Siegeszug einer verrückten Theorie
Auch Albert Einstein fand sie verrückt: die Quantentheorie, die noch heute für Rätselraten und technische Revolutionen sorgt. Eine kurze Geschichte.
Alles was existiert – Sie, ich, die Luft, die wir atmen, die Blätter der Bäume, mein Fahrrad, Ihr Hund, der Planet Jupiter oder der Bildschirm, auf dem Sie diesen Text lesen –, besteht aus Molekülen.
Moleküle sind Ansammlungen von Atomen, die ihrerseits Ansammlungen von Protonen, Neutronen und Elektronen sind. Und wenn man sie genau betrachtet, erkennt man, dass sie sich ganz anders verhalten als die gigantischen Ansammlungen, die sie bilden.
Ein Elektron oder ein Photon ist in der Lage, durch zwei Löcher gleichzeitig zu fliegen, sich an mehreren Orten gleichzeitig zu befinden oder zur selben Zeit in mehrere Richtungen zu drehen.
Noch seltsamer ist, dass diese Teilchen anscheinend von einem Punkt im Raum zum anderen kommunizieren können, und zwar schneller als das Licht. Und sie können sich sogar teleportieren.
«Wenn die Quantentheorie Sie nicht schockiert, haben Sie sie nicht verstanden», sagte einst der dänische Physiker Niels Bohr, der 1922 für seine Verdienste um die Erforschung der Atome mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Bohr, der auch ein hervorragender Fussballtorwart war, gilt als einer der Begründer:innen der Quantentheorie.
Physikalische Anomalien
Doch woher wissen wir überhaupt irgendetwas über diese Teilchen, wenn sie doch so klein sind? «Wegen unserer Intelligenz und der Mathematik. Damit können wir selbst unsichtbare Vorgänge in der Natur anhand von Formeln erforschen», sagt der Schweizer Physiker Nicolas Gisin, der sich in seiner Freizeit für Feldhockey begeistert.
Er ist Direktor der neuen Schweizer Quantenkommission und Autor eines populärwissenschaftlichen Buches über das Thema («Der unbegreifliche Zufall: Nichtlokalität, Teleportation und weitere Seltsamkeiten der Quantenphysik»).
Jahrhundertelang waren sich Physiker:innen sicher, die letzten Geheimnisse der Materie entschlüsselt zu haben, und erwarteten deshalb keine Fortschritte in ihrem Fachgebiet. Es gibt jedoch Phänomene, die die klassische Physik nicht erklären kann. Zum Beispiel die Art und Weise, wie sich die Farbe eines Objekts verändert, wenn man es erhitzt.
In der Flamme eines Schneidbrenners wechselt ein Stück Metall von rot zu gelb und dann zu weiss. Danach müsste es eigentlich ultraviolettes Licht ausstrahlen, welches das menschliche Auge nicht wahrnehmen kann. Das Metall sollte also unsichtbar werden. Dies geschieht aber nicht, da es in Wirklichkeit viel weniger Ultraviolett ausstrahlt, als es die Theorie vorsieht.
Es ist diese Anomalie, die Max Planck, Nobelpreisträger für Physik 1918, Pianist und Professor an der Universität Berlin, auf die Spur einer neuen Theorie brachte, die das Verhalten des unendlich Kleinen erklärt.
Ungläubig stellte er Gleichungen auf und präsentierte 1900 die Hypothese, dass Energie – Licht ist eine Art Energie – nicht kontinuierlich, sondern in Form von kleinen Paketen emittiert wird. Wie Wasser, das nicht in einem kontinuierlichen Rinnsal, sondern nur tropfenweise fliesst. Er nannte diese Pakete Quanten.
Albert Einstein, Nobelpreisträger für Physik 1921, Geiger und damals Angestellter des Bundespatentamts in Bern, griff diese Entdeckung auf und schlug 1905 seine Theorie des photoelektrischen Effekts vor. Sie geht davon aus, dass Licht keine Welle ist, wie man bis dahin glaubte, sondern ein Bündel von Teilchen, die man Photonen nennt.
>> «La révolution quantique» ist ein 25-minütiger Dokumentarfilm (auf Französisch) über die Gründerväter der Quantenphysik. Produziert wurde er von Canal U, der audiovisuellen Plattform für Hochschulbildung und Forschung der französischen Regierung.
Gesetze des Absurden
Heute weiss man: Licht ist beides und zugleich weder das eine noch das andere. Forschende, darunter Niels Bohr, Louis de Broglie, Paul Dirac, Erwin Schrödinger, Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg, demonstrierten im Laufe der Zeit, dass sich Photonen und Elektronen wie Teilchen und auch wie Wellen verhalten. Eine beunruhigende Tatsache, die Heisenberg zu der Frage veranlasste, ob es wirklich «möglich ist, dass die Natur so absurd ist, wie sie zu sein scheint?»
In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch «Schrödingers Katze» zu erwähnen, die in einem Käfig eingesperrt ist, in dem sie sowohl tot als auch lebendig sein kann. Man müsste den Käfig öffnen, um den Zustand des Tieres zu erfahren.
Dieses rein theoretische Experiment wurde 1935 vom Physiker Erwin Schrödinger vorgeschlagen. Er wollte zeigen, dass die Quantenwelt auf einer Summe von Wahrscheinlichkeiten beruht. Allerdings wäre der Test nur durchführbar, wenn die Katze ein Teilchen wäre und nicht ein Lebewesen, das aus unzähligen Teilchen besteht.
Wie Planck und Einstein betrat Schrödinger die Quantenphysik nur, um ihre Lücken aufzuzeigen. Doch er liess sich letztlich von ihren Theorien überzeugen. Anders war das bei Einstein: Er lehnte die Quantentheorie, die dem Zufall so viel Platz einräumt und sich auf Wahrscheinlichkeiten und Statistiken stützt, ab. Für ihn war das Universum vollständig entschlüsselbar, «Gott würfelt nicht», erboste er sich 1927 gegenüber Niels Bohr.
Zufall gegen Determinismus, Bohr gegen Einstein: Wer hatte Recht? Heute steht für Wissenschaftshistoriker:innen fest, dass Max Planck Recht behielt und den Grundstein für die Quantenrevolution legte. Nach ihm kamen Bohr und dessen Anhänger:innen, die sich in der sogenannten Kopenhagener Deutung zusammenfanden.
Die neue Quantenrevolution
So verwirrend und unbequem sie auch ist, die Quantentheorie hat der Menschheit geholfen zu verstehen, wie Atome funktionieren und wie sie sich untereinander zu Molekülen verbinden, was zu spektakulären Fortschritten in der Chemie und Biologie geführt hat.
Im Bereich der Technik hat uns das Verständnis der Quantenmechanismen ermöglicht, den Teilchenfluss (Elektronen oder Photonen) zu kontrollieren, der unsere Laser, Radio- und Fernsehgeräte, Computer und Mobiltelefone antreibt. In der Tat sind all diese Gegenstände, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind, bereits Quantentechnologien.
Doch was kommt nun? Was ist neu an der zweiten Quantenrevolution, die seit einigen Jahren vonstattengeht? 2022 wurde der Nobelpreis für Physik wieder einmal an Quantentheoretiker:innen verliehen: Alain Aspect, John F. Clauser und Anton Zeilinger beschäftigten sich alle mit der sogenannten Verschränkung. Sie ist eine der verwirrendsten Eigenschaften von Teilchen.
Wenn zwei Teilchen verschränkt sind und man den Zustand des einen ändert, verändert sich auch der Zustand des anderen im selben Ausmass. Und zwar sofort und selbst dann, wenn es sich am anderen Ende der Galaxie befindet! «Wie das funktioniert, bleibt ein absolutes Rätsel. Es ist, als kämen diese Korrelationen von ausserhalb der Raumzeit», sagte Nicolas Gisin 2008 nach einem an der Universität Genf durchgeführten Experiment zur Quantenteleportation.
In aktuellen Experimenten zur Quantenphysik werden also nicht mehr Ströme von Elektronen oder Photonen manipuliert, sondern einzelne Teilchen. Die Quantenkryptographie und andere vergleichsweise einfache Prinzipien haben bereits ihren Weg in Alltagsanwendungen gefunden.
Der heilige Gral ist und bleibt der Quantencomputer. Indem er die besonderen Eigenschaften von Quantenteilchen nutzt, verfügt er theoretisch über eine Rechenleistung, die für herkömmliche Computer unerreichbar ist.
Die komplexen Operationen, die solche Rechner ermöglichen, würden helfen, neue Medikamente oder Materialien zu modellieren, Versorgungsnetze, Batterien oder Solarzellen zu optimieren, die Mechanismen der Photosynthese zu verstehen und vieles mehr.
Kein Computer für zu Hause
Über den Quantencomputer wird schon lange gesprochen. Doch er wird wohl nie als Alltagsgegenstand im Handel erhältlich sein, denn die technischen Herausforderungen beim Bau sind enorm.
In einem Quantenprozessor wird die Information auf Partikeln gespeichert, die zu Qubits werden. Diese sind jedoch sehr instabil und fehleranfällig. Um richtig zu funktionieren, muss die Maschine vollständig von Vibrationen, elektrischen und magnetischen Feldern sowie Lichtquellen abgeschirmt werden.
Ausserdem muss sie in einem Supergefrierschrank aufbewahrt werden, da ihre ideale Betriebstemperatur nahe dem absoluten Nullpunkt (-273 °C) liegt. Nur dort bleiben die Teilchen so ruhig, dass man sie «manipulieren» kann.
Trotz dieser Schwierigkeiten geben alle grossen Staaten Milliarden für die Quantenforschung und -entwicklung aus. Das Thema liegt im Trend. Auch Giganten der Tech-Branche wie IBM oder Intel oder Grössen des Onlinehandels wie Amazon oder Alibaba investieren in diese Technologie.
Momentan ist es sinnvoll, sich Quantencomputer nicht als PCs oder gar Laptops vorzustellen, sondern als reine Prozessoren, die in Ad-hoc-Räumen installiert werden und die man aus der Ferne über das Internet abfragen kann.
Die fantastische Rechenleistung solcher Maschinen wäre für die meisten Aufgaben, die wir tagtäglich auf unseren Computern erledigen, wie das Tippen eines Textes, das Versenden einer E-Mail oder das Schneiden eines Videos, sowieso zu viel. Nützlich wäre sie nur bei sehr komplexen und spezifischen Anwendungen.
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Grosser Hype um kleinste Teilchen
Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
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