Schweizer Startups zieht es zum Wachsen nach Berlin
Berlin hat sich zu einem europäischen Zentrum der Startup-Szene entwickelt. Auch Schweizer Gründer zieht es in die deutsche Hauptstadt, um von hier aus weiter zu wachsen. Sie werden angelockt von alten Fabriketagen, bezahlbaren Mitarbeitern und vom internationalen Flair.
Made in Switzerland: Dieses traditionelle Qualitätslabel verfehlt in der internationalen Welt der Tech-Startups seine sonstige Wirkung. Die Online-Gemeinde denkt global. Für Smartphone-Nutzer ist es gleich, wo und von wem eine App entwickelt wurde, so lange sie nützlich oder unterhaltsam ist. Insofern muss man bei Schweizer Startups auch lange nach einem Hinweis auf ihre Herkunft suchen. Auch jene, die sich bereits einen Namen gemacht haben, reden kaum über ihre Wurzeln. Was zählt ist die Zukunft.
So auch für Doodle: Der Online-Terminplaner gehört bereits zu den Etablierten der jungen Branchen. Monatlich «doodlen» 25 Millionen Menschen auf der ganzen Welt, von denen kaum jemand vom Schweizer Ursprung der Anwendung weiss. Doodle wurde 2007 von zwei ETH-Abgängern in Zürich gegründet. 2014 übernahm die Tamedia-Mediengruppe die Mehrheit und treibt das internationale Wachstum weiter voran. Seit Anfang 2015 verfügt Doodle auch über eine Niederlassung in Berlin. Von dort aus werden nun die wichtigen Apps für Smartphones weiterentwickelt und vermarktet. In diesen Anwendungen für mobile Geräte sieht Doodle seine Zukunft.
Startup-Hochburg Berlin
London und Berlin gelten als Zentren der europäischen Startup-Szene. Mittlerweile wird in Berlin alle 20 Stunden ein neues Startup gegründet. In Anlehnung an das Silicon Valley taufte die Szene Berlin bereits «Silicon Alley». Seit 2008 entstand jeder achte neue Arbeitsplatz in der Digital-Wirtschaft.
Während es in Berlin von Anfang an nicht an Kreativität, jedoch an dem nötigen Kapital mangelte, hat die Stadt in diesem Punkt mächtig aufgeholt. «Die meisten der 20 grössten Internetfirmen Europas kommen inzwischen aus Berlin», sagt Oliver Samwer, Mitbegründer von Berlins erfolgreichster Start-Up-Fabrik Rocket Internet, die kürzlich erfolgreich an die Börse ging. Rocket Internet ist eine Art schneller Brüter für verschiedene Startups. 2014 sammelte das Unternehmen für diesen Zweck zwei Milliarden US Dollar ein.
Die Samwer-Brüder stehen auch hinter dem Bekleidung-Onlineversand Zalando, der in Berlin mittlerweile über 3500 Menschen beschäftigt und noch in diesem Jahr 1500 weitere Stellen schaffen will.
«In Berlin haben wir Zugriff auf Ressourcen, die uns ein schnelles Wachstum ermöglichen», begründet Michael Brecht, seit 2014 CEO von Doodle, gegenüber swissinfo.ch den Schritt nach Deutschland. Er meint zum einen internationale Digital-Experten, die Doodle braucht, um seine Anwendungen weiter zu optimieren und zu vermarkten. Aber auch Mitarbeiter für den so genannten «Support» sind in Berlin leichter zu finden, also Muttersprachler, die Doodle-Nutzern in aller Welt bei Fragen weiter helfen.
Jeder Standort hat seine Vorteile
Brecht hält jedoch nichts davon, die Standorte Zürich und Berlin gegeneinander auszuspielen: «Zürich bietet uns exzellent ausgebildete IT-Experten und bleibt unser Hauptsitz», sagt er. In Berlin wiederum finde Doodle die internationale Dynamik und Kreativität, die für das angestrebte globale Wachstum notwendig seien. «Unser Ziel ist es, auf 200 Millionen Nutzer im Monat zu wachsen», sagt der CEO.
Für den digitalen Versicherungsmanager Knip waren niedrige Löhne ein gutes Argument, um das Standbein in Berlin auszubauen. Knip entstand 2013 in Zürich. Das Unternehmen hat eine mobile App entwickelt, mit der Nutzer sämtliche Versicherungen zusammenführen und verwalten können. Im Juli 2015 bezog Knip eine neue Dependance in Berlin. Dort, in Zürich und Belgrad beschäftigt das Startup mittlerweile 60 Mitarbeiter.
«Berlin war von Anfang an ein wichtiger Standort für Knip, weil die Digitalisierung der Policen und Kundeninformationen auch für die Schweiz von unserem Berliner Team erledigt wird», sagt Knip-Mitgründerin Christina Kehl gegenüber swissinfo.ch. «Wir haben uns aus Kostengründen entschieden, unser Team in Berlin aufzubauen, da klassische Sachbearbeitung in dem von uns benötigtem Ausmass in der Schweiz für kein Startup bezahlbar ist.»
Stefan Steiner von venturelab kennt dieses Problem. Venturelab vernetzt von der Schweiz aus erfolgreiche Gründer international und vermittelt Finanzierungen und Knowhow. «Die Kosten spielen ganz klar eine Rolle, wenn Schweizer Startups nach Deutschland expandieren», weiss Stefan Steiner. «In Zürich konkurrieren die Startups auf dem Arbeitsmarkt zudem mit gut bezahlenden Banken und Versicherern. Das macht die Personalsuche schwieriger.» Nach Steiners Erfahrung herrscht allerdings auch in Deutschland bereits ein Mangel an gut ausgebildeten Programmierern. «GetYourGuide sucht deshalb bereits wieder verstärkt in Zürich im Umfeld der ETH nach Mitarbeitern», sagt er im Gespräch mit swissinfo.ch.
Gigantischer Markt für Reise-Apps
Das Reiseportal GetYourGuide ist eines der erfolgreichsten Schweizer Startups der vergangenen Jahre. Es entstand 2010 in Zürich und verlegte seine Zentrale bereits 2012 nach Berlin. Derzeit hat GetYourGuide 150 Angestellte und Büros in sechs Städten, Tendenz kontinuierlich steigend. Mithilfe der App finden Nutzer Touren und Aktivitäten auf der ganzen Welt, die sie direkt über die Anwendung buchen können. «Die Tage des gedruckten Reiseführers sind gezählt», ist CEO Johannes Reck überzeugt. Bisher hat er 45 Millionen Dollar Kapital für sein Unternehmen eingeworben – ein deutlicher Vertrauensbeweis in die Zukunft von GetYourGuide.
Der Markt für Freizeit und Reise-Apps ist in der Tat gigantisch. Priceline.com bezahlte jüngst 2,6 Milliarden US-Dollar für das Restaurant-Reservierungs-System Open Table. Nicht ausgeschlossen, dass auch Johannes Reck einst ein solches Angebot erhält. Zunächst will man aber von Berlin aus kräftig wachsen und sucht fast täglich nach neuen Mitarbeitern.
Auf den Leib geschneidert
Die sind in der deutschen Hauptstadt auch deshalb leichter zu finden, weil sich Berlin zum Magnet für junge Kreative entwickelt hat und als hip und cool gilt. «Der Talentpool in den für Startups wichtigen Bereichen Online-Marketing und mobile Produktentwicklung ist in Berlin deutlich grösser als in Zürich. Die Stadt lockt junge, engagierte Menschen mit innovativen Ideen aus ganz Europa an», nennt Christina Kehl von Knip neben den Kosten einen weiteren wichtigen Grund, den Standort Berlin auszubauen.
Die Schweiz bleibt dennoch für die meisten Startups ein wichtiger Bezugspunkt. So auch für Selfnation, ein junges Startup für massgeschneiderte Jeans. Das junge Unternehmen operiert von Firmensitzen in Zürich und Berlin aus, um beide Märkte optimal bedienen zu können. Bei Selfnation können sich Kunden nach der Eingabe von sechs Massangaben ihre persönliche Jeans quasi auf den Leib schneidern lassen. Mit der einer an der ETH Zürich entwickelten Software wird das Schnittmuster erstellt und dann in Deutschland und in der Schweiz produziert.
Derweil wächst Berlins Attraktivität für die Startups weiter, auch, weil es sich von seinem Image «arm, aber sexy» langsam verabschiedet. In der Wachstumsphase benötigen die Jungunternehmer Risikokapital – und das fliesst entweder von Banken oder anderen Kapitalgebern wie beispielsweise erfolgreichen Gründern. Sexy allein hilft da nicht weiter.
In diesem Punkt hatten die Finanzzentren Zürich und London dem finanzschwachen Berlin in der Vergangenheit durchaus etwas voraus. Doch mittlerweile haben Investoren die Berliner Szene und ihre Stärken entdeckt. «Berliner Startups schwimmen in Geld», titelte Mitte Juli die Berliner Zeitung. 2014 seien 2,2 Milliarden US Dollar Wagniskapital in die Stadt geflossen, nach London hingegen nur 1,5 Milliarden Dollar. Das Gründerfieber hält also an.
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