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«Neubauten sollten nur noch bewilligt werden, wenn sie Strom erzeugen»

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Eine Photovoltaik-Anlage auf den Dächern der Genossenschaftssiedlung Grünmatt in Zürich. © Keystone / Christian Beutler

Die Solarenergie wächst weltweit rasant. 2020 war ein Rekordjahr für die Photovoltaik in der Schweiz. Um die Energie- und Klimaziele zu erreichen, müssen die Anstrengungen jedoch intensiviert werden, sagt Markus Chrétien vom Verein Solarspar im Interview.

Der Preis für Solarenergie ist in den letzten zehn Jahren um 90 % gefallen und Solar ist «die billigste Form der Elektrizität in der Geschichte», so die Internationale Energieagentur im Oktober 2020. Ein Preisverfall, der die Verbreitung dieser Energieform in der Schweiz begünstigt hat, wo Solarenergie rund 4% der Stromproduktion ausmacht (2010 lag der Anteil bei 0,1 %).

Im Rahmen ihrer Energiestrategie 2050 setzt sich die Schweiz für den Ersatz von Atomenergie durch erneuerbare Energien ein und setzt dabei insbesondere auf den Ausbau der Photovoltaik. «Die Zukunft liegt in Selbstverbrauchergemeinschaften», sagt Markus Chrétien, Direktor des Schweizer Vereins Solarspar, einem der Pioniere der Solarenergie in der Schweiz.

swissinfo.ch: Seit 2013 stagniert der Photovoltaik-Markt in der Schweiz oder geht sogar zurück. Für 2020 spricht aber der Schweizerische Fachverband für Sonnenenergie Swissolar von einem Rekordzubau bei Photovoltaikanlagen. Es werden Leistungen von 430-460 Megawatt neu installiert, das entspricht einem Wachstum von 30-39 Prozent gegenüber 2019. Hat die «erneuerbare Energiewende» der Schweiz also endlich begonnen?

Markus Chrétien: Solarspar arbeitet schon seit 30 Jahren an der «erneuerbaren Energiewende». Die Zahlen von 2020 sind zwar durchaus erfreulich, aber um eine echte Wende zu schaffen, braucht es viel, viel mehr. Der Stromverbrauch wird zunehmen, denken Sie nur an die Elektrifizierung der Mobilität oder der Heizungen. Um das klimaverträglich zu schaffen, müsste der jährliche Zubau in den nächsten Jahren nahezu vervierfacht werden.

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Was hat dieses Wachstum gefördert? Hat auch die Pandemie dazu beigetragen?
Die Planung von PV-Anlagen braucht relativ viel Zeit. Dass die Wartefristen bei der Einmalvergütung stark verkürzt werden konnten – statt mehreren Jahren beträgt sie nur noch wenige Monate – hat bestimmt zum Wachstum beigetragen. Auch die Pandemie mag eine Rolle gespielt haben. Sie hat bewusst gemacht, wie tückisch die Abhängigkeit von ausländischen Zulieferern ist, wie schnell solche Lieferketten zusammenbrechen können. Zum andern gab es weniger Möglichkeiten Geld auszugeben. Es stand also mehr Kapital zur Verfügung. Anstatt es für Flugreisen oder Shopping auszugeben, wurde es möglicherweise in etwas Sinnvolles wie eine PV-Anlage investiert.

Der Verein Solarspar wurde 1991 gegründet und hat etwa 15’000 Mitglieder. Zweck des Vereins ist die Förderung und Produktion von nachhaltiger Energie. Mittlerweile hat er rund 20 Millionen Schweizer Franken investiert und 100 Photovoltaik-Anlagen gebaut, die genug Strom für mehr als 3’000 Haushalte liefern. Solarspar ist auch in der Forschung aktiv und fördert den Transfer von Solarwissen und -technologie in Entwicklungsländer.

Um das Netto-Null-Emissionen-Ziel bis 2050 in der Schweiz zu erreichen, muss der jährliche Zubau in den nächsten Jahren auf etwa 1500 MW gesteigert werden – also auf das nahezu Vierfache des letzten Jahres. Was braucht es, um das Tempo zu beschleunigen?

Ganz sicher müssten die bürokratischen Hürden abgebaut und das ganze Regelwerk für Solaranlagen vereinfacht werden. Wünschenswert wäre auch, dass Neubauten nur noch bewilligt würden, wenn sie auch Strom erzeugen. Entscheidend sind die Einspeisevergütungen. Also die Preise, die Elektrizitätswerke für den ins Netz eingespeisten Solarstrom bezahlen. Da gibt es heute ja gewaltige Unterschiede von 5 bis 13 Rappen pro Kilowattstunde. Wenn wir bei Grossanlagen ab einer Leistung von rund 200 kWp eine Vergütung von 12 Rappen pro Kilowattstunde erhielten, könnten wir alle geeigneten Dächer in der Schweiz mit Photovoltaik bestücken, und die Anlage würde rentieren, egal wie gross der Eigenverbrauch ist.

Wie schätzen Sie die Entwicklung des Photovoltaik-Marktes in der Schweiz ein im Vergleich zu den Nachbar- und Europäischen Ländern?

Vor 30 Jahren hatte die Schweiz in Sachen erneuerbare Energien noch eine Vorreiterrolle inne. Das hat sich mittlerweile drastisch geändert. Deutschland, Italien, Grossbritannien, Frankreich liegen zum Teil massiv vor der Schweiz. Selbst die Türkei und Belgien haben uns überholt. Das heisst, das Potenzial für einen Ausbau in der Schweiz ist nach wie vor sehr gross.

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Dächer, Fassaden, Staumauern, künstliche Seen und Autobahnen: es gibt viele Orte, wo man Solarzellen installieren könnte. Wo sehen Sie das grösste Potenzial in der Schweiz?

In der Schweiz warten noch sehr viele Flach- und Schrägdächer in Städten und Agglomeration darauf, mit einer PV-Anlage aufgerüstet zu werden. Der Vorteil, dieses Potenzial zuerst auszuschöpfen, besteht darin, dass in Agglomerationen die elektrische Infrastruktur bereits vorhanden ist. Bei Staumauern, Lawinenverbauungen etc. muss diese Infrastruktur zuerst noch aufgebaut werden, was die Kosten wiederum massiv erhöht. Wie vorhin schon erwähnt, würde auch die Pflicht zur Eigenstromproduktion bei Neubauten einen grossen Schub bewirken.

Solarspar baut und finanziert so genannte «Eigenverbrauchsgemeinschaften»: kleine Gemeinschaften produzieren und konsumieren Ihren eigenen Strom. Wie funktioniert das und was sind die Vorteile?

Wenn der Strom dort verbraucht wird, wo er produziert wird, ist das die ökonomischste Art der Stromversorgung. Bei sogenannten Eigenverbrauchsanlagen wird der Strom vom Dach also auch gleich im Haus genutzt. Das schont die elektrische Zuleitung und verringert Verluste. Bei Eigenverbrauchsgemeinschaften sind es einfach mehrere Nachbarn, die sich aus der gleichen Quelle versorgen. Damit solche Anlagen den Durchbruch schaffen, muss der Preis für den Strom vom Dach günstiger sein als der, den das Elektrizitätswerk berechnet.

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Markus Chrétien, Direktor von Solarspar. Solarspar

Mit dem Klimawandel werden extreme Wetterereignisse zunehmen. Diese können auch Stromausfälle verursachen, wie vor Kurzem in Texas. Wie kann die Solarenergie die Versorgungssicherheit gewährleisten?

Wenn das Stromnetz zusammenbricht, kann auch die Solarenergie die Versorgung nicht gewährleisten. Fällt das Netz aus, schalten sich die Wechselrichter automatisch ab, und es wird kein Strom mehr ins Netz gespeist. Das dient der Sicherheit, etwa bei Brandgefahr. Einzig vom Stromnetz unabhängige Inselanlagen gewährleisten die Versorgung. Dafür braucht es aber einen eigenen Stromspeicher, eine Batterie. Solche Anlagen wiederum sind nur sinnvoll, wo es kein Stromnetz gibt – für Alphütten zum Beispiel.

Das CSEM in Neuchâtel hat mit Meyer Burger eine Silizium-Solarzelle entwickelt, die ein Wirkungsgrad von mehr als 25% hat. Können solche Innovationen zu einer Renaissance der Solarproduktion in Europa beitragen? Und welches sind die neuen Anwendungen von Photovoltaik?

Wir suchen nach anderen Anwendungen für und mit der Photovoltaik. So haben wir Versuche gemacht mit begrünten Dächern und wie sie sich auf die Leistung von Solarpanels auswirken, mit Photovoltaik über der grünen Wiese oder untersuchen auch, wie sich PV unter Winterbedingungen in den Bergen verhält.

Eine Verbesserung des Wirkungsgrads von Solarzellen ist in jedem Fall zu begrüssen. Je besser der Wirkungsgrad, desto weniger Ressourcenverbrauch. Auch die Entwicklung von Photovoltaik für Fassaden ist ein sehr vielversprechender Ansatz.

Allerdings würde ich im Zusammenhang mit Solarenergie nicht von einer Renaissance reden, sondern von einer absoluten und dringlichen Notwendigkeit, angesichts der nach wie vor steigenden CO2-Emissionen und ihren verheerenden Auswirkungen auf das globale Klima.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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