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Showdown beim EU-Rahmenabkommen: In der Schweiz wächst die Nervosität

Ursula von der Leyen
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Keystone / John Thys

Nachdem das Rahmenabkommen seit Wochen totgesagt wurde, sehen nun einige Medien doch noch Spielraum. Die EU sei offener als auch schon, heisst es unter Berufung auf anonyme Quellen.

Was kann Bundespräsident Guy Parmelin in Brüssel noch retten? Diese Frage beschäftigt die Schweiz. Am Freitag ist ein Gespräch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angesetzt. Medien, Politik und Wirtschaft messen dem Treffen entscheidende Bedeutung für das künftige Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zu.

Am Montag traf sich der Bundesrat zu einer Krisensitzung, um Parmelin mit einem Mandat auszustatten. Laut Medienberichten konnte sich der Bundesrat nicht einigen und wird daher am Mittwoch an seiner ordentlichen Sitzung nochmals darüber reden.

Aus den verschiedenen Berichten, die unterschiedliche Quellen in Bundesratsnähe zitieren, kristallisiert sich eines hinaus: Die Schweiz will sich offenbar Zeit kaufen, vorwiegend mit der ohnehin geschuldeten Kohäsionsmilliarde, allenfalls aber auch mit substantiell mehr Geld. In dieser Zeit, so offenbar die Schweizer Strategie, soll die EU auf Nadelstiche verzichten – bis die Schweizer Regierung mit einem neuen, breiter abgestützten Plan, auf Brüssel zugehen kann.

Laut dem deutschen Grünen-Abgeordneten Gerhard Zickenheiner sollte der Bundesrat bei seinem letzten Rettungsbesuch in Brüssel der Tatsache Rechnung tragen, wie schlimm ein Scheitern des Rahmenabkommens für die Grenzregionen wäre:

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Auffallend ruhig ist es aktuell in der ausländischen Presse. Das Rahmenabkommen mit der Schweiz interessiert in der EU kaumExterner Link jemanden. Dafür überschlagen sich die Meldungen im Inland.

Die Süddeutsche ZeitungExterner Link schrieb am 2. April 2021 unter dem Titel «Die Geschichte einer fast kaputten Ehe», das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union sei ein zunehmend trauriges Thema. «Sollte der Bundesrat, wie viele erwarten, die seit Jahren laufenden Verhandlungen von sich aus für gescheitert erklären, wäre das eine Zäsur in der Schweizer Aussenpolitik: der Anfang vom Ende eines mehr als 20 Jahre währenden Sonderwegs, einer Art ‹halben› oder ‹passiven› EU-Mitgliedschaft.» Die EU wiederum verlöre nach Grossbritannien einen weiteren engen Partner, mit dem sie nicht nur Werte, sondern vor allem bedeutende wirtschaftliche Interessen teile.

Brüssel hat sich laut der Süddeutschen Zeitung den bilateralen Weg bisher gefallen lassen, im Glauben, ein künftiges Mitglied an sich zu binden. «Je grösser die EU wurde, umso deutlicher traten jedoch die Grenzen des Ansatzes zutage.» Seit 2012 und verstärkt nach der Brexit-Abstimmung fordere die EU-Kommission, das Verhältnis rechtlich klarer zu fassen, um Rosinenpickerei zu verhindern.

Wenn es nun zum Bruch mit Brüssel käme, würde die Schweiz laut der Süddeutschen Zeitung die binnenmarktähnlichen Verhältnisse verlieren, von denen sie im Moment so profitiere. «Die Schweiz muss wissen, ob sie sich das leisten kann.»

In einem Artikel vom 20. März 2021 über den Brexit schreibt The EconomistExterner Link, Nachbarländer der Wirtschaftsmacht EU müssten entweder deren Vorherrschaft akzeptieren oder versuchen, sie zu bekämpfen. «Die Schweiz und die Türkei repräsentieren diese beiden Optionen am besten. Die Schweizer, die ein kompliziertes Geflecht von Verträgen mit der EU haben, mögen über die Dominanz der EU über ihre Angelegenheiten murren, akzeptieren aber letztendlich die Einmischung.»

Uneinig sind sich die Schweizer Beobachter, welchen Verhandlungsspielraum Parmelin überhaupt noch hat. Nachdem die meisten Medien das Rahmenabkommen in den letzten Wochen totgesagt haben, hegen nun manche doch noch Hoffnung auf ein Entgegenkommen der EU.

SRF ging in der Sendung HeuteMorgen vom 20.04.2021 der Frage nach: Gibt es Raum für Neuverhandlungen mit der EU?

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Laut SRFExterner Link ist für die EU-Staaten ein Abbruch der Übung keine Option. Komme die Schweiz der EU finanziell «massgeblich» entgegen – Stichwort Auszahlung der Kohäsionsmilliarde – lasse sich über neue politische Kompromisse beim Rahmenabkommen noch einmal verhandeln. SRF stützt sich bei dieser Einschätzung auf interne Protokolle der EU-Kommission.

Auch laut Tages-AnzeigerExterner Link besteht noch ein gewisser Spielraum: Insbesondere Deutschland und Frankreich drängten darauf, die Möglichkeiten für Kompromisse weiter auszuloten, während die osteuropäischen Staaten eher kritisch seien. Für den Fall eines Scheiterns gebe es seitens der EU keinen Alternativplan. Auch diese Zeitung zitiert aus dem internen Protokoll. Die Schuld für ein allfälliges Scheitern des Rahmenabkommens liege aus Sicht der EU-Kommission einzig und allein bei der Schweiz, heisst es darin offenbar. 

Auch laut der französischsprachigen Zeitung Le TempsExterner Link kann das totgesagte Rahmenabkommen noch gerettet werden. Auch wenn sich beim Treffen von Freitag nichts Spektakuläres abspielen werde, so komme nun doch Bewegung in das Dossier. Dass Ursula von der Leyen das Treffen von Freitag aufrechterhalten habe, zeige den Willen, der Schweiz die Hand zu reichen.

Nachdem die EU bisher Neuverhandlungen kategorisch abgelehnt hat, zeigen sich die EU-Mitgliedsstaaten nun offener, wie ein anonymer Diplomat Le Temps anvertraut hat. Es gebe noch Spielraum bei den drei offenen Punkten, sagte der Zeitung eine andere Quelle.

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Persönlichkeiten kommen zu Wort

Die Neue Zürcher Zeitung lässt heute in zwei Gastkommentaren die Pro- und Kontraseite zu Wort kommen.

Der ehemalige Bundesrichter und FDP-Ständerat für den Kanton Aargau Thomas Pfisterer schreibtExterner Link, das Rahmenabkommen könne ein Gewinn für Demokratie und Souveränität sein. Das Rahmenabkommen hätte laut Pfisterer zwar gewisse Nachteile, die Vorteile für die Demokratie würden aber überwiegen. «Das letzte Wort behält das Volk, hierzu gibt es keine Alternative.» Das Rahmenabkommen bringe im Vergleich zu heute auch mehr Rechtssicherheit.

Heinrich Fischer von Kompass/Europa hingegen hält ein Plädoyer für den bilateralen Weg. Fischer ist Verwaltungsratspräsident der Hilti Aktiengesellschaft und Mitglied des Verwaltungsrats der Tecan AG sowie der Sensirion AG.

Warum ausgerechnet aus der Wirtschaft Widerstand gegen das Rahmenabkommen kommt, haben wir kürzlich zu erklären versucht:

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Schweizer Unternehmer, Investor und Blockchain-Experte Luzius Meisser engagiert sich gegen das Rahmenabkommen – wegen der EU-Bürokratie.

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Fischer schreibt nun also in der NZZExterner Link, eine lösungsorientierte Alternative zum Rahmenabkommen sei durchaus möglich. Die Schweiz verfüge mit den Bilateralen I und II sowie mit dem Freihandelsabkommen von 1972 über gute, massgeschneiderte Vertragspakete. «Diese erodieren unmittelbar auch nicht, geschweige denn treten sie ausser Kraft, wenn wir den Rahmenvertrag so nicht unterschreiben.»

Die zu erwartende Eiszeit nach dem Scheitern des Rahmenabkommens werde kurz sein. Die gegenseitigen Interessen zwischen der Schweiz und der EU seien zu gross. «Wir wollen den bilateralen Weg weitergehen, aber nicht zu jedem Preis», so Fischer. «Dazu akzeptieren wir, anders als Grossbritannien, unseren fairen Anteil an Kohäsionszahlungen, die Personenfreizügigkeit, die Vorteile für die 300’000 Grenzgänger, den EU-Transitverkehr mit unserer 25-Milliarden-Franken-Investition in die Neat und vieles mehr.»

Das linke Urgestein Rudolf Strahm schreibt in einem Kommentar für die Tamedia-MedienExterner Link, die EU-Piesackerei brauche die Schweiz nicht zu schrecken. Die Medizinaltechnik-Branche habe auf Drohungen aus Brüssel längst reagiert und vorgesorgt. «Auch beim Strom und bei der Forschung liessen sich Lösungen finden», so Strahm. Er vermutet, die Bundesverwaltung habe allgemein «für den Fall eines neuen Powerplay aus Brüssel» bereits mit einem Plan B vorgesorgt.

Befürworter machen Druck

Nachdem sie wochenlang durch Abwesenheit glänzten, kommen nun auch die Befürworter des Rahmenabkommens in die Gänge. Am Wochenende forderten die WirtschaftsverbändeExterner Link vom Bundesrat, dass er die noch offenen Punkte mit der EU-Spitze rasch kläre. Es sei im Interesse des ganzen Landes, den bilateralen Weg für die Zukunft zu sichern.

SRF Eco berichtet am 19.04.2021: Das Rahmenabkommen spaltet die Wirtschaft.

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Am Montag wandte sich der Schweizerische Städteverband (SSV) in einem BriefExterner Link an die Landesregierung. Er verlangt vom Bundesrat einen zeitnahen Beschluss zum EU-Rahmenabkommen. Die Städte seien auf eine gute und stabile Beziehung mit der EU angewiesen. Wenn der Bundesrat das Rahmenabkommen nicht weiterverfolgen wolle, müsse er Alternativen aufzeigen, so der SVV.

Die Befürworter von ProgresuisseExterner Link befürchten offenbar, der Bundesrat wolle das Rahmenabkommen beerdigen. Die Bewegung wandte sich mit einem Appell an die Landesregierung, sie solle nun keinen vorschnellen Entscheid zum Rahmenabkommen fällen.

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