«Ich mag es nicht, in irgendeine Kategorie gepackt zu werden»
In der internationalen Fotografie gehört sie zu den ganz Grossen. Die letztes Jahr verstorbene Sabine Weiss wird in Venedig mit einer wunderbaren Retrospektive geehrt. Hier kommentiert unsere Journalistin Ghania Adamo sechs der über 200 Fotos in der Ausstellung.
Sie ist Humanistin. Alle wollten ihr dieses Etikett anheften, aber Sabine Weiss selbst hat es abgelehnt und mit ihrer ruhigen Stimme bekräftigt: «Ich mag es nicht, in irgendeine Kategorie gepackt zu werden. Ich bin komplett Fotografin.» Sie ist überzeugt, dass sie damit Recht hat, entschuldigt sich aber dennoch. «Das ist nicht sehr bescheiden, was ich Ihnen da sage», lächelt sie ihren Gesprächspartner an.
In einem der drei Dokumentarfilme, die die Ausstellung begleiten, kann man der Schweizer Künstlerin zuhören – und tut das gerne. Die sehr schöne Retrospektive mit dem Titel «Sabine Weiss. Die Poesie des Augenblicks», ist noch bis 23. Oktober 2022 im Casa de Tre Oci in Venedig zu sehen.
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Die 1924 im Kanton Wallis geborene und 2021 in Paris verstorbene Sabine Weiss ist wahrhaft «komplett» Fotografin. Ihr Objektiv fasst die verschiedensten Horizonte, von Europa über Asien bis Amerika. Es beobachtet alle Lebensphasen, von der Kindheit bis zum Alter, und dringt in die verschiedensten Gesellschaftsschichten vor: arme und reiche, anonyme und berühmte Menschen, Schriftsteller:innen und Künstler:innen, darunter auch sie selbst.
Gezeigt werden die 200 Fotografien der Retrospektive in der Casa dei Tre Oci, ein wunderschönes Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert auf der Insel Giudecca, durch den Giudecca-Kanal getrennt vom majestätischen Dogenpalast und Venedig.
Unsere Fotoauswahl:
Die Überfahrt vom Markusplatz zur Giudecca mit dem Vaporetto dauert fünf Minuten. Besucher:innen begegnen hier dem Dogenpalast wieder, sobald sie durch den Eingang der Ausstellung geschritten sind. Der majestätische Säulengang des mythischen Palastes wird in diesem Foto aus dem Jahr 1950 in die richtige Perspektive gesetzt. Ein Helldunkel, wie aus einer anderen Zeit. Zwischen den Säulen: Sabine Weiss im Profil, den Kopf zur Kamera gewandt. Auf dem Boden: ihr Schatten. Venedig zu ihren Füssen. Die Poesie des Augenblicks macht sie zur Diva von Venedig. Ob sie damals bereits ahnte, dass sie aufgrund ihres Ruhms posthum nach Venedig zurückkehren wird?
Einen Alchemisten könnte man Alberto Giacometti hier auf dem Foto nennen, das Sabine Weiss 1955 aufgenommen hat. Der Schöpfer der Plastik «L’Homme qui marche» wirkt erstarrt in seinem Atelier, das aussieht wie ein überfülltes Labor. Sein Blick fixiert die Kamera, doch seine Gedanken sind wohl woanders. Er scheint sich zu fragen, wie er seine Ideen und künstlerischen Kompositionen in eine Ordnung bringen kann. Innerlich ist er sich vielleicht bewusst, dass Talent unergründbar ist – eine Alchemie, die keine Formel erklären kann.
«L’homme qui court»: Der Mann, der rennt, ist Hugh, Sabine Weiss Ehemann. Sie selbst hat das offengelegt. Für die Betrachter:innen aus der Rückansicht könnte es sich um irgendein Individuum handeln, das durch den abendlichen Nebel läuft. Das Foto aus dem Jahr 1953, dem Jahr der Uraufführung von Samuel Becketts «Warten auf Godot», vermittelt eine geheimnisvolle Atmosphäre. Damals bestand eine intellektuelle Verbundenheit zwischen in Paris lebenden Künstler:innen und Schriftsteller:innen. Bei Beckett hoffen die Figuren auf ein übernatürliches Wesen, das ihnen die Last ihrer Sorgen nimmt. Ob Sabine Weiss an diese dachte? Hinter wem ist der Mann, der rennt, her?
Das New York der 1950er-Jahre. Dieses Bild, weniger intim als die vorherigen, verlagert die Reflexionssphäre in den öffentlichen Raum. Ironischerweise ist der Blick auf den öffentlichen Raum von einem Poster beschränkt, das religiösen Aktivismus auf der Strasse karikiert. Ein Cartoon, der das Seelenheil propagiert, während dahinter die US-Flagge weht. Patriotismus und Glaube, ein Kampf, der in den USA bis heute andauert.
Leichtheit und Frohmut. Sie beschreiben die südeuropäischen Länder im Allgemeinen. Auf einer Lichtung in der portugiesischen Küstenstadt Nazaré wird ein Ball gegeben. Es ist Sonntag, erfährt man aus der Bildunterschrift. Die Stimmung ist überdreht. Zwei Frauen vergnügen sich beim Tanzen, während die Männer nur zuschauen – einige von ihnen lüstern. Die Kinder, denen Sabine Weiss in ihrem gesamten Werk grosse Bedeutung zugemessen hat, verschaffen dem Sonntagsfest einen heiligen Touch.
Andere Party, anderer Stil, weniger volksnah. Sabine Weiss hat für berühmten People-Magazine gearbeitet, darunter auch Life, für welches dieses Foto entstanden ist. Wir schreiben das Jahr 1958. Yves Saint-Laurent entwirft seine erste Kollektion für Christian Dior. Luxus und Sinnlichkeit! Ein König umringt von unwiderstehlichen Prinzessinnen. Wie von einem Hofstaat! Der Hofstaat der Haute Couture.
Übertragung aus dem Französischen: Benjamin von Wyl
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