«Warum sollte ich Deutscher werden?»
Er trägt einen typisch schweizerischen Nachnamen und spricht mit einem deutlichen westfälischen Akzent. Er fühlt sich als Schweizer, doch seine Heimat ist Deutschland. Für Karl-Heinz Binggeli sind das keine Widersprüche, sondern Teil seiner Identität, seit er vor 60 Jahren in Deutschland als Eidgenosse geboren wurde.
Das Land seiner Staatsangehörigkeit kannte er viele Jahre nur aus den Erzählungen seiner Familie, aus Büchern und dem Fernsehen. Die reale Schweiz lag in weiter Ferne und für eine Reise gen Süden fehlte schlicht das Geld. Sein Grossvater, ein Melker, war in den 1920-er Jahren aus dem Kanton Bern nach Deutschland ausgewandert. Dessen Sohn Bernhard, Karl-Heinz Binggelis Vater, wuchs bereits im Münsterland nahe der niederländischen Grenze auf. Er wurde ebenfalls Melker und blieb.
Seine deutsche Frau nahm später so selbstverständlich wie den Namen ihres Mannes auch die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Soweit sich Karl-Heinz Binggeli erinnert, starb sie, ohne die Schweiz je betreten zu haben. Selbst sein Vater besuchte nur wenige Male das Land seiner Vorfahren. «Das war in den Zeiten für uns kaum erschwinglich», sagt Karl-Heinz Binggeli. Er war bei seiner ersten Reise in die Schweiz bereits 20 Jahre alt.
Sein Zuhause ist seit 60 Jahren der kleine Ort Laer. Hier leben seine Geschwister und Freunde, in der benachbarten Universitätsstadt Münster arbeitet er seit 40 Jahren als Bankfachwirt. Doch Karl-Heinz Binggeli trägt ein Stück Schweiz im Herzen und zuweilen auch in Form eines Schweizerkreuzes auf einem Pullover. In der Brieftasche steckt seine Schweizer Identitätskarte. Der rote Pass, den er zum Gespräch mitbringt, liegt normalerweise im Safe. Er hütet ihn wie seinen Augapfel.
«Schweizer Treffen Münster»
Der Schweizer Verein in Münster ist einer von zahlreichen in Deutschland, in denen Eidgenossen regelmässig zusammenkommen. Als Mitglied der Auslandschweizer-Organisation ASO ist der Münsteraner Verein auch in der Dachorganisation aktiv.
Offiziell wurde der westfälische Club bereits 1920 gegründet. Zusammenkünfte von Schweizern in der Region soll es jedoch auch schon vorher gegeben haben. Zu jener Zeit waren die Mitglieder überwiegend Melker, die aus der Schweiz in das Münsterland ausgewandert waren.
In der Satzung des Vereins stand neben der «Pflege geselliger Beziehungen und vaterländischer Gesinnung» auch die «wirtschaftliche Erleichterung seiner Mitglieder und tatkräftige Unterstützung hilfsbedürftiger Landsleute».
Die war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert durchaus noch gefragt. Während des Zweiten Weltkrieges bekamen die Schweizer Westfalen so genannte «Care-Pakete» von ihren Landsleuten aus der Heimat zugeschickt. Sie wurden damals in einem von einem Schweizer geführten renommierten Cafe in Münster verteilt. Karl-Heinz Binggelis Onkel nutzen ihre eidgenössischen Pässe auch dazu, um nach dem Krieg mit dem Motorrad aus der Schweiz begehrte Fussbälle für ihren Heimatsportverein Laer zu besorgen.
Denn trotz seiner westfälischen Heimat fühlt sich Karl-Heinz Binggeli als Eidgenosse durch und durch. Seinen Pass zugunsten der deutschen Staatsbürgerschaft aufzugeben, das kam ihm nie in den Sinn. «Ich bin Schweizer und bleibe Schweizer, warum sollte ich Deutscher werden?» Es ist ihm durchaus ernst damit. Mehr als 20 Jahren leitet er bereits als Präsident das «Schweizer Treffen MünsterExterner Link«.
Neben regelmässigen geselligen Zusammenkünften bietet der Verein seinen rund 60 Mitgliedern auch Beratung und organisatorische Unterstützung. Präsident Binggeli hilft zum Beispiel den Älteren in der Runde bei der zuweilen aufwändigen Verlängerung auslaufender Reisepässe. «Die könnten das ja selber gar nicht mehr. Das kann man schon von einem Präsidenten erwarten», sagt er und hält seinen Einsatz selber gar nicht für erwähnenswert.
Mitglied in drei Schweizer Vereinen
Der westfälische Schweizer Binggeli hat ein Engagements-Gen, soviel wird schnell deutlich. Neben der Präsidentschaft in Münster hat er das Amt des Kassenwarts im nationalen Dachverband, der Auslandschweizerorganisation ASOExterner Link, übernommen und ist darüber hinaus Mitglied im Schweizer Verein im benachbarten Osnabrück
Vor vielen Jahren gründete er zudem einen Gymnastikclub und organisiert jährlich Skifreizeiten für viele Dutzend Gleichgesinnte – «natürlich in die Schweiz, wenn ich die anderen davon überzeugen kann». Das alles erzählt er mit einem freundlichen Lächeln, das seine Grundstimmung zu spiegeln scheint. «Ich mache das, weil es mir Spass macht», sagt er. «Sonst würde das ja keinen Sinn machen.»
Den agilen 60-Jährigen binden keine pragmatischen Argumente an die Schweiz, es ist vorrangig eine ideelle und emotionale Beziehung. Ein paar Vorteile hat sie ihm aber dann doch verschafft: Als Kind war Karl-Heinz Binggeli mit seinem Pass im konservativen und erdverbundenen Westfalen etwas Besonderes, der einzige Eidgenosse weit und breit. Er räumt ein, dass er diese Ausnahmestellung durchaus genoss. «Da war ich schon stolz drauf», erinnert er sich. Später dann bewahrte ihn die Schweizer Staatsbürgerschaft vor dem deutschen Wehrdienst.
Als Tourist ins Land der Vorfahren
Dafür durfte er noch nie im Leben in einer deutschen Wahl sein Kreuz machen und mitentscheiden. Wer zieht in den Gemeinderat seiner Wohngemeinde ein, wer ins Landesparlament von Nordrhein-Westfalen, wer wird Regierungspartei in Berlin? Das alles verfolgt er interessiert in den Medien, mitentscheiden darf er nicht. Doch er hält sich über die Schweizer Politik auf dem Laufenden und nimmt sein Stimmrecht in der Schweiz wahr, wenn immer es ihm angemessen erscheint. «Wenn es um den Kanton Bern und meine Heimatgemeinde Schwarzenburg im Berner Mittelland geht, enthalte ich mich», sagt er. Da könne er aus der Ferne einfach nicht mitreden.
Nur einmal in seinem Leben machte er sich in jenen Ort auf, in dem sein Grossvater einst geboren wurde und dem dessen Enkel daher heute noch als Heimatgemeinde zuordnet ist. Da er dort im Kanton Bern keine Anknüpfungspunkte und keine Verwandten mehr besitzt, blieb es bei dem einen Mal. Nun reist er bei seinen Schweiz-Besuchen eher dorthin, wo Einheimische und Touristen Erholung suchen: zum Skifahren nach Zermatt, zum Velofahren ins Tessin oder an den Vierwaldstätte See. Dort kommt es dann häufig vor, dass er für einen Deutschen gehalten wird. Denn Schweizerdeutsch beherrscht Karl-Heinz Binggeli nicht «Schon mein Vater hat es zuhause nie gesprochen», erzählt er. Daher habe er es nie gelernt.
Ein Schweizer, der nur Hochdeutsch spricht
Das führt durchaus schon einmal zu komischen Situationen, zum Beispiel wenn Schweizer Studenten in Münster zum Treffen des Vereins kommen und von dessen Präsident hören, dass er ihren Dialekt leider nicht verstehe. Er steht dazu. Radebrechend Schweizerdeutsch zu sprechen, das fände er noch viel peinlicher. In noch einem Punkt fällt er aus den Schweizer Gewohnheiten. Wann immer sich die Eidgenossen im örtlichen Möwenpick Hotel zum Raclette-Essen treffen, bekommt der Club-Präsident eine Alternative serviert. «Ich mag überhaupt keinen Käse», gesteht Karl-Heinz Binggeli.
Schweizer zu sein ist für ihn keine Geschmacksfrage, sondern eine Grundsatzentscheidung. Er bewundert das politische System des Landes seiner Vorfahren, er mag die Landschaften und die Menschen, «die Neutralität und die Offenheit» sagt er. Wobei Letzteres durch die Abstimmung über die Masseneinwanderungs-Initiative ja etwas in Gefahr sei. «Ganz glücklich bin ich darüber nicht», sagt er. Und was, falls die EU im Gegenzug für eine drohende Beschränkung der Personen-Freizügigkeit ihrerseits eine Quote für Schweizer im EU-Ausland einführt? «Vielleicht werde ich ja dann in die Schweiz abgeschoben», sagt Karl-Heinz Binggeli und lacht. Ganz wohl ist es ihm bei dem Gedanken allerdings nicht. Denn Pass hin oder her: «Meine Heimat ist ja hier.»
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