenbedingungen führt, senkt die SNB die Zinsen deutlich. Der Zins der Bankguthaben auf den Girokonten wird um weitere 0,5 Prozentpunkte auf -0,75 Prozent reduziert.
Das Zielband für den Leitzins, den Dreimonats-Libor, verschiebt sie damit weiter in den negativen Bereich auf -1,25 bis -0,25 Prozent. Im Dezember 2014 hatte die SNB angekündigt, Negativzinsen einzuführen. «Bei Bedarf» will sie am Devisenmarkt aktiv bleiben, um die monetären Rahmenbedingungen zu beeinflussen.
Das Ende für den Euro-Mindestkurs und die Aussicht auf schwierige Zeiten für die Schweizer Exporte haben an der Schweizer Börse für einen massiven Kurstaucher von bis zu 11% gesorgt.
Internationale Presseberichte
Die Geldpolitik der SNB sorgt auch international für Schlagzeilen. In der britischen «Financial Times» wurde der Verlauf des Franken-Euro-Kurses sogar auf der Frontseite abgebildet. Auch die «New York Times» informiert auf Seite 1 über die überraschende Kehrtwende der Schweizer Nationalbank.
Die deutsche Tageszeitung «Die Zeit» lässt Devisenmarktexperten kommentieren. «Die Entscheidung der SNB habe den Markt völlig überrascht, sagte Jonathan Webb. Angesichts der anstehenden Wahlen in Griechenland würde es für die SNB schwierig, den bisherigen Mindestkurs von 1,20 Franken pro Euro aufrecht zu erhalten.
Auch andere Händler am Devisenmarkt zeigten sich überrascht und fürchteten um die Glaubwürdigkeit der Notenbank. Einen neuen Mindestkurs werde es wohl nicht mehr geben, kommentierte ein Devisenanalyst der deutschen Helaba. Die Marktteilnehmer würden wohl kein Vertrauen mehr haben, dass dieser langfristig gehalten werde. «Der Euro-Franken wird nun den Marktkräften überlassen und es dürften sich Kurse im Bereich der Parität einstellen», so die Schlussfolgerung.
Kontroverse Reaktionen aus Politik und Wirtschaft
Der Schweizer Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann sagte, es sei offensichtlich, dass der Entscheid der SNB die Schweizer Wirtschaft und insbesondere die Exportindustrie und den Tourismus vor grosse Herausforderungen stelle. «Die Politik wird mithelfen, die Rahmenbedingungen zu verbessern», versprach er den beunruhigten Kreisen. Es sei nun noch wichtiger, die bilateralen Verträge mit der EU zu sichern. Kein Thema ist für ihn momentan ein Konjunkturpaket.
Aus Sicht des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse sind die Massnahmen der SNB zum aktuellen Zeitpunkt nicht nachvollziehbar und völlig überraschend. Die Aufhebung der Wechselkursuntergrenze sei für die gesamte Wirtschaft problematisch.
Laut Economiesuisse besteht die Gefahr, dass der Franken derart stark bleibt, dass sich die Exportindustrie und der Tourismus nicht innert nützlicher Frist an die neuen Währungsverhältnisse anpassen können. Viele Betriebe, die bei «einem vernünftigen Wechselkurs» wettbewerbsfähig wären, müssten wohl ihre Segel streichen, schreibt der Wirtschaftsdachverband.
Mit der Aufhebung der Untergrenze sei der Devisenspekulation nun Tür und Tor geöffnet, sagt Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. «Es ist mit einer unkontrollierten Aufwertung zu rechnen. Die bereits heute unter dem überbewerteten Franken leidende Exportwirtschaft (Industrie/Tourismus) wird zusätzlich belastet.»
Die Geschichte der Schweizer Geldpolitik zeige, dass die Nationalbank dem Frankenkurs eine Untergrenze geben müsse – implizit oder explizit, sagt der Gewerkschafter.
Selbst gestandene Experten «unter Schock»
Auch UBS-Chefökonom Daniel Kalt zeigt sich überrascht. «Das haben wir so nicht erwartet. Ich stehe unter Schock. Das ist starke Medizin», sagte er. Europa habe die Hausaufgaben aus der Schuldenkrise nicht gemacht. Insofern hätte die SNB die Mindestkurspolitik viel länger durchziehen und ihre Bilanz viel weiter aufblähen müssen, als sie ursprünglich gedacht habe. «Darum hat sich die SNB gesagt: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.»
Auch der Branchenverband Swissmem reagierte überrascht. Der Verband, dessen Branchenaussichten bereits eingetrübt sind, sieht düstere Wolken heraufziehen. Die KMU der MEM-Branche sind fassungslos.
Das Vorgehen der SNB widerspreche den Ankündigungen und Zusicherungen noch in der jüngsten Vergangenheit, sagte Ivo Zimmermann, Mediensprecher bei Swissmem, dem Verband der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie.
Zunächst gelte es abzuwarten, wo sich der Wechselkurs nach den ersten Turbulenzen einpendle. Wenn der bereits überbewertete Franken weiter aufgewertet werde, seien für die Branche schwere Konsequenzen absehbar. Die MEM-Industrie exportiert 60 Prozent ihrer Produkte in den Euroraum.
Die Gastgewerbeverbände Hotelleriesuisse und Gastrosuisse sehen ihre Branche durch die Aufgabe des Euro-Franken-Mindestkurses in grosser Gefahr. Das Ferienland Schweiz werde teurer und die Wettbewerbsfähigkeit der Hotels und Restaurants gehe zurück, teilten die Verbände mit.
Uneinigkeit bei Regierungsparteien
Susanne Leutenegger Oberholzer, Nationalrätin der Sozialdemokratischen Partei, bezeichnet den Entscheid der SNB als «brandgefährlich». Die Exportwirtschaft habe sich auf den Mindestkurs eingestellt.
Der Euro-Markt sei für sie der wichtigste Markt, sagte Leutenegger Oberholzer der Nachrichtenagentur sda. Die Aufgabe des Mindestkurses bringe neue Unsicherheit. Die Absicherungskosten für die Unternehmen würden steigen.
Für Thomas Aeschi, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei «musste allen im Markt klar sein, dass der Mindestkurs nicht auf ewig gehalten werden kann». Wenn sich nach dem Bekenntnis der Nationalbank zur eigenen Währung nun die Normallage wieder einpendeln werde, profitierten die Schweizer Binnenwirtschaft und auch die Sparer.
Konrad Graber, Ständerat der Christlichdemokratischen Volkspartei mahnte zur Ruhe: «Vielleicht sollte der Entscheid nicht Minuten nach der Bekanntgabe beurteilt werden, sondern erst nach ein paar Tagen, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist.»
Kritisieren will er die SNB nach ihrem überraschenden Entscheid nicht. «Die Politik sollte sich aus der Geschäftspolitik der Nationalbank heraushalten.» Bisher habe die Geschäftspolitik der Nationalbank keinen Anlass zu Zweifeln gegeben.
Auch wenn die Exportwirtschaft an einem Kurs von etwa 1.10 Franken pro Euro keine Freude habe: Anderen Branchen würde dieser Kurs zu Gute kommen. Gespannt ist Graber auch auf den nächsten Schritt der Europäischen Zentralbank. Eine Nationalbank treffe keinen solchen Entscheid, ohne andere Nationalbanken zu konsultieren, sagte er.
Für Andrea Caroni, Nationalrat der FDP.Die Liberalen ist es «an sich eine gute Nachricht. Der Mindestkurs sei bei der Einführung 2011, als sich der Franken gegenüber dem Euro rasant aufgewertet habe, ein geeignetes Kriseninstrument gewesen.
«Diese Art der Exportstützung war damals gerechtfertigt», sagte er. Und man dürfe nicht vergessen, dass der Mindestkurs für andere Branchen und nicht zuletzt für die Konsumenten Nachteile gebracht habe.
Kampf der Währungshüter
1. Januar 2002: Der Euro kommt drei Jahre nach seiner Einführung als Buchgeld in zwölf EU-Ländern als Bargeld in Umlauf. Sein Wert schwankt 2002 zwischen 1.45 und 1.48 Franken.
2004-2007: Der wirtschaftliche Aufschwung Europas führt zu einer Aufwertung des Euros. Im Herbst 2007 erreicht er einen Höchststand von 1.68.
2008/2009: Im Zuge der weltweiten Finanzkrise fällt der Euro im Oktober 2008 kurzfristig auf unter 1.45 Franken.
2010: Die Schuldenkrise in Griechenland und anderen Euro-Ländern lässt den Euro im Jahresverlauf auf 1.25 sinken. Die SNB versucht den Euro- und Dollar-Kurs mit massiven Käufen zu stützen.
März 2011: Die Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan erschüttert weltweit die Börsen. Viele Anleger flüchten in den Schweizer Franken, der Euro fällt unter 1.28.
Juni 2011: Das entschlossene Eingreifen der EU und die rasche Einigung mit dem Internationalen Währungsfonds auf ein gemeinsames Vorgehen in Griechenland beruhigen den Devisenmarkt. Der Euro stabilisiert sich bei 1.20.
August 2011: Sorgen um Italien, die Rückstufung der Kreditwürdigkeit der USA und Rezessionsängste lassen den Franken erneut erstarken. Zeitweise ist der Euro nur noch fast gleich viel Wert wie der Franken. Die SNB senkt die Zinsen und setzt mehr Geld in Umlauf.
6. September 2011: Die SNB legt einen Mindestkurs fest – auf 1.20 pro Euro. Dafür ist die SNB bereit, unbeschränkt Devisen zu kaufen. Innerhalb einer Stunde steigt der Eurokurs wieder auf über 1,21 Franken.
6. September 2012: Nachdem die SNB den Mindestkurs im ersten Jahr mehrmals mit gewaltigen Devisenkäufen verteidigen musste, glättet die Europäische Zentralbank (EZB) die Wogen. Sie kündigt an, im Kampf gegen die Euro-Krise nötigenfalls unbegrenzt Anleihen aus den Krisenstaaten zu kaufen.
31. Dezember 2013: Die SNB übersteht das Jahr ohne weitere Devisenmarkt-Interventionen. Der Absturz des Goldpreises reisst sie aber tief ins Minus. Für 2013 verbucht sie einen Verlust von rund 9 Mrd. Franken.
18. Dezember 2014: Die SNB beschliesst im Kampf um den Euro-Mindestkurs und gegen Deflationsgefahren Negativzinsen. Die Guthaben der Banken auf ihren Konten sollen ab 22. Januar mit einem Zins von 0,25% belastet werden.
8. Januar 2015: Durch Spekulationen um einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion gerät der Euro weiter unter Druck. Kurzzeitig erreicht er gegenüber dem Dollar wieder das Ausgangsniveau von 1999.
9. Januar 2015: Die stark angeschwollenen Fremdwährungsbestände sorgen bei der SNB für einen Rekordgewinn. Sie rechnet für 2014 mit einem Überschuss von 38 Mrd. Franken.
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