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«Der Ukraine-Krieg lässt vieles wieder hochkommen»

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Oskar Zwicky ist am 23. September 1930 in der Schweizer Kolonie Shabo, in der Nähe von Odessa, Ukraine, geboren. swissinfo.ch

Oskar Zwicky ist in der ehemaligen Schweizer Kolonie in Shabo – in der heutigen Ukraine – geboren. Im Zweiten Weltkrieg musste er als Zehnjähriger flüchten. Sechs Jahre lang war er mit seiner Familie unterwegs, bis sie in die Schweiz einreisen durften. Rückblick auf ein bewegtes Leben.

Die Sonne spiegelt sich im Walensee, die Berggipfel ragen in den hellblauen Himmel. Ursi Bigger hat schon auf uns gewartet. Auf dem Beifahrersitz ihres Autos sitzt ihr Vater: Oskar Zwicky, ehemaliger Auslandschweizer, 91 Jahre alt. Mit einem breiten Lächeln begrüsst er uns.

Wir fahren zehn Minuten den Berg hinauf, nach Quarten im Kanton St. Gallen. Zum Haus von Zwickys Tochter. Der Senior geht voraus. Mit seinem Stock in der Hand ist er ruckzuck im ersten Stock, wo Kaffee und Kuchen serviert werden. Wir nehmen Platz und Oskar Zwicky beginnt zu erzählen.

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Wie die Familie nach Shabo kam

«Mein Urgrossvater Johann Heinrich Zwicky ist 1822 nach Shabo ausgewandert. Er hat sich seinem damaligen Arbeitgeber, Luis Vincent Tardent aus Vevey, angeschlossen. 60 Hektaren Land und vier Hektaren Rebberg wurden ihm bei seiner Ankunft zugeteilt. Es gab reichlich Platz in der Schweizer Kolonie. Die Häuser standen mindestens 100 Meter auseinander.

Mein Urgrossvater war 28 Jahre alt und ledig. Er durfte sein Land nicht bewirtschaften, weil es Unverheirateten nicht erlaubt war. So war er also Landbesitzer, konnte damit aber nichts anfangen. Ein guter Botaniker war er jedoch und trat für Gouverneur Kroupensky in Odessa den Dienst als Privatgärtner an.

Später reiste er auf die Krim, nach Zürichtal, der anderen Schweizer Kolonie in dieser Region. Er half dort den Bauern in den Rebbergen und den Obstplantagen. Auf der Krim lernte er seine deutsche Frau kennen, und die beiden bekamen vier Kinder. Einer von ihnen war mein Grossvater.

Irgendwann zog es die Familie wieder zurück nach Shabo, wo sie – da verheiratet – ihr Land nun selbst bestellen konnten. Hier wurde mein Vater geboren. Hier wurde ich geboren. Im ehemaligen Bessarabien. Die Kolonie zählte 900 Schweizer:innen. Deutsche gab es in der Region aber Hunderttausende.

Das Leben in der Schweizer Kolonie

In Shabo haben wir schweizerdeutsch gesprochen. Es gab ein Gemisch zwischen schweizerdeutsch und hochdeutsch und anderen Sprachen wie etwa französisch. Am Vormittag sprachen wir in der Schule entweder russisch oder rumänisch – je nachdem wer das Land gerade besetzt hielt. Ich weiss noch genau: Die ersten drei Schuljahre sprachen wir am Morgen jeweils rumänisch und am Nachmittag deutsch.

Bild der Schweizer:innen in der Kolonie 1922
An Feiertagen durfte die Schweizerfahne an die Kirche gehängt werden. (Bild 1922) DR

An den Feiertagen durften wir bei der Kirche die Schweizerflagge raushängen. Aber nur bei der Kirche. Beim eigenen Haus musste die Flagge des jeweiligen Landes hängen, das Bessarabien gerade okkupierte. Es gab immer einen Pfarrer aus der Schweiz, der deutsch und französisch sprechen musste.

Ausser Zucker und Salz oder Fisch, das wir ab und zu kaufen gehen mussten, waren wir Selbstversorger. Wir hatten reichlich Gemüse. Sogar das Vieh und die Schweine konnten Gemüse essen. An das Leben in der Kolonie habe ich immer noch ganz gute Erinnerungen.

‹Die Schweiz ist voll›

Dann kam der zweite Weltkrieg. Alles war anfangs friedlich. Doch dann hiess es von den Deutschen: ‹Also, wir nehmen alle Leute hier raus.›

Uns blieb nichts anderes übrig als uns den Deutschen aus der Kolonie anzuschliessen und abzureisen. Um die Mittagszeit im Juni 1940 ging es los. Durch den Ukraine-Krieg ist vieles wieder hochgekommen. Es tut weh, dass jetzt schon wieder alles kaputt gemacht wird.

Wir machten uns mit Ross und Wagen auf nach Galatz (Rumänien), mein Vater, meine Mutter, mein Halbbruder, drei Geschwister und ich. Ich war zehn, nach meinem Halbbruder der Älteste. Ein Schiff nach dem anderen brachte die Leute auf der Donau nach Semlin (ehemaliges Jugoslawien). Auch uns. Nach einer Woche im Sammellager ging es per Zug nach Tschechien weiter, wo wir ein Jahr lang geblieben sind und eine Schwester zur Welt kam.

Karte mit der Route, welche die Familie zurückgelegt hat.
Vom Schwarzen Meer bis in die Schweiz: Sechs Jahre waren die Zwickys während des Zweiten Weltkriegs unterwegs bis sie endlich in die Schweiz einreisen durften. swissinfo.ch

In einem leerstehenden Fabrikgebäude fanden wir Unterschlupf. Wir bekamen Essen, wir konnten in die Schule gehen. Vater musste mit den anderen Männern arbeiten gehen. Gratis konnte man ja auch da nicht leben. Aber es wurde alles für uns organisiert.

‹Ihr könnt euch melden, wenn der Krieg vorbei ist›, haben uns die Schweizer Behörden gesagt. ‹Die Schweiz ist voll. Wir lassen niemanden rein.› So mussten wir wirklich warten, bis der Krieg fertig war. Hätten unsere Vorfahren die Ausweise immer wieder erneuert, dann hätten wir das Köfferli nehmen und mit dem Pass in die Heimat zurückreisen können.

Von den 900 Schweizer:innen in Shabo waren es aber höchstens zehn Personen, die das machen konnten. Die anderen mussten warten. Und gehorchen. Den Deutschen, die uns hin und her geschoben hatten. Sechs lange Jahre. Wir Schweizer:innen aus Shabo konnten mehr oder weniger immer zusammenbleiben. Wir machten ab, dass wir uns im Fall einer Trennung alle wieder in Klagenfurt treffen werden, wenn der Krieg vorbei ist. Und so war das auch.

Immer genug zu essen

Familienbild in Tschechien
Oskar Zwicky (ganz links) mit seiner Familie in der ehemaligen Tschechoslowakei. Ursi Bigger

Meine Mutter hatte auf der jahrelangen Reise zurück in die Schweiz – es war in meinen Augen eine Reise und keine Flucht – eine Priorität: Dass wir immer genug zu essen haben. Falls wir in Not geraten – und das ist mehrmals vorgekommen – hatten wir zumindest genug zu essen. Und so war das eine grosse Gepäckstück, das erlaubt war, nicht mit Kleidern, sondern mit Essen gefüllt.

Wir sind jedoch nie in grosse Not geraten. Nicht so, wie man sie jetzt in der Ukraine sieht. Wir hatten grosses Glück.

Nach Tschechien haben uns die Deutschen nach Slowenien verlegt. Hier sind wir drei Jahre geblieben, wo ein Bruder geboren wurde und mein Halbbruder an einer Blinddarmentzündung gestorben ist. 1945 haben uns die Deutschen dann nach Österreich gebracht, nach Klagenfurt. Wir konnten endlich das Gesuch für den Schweizer Pass einreichen. Der Krieg war vorbei.

Während sechs Jahren stand die ganze Familie unter Spannung. Wohin geht es als nächstes? Sind wir überhaupt willkommen? Von Shabo durfte man sowieso nicht mehr träumen – dort waren die Russen, man riskierte eine Deportation nach Sibirien.

Wir haben in Klagenfurt einen Schweizer Lederfabrikanten kennengelernt, welcher der Schweiz gemeldet hat, dass nun ganz viele Schweizer:innen hier sind. Und so hat er organisiert, dass auch wir das obligate Auslandschweizer:innen-Päckli mit Keksen und Schokolade bekommen haben.

Genau ein Jahr hat es gedauert, bis wir die Dokumente erhalten haben: am 12. Juni 1946. In dieser Zeit ist noch ein weiterer Bruder auf die Welt gekommen. So schnell wie möglich haben wir unsere Heimreise geplant. In einem Viehwagon wurden wir per Bahn in die Schweiz verladen.

>>>Im Video: Oskar Zwicky über seine Reise zurück<<<

‹Hier kann man ja nicht leben›

Um 9 Uhr morgens sind wir in St. Margrethen angekommen. Es folgte ein Monat Quarantäne. Danach verfrachtete man uns in ein Hotel in Le Mont-Pélerin. Mein Vater und mein Onkel meldeten sich bei unserer Heimatgemeinde in Obstalden im Kanton Glarus an. Aber die beiden Männer waren nach einem Besuch vor Ort gar nicht glücklich.

‹Da kann man doch nicht leben. Auf diesem Berg. Hier wächst gar nichts›, berichteten die beiden ‹Flachlandbauern›. Sie hatten ein anderes Ziel: Basel. Aber meine Mutter und Tante intervenierten. Jetzt gingen sie gemeinsam nach Obstalden und den Frauen gefiel es. ‹Hier wächst ja alles, Obstbäume, Gemüse,… . Tut doch nicht so.›

So kamen wir nach Obstalden. An meinem 16. Geburtstag am 23. September am Nachmittag um drei Uhr. Aufgetischt hat uns die Gemeinde heissen Cervelat und Hörnli. Als Russen wurden wir im Dorf empfangen. Auch 20 Jahre später galten wir noch als solche. Wir fanden aber trotzdem rasch Anschluss. Mein Vater konnte uns sehr bald ohne Sozialhilfe ernähren. Er heuerte in einer Papierfabrik an. In der Schweiz kamen drei Geschwister dazu.

Schicksalsschläge in der Schweiz

All die Jahre auf der Rückreise in die Schweiz besuchte ich zwar immer wieder ein bisschen den Schulunterricht. Aber die Bildung wurde klar vernachlässigt. Die Lehrer waren an der Front, so unterrichteten uns alte Männer.

Zurück in der Schweiz wollte ich so gerne noch zur Schule, aber mit 16 war ich zu alt. Später habe ich eine Anlehre gemacht als Mechaniker. Nach ein paar Jahren absolvierte ich auch noch die Meisterprüfung. Schulisch hatte ich immer grosse Mühe – aber ich habe es geschafft.

1952 habe ich meine Frau geheiratet. Wir hatten vier Kinder, ein Haus, ein eigenes Bettwaren-Geschäft. Und wir hatten es wahnsinnig schön miteinander. Doch zwei meiner Söhne sind mit 25 und 26 Jahren gestorben. Sie wurden nach einer Grippe falsch behandelt und ihre Nieren wurden zerstört. Der Arzt stritt ab, dass er unsere Buben überhaupt je behandelt hat. Sieben Jahre pflegte meine Frau die beiden. Dialyse, Transplantation – nichts hat genützt. Das waren ganz, ganz schwierige Zeiten.

Vor zwei Jahren ist meine Frau mit über 88 Jahren gestorben. Jetzt bin ich 91 Jahre alt und hocke nach 68 Ehejahren alleine in einem goldenen Vogelkäfig. Aber dass ich so alt werden durfte, ist ein Geschenk. Ich treffe mich regelmässig mit meinen Geschwistern. Von elf leben noch acht. Ausserdem habe ich sechs Enkelkinder und vier Urgrosskinder. Es ist ja alles so schön in der Altersresidenz, fast zu schön. Man weiss halt nicht, was tun.

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