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Die Nationalbank stiehlt sich aus der Verantwortung

Fabio Canetg

Die Schweizerische Nationalbank (SNB) wird seit dem Ausbruch der Covid-19-Krise vermehrt mit politischen Forderungen konfrontiert. Der Verweis auf ihre Unabhängigkeit befreit sie aber nicht von der Pflicht, mehr für die Wirtschaft zu tun. Im Gegenteil.

Die Nationalbankspitze hat es nicht leicht. Im Wochentakt werden neue Forderungen an sie gestellt.

Die prominenteste davon stammt von Jan-Egbert Sturm, Alexander Rathke (beide KOF/ETH) und Daniel Kaufmann (Universität Neuchâtel). Sie sehen die SNB trotz des stark eingeschränkten Zinsspielraums in der Pflicht, die Konjunktur zu stützen.

«In dem Moment, wo man auf solche Begehrlichkeiten eingeht, stellt man die Unabhängigkeit der Geldpolitik in Frage.»

Fritz Zurbrügg, Vizepräsident des SNB-Direktoriums, Schweiz am Wochenende vom 30. Mai 2020.

Auf der Suche nach einem geeigneten Instrument wurden die Forscher bei den Sozialversicherungen fündig. Eine SNB-Geldausschüttung an die Arbeitslosenversicherung hätte eine ähnlich breite Wirkung wie eine Zinssenkung, weil dadurch die Lohnabzüge aller Arbeitnehmenden verringert würden, so Sturm im Geldpolitik-Podcast von swissinfo.ch.

Die Nationalbank reagiert auf diese Anregung mit einem altbekannten Reflex: Sie verweist auf ihre Unabhängigkeit. Eine Debatte darüber, was die Nationalbank für die angeschlagene Wirtschaft tun könnte, erstickt sie damit im Keim.

Dabei drängt sich die Frage auf: Wozu gab man den Notenbanken ihre Unabhängigkeit?

Die Nachwirkungen der 1980er-Jahre

Um das zu beantworten, müssen wir in die 1980er-Jahre zurückblicken. Damals setzte sich die Überzeugung durch, dass ein Notenbanker überdurchschnittlich stark gegen hohe Inflationsraten vorgehen sollte. Theoretische Forschungsarbeiten* haben seither gezeigt, dass ein «konservativer Notenbanker» am besten geeignet ist, um den Wohlstand zu sichern. Die Zinsen sollten lieber zu hoch sein, als zu tief, so das Mantra.

Die dazu nötige Handlungsfreiheit wurde den Notenbanken in Form einer rechtlichen Unabhängigkeit zugestanden. So sollte sichergestellt werden, dass die Währungshüter die Inflation fernab des Einflusses der Regierungen auch mit unpopulären Massnahmen kontrollieren konnten.

Eine neue Ausgangslage

Heute ist eine zu hohe Inflation keine relevante Sorge mehr. Im Gegenteil: In der Schweiz ist die durchschnittliche Teuerungsrate seit 2009 negativ – und damit ausserhalb des grosszügigen Zielbands von 0 bis 2 Prozent.

Weniger wichtig ist die Unabhängigkeit der SNB deshalb aber nicht geworden: Heute wie damals erlaubt die Unabhängigkeit der Nationalbank, ihrem Auftrag nachzukommen. Im Speziellen dann, wenn unpopuläre Massnahmen gefragt sind.

«Wenn die SNB den Empfehlungen zur Stimulation der Wirtschaft in einer solchen Situation mit Verweis auf die Unabhängigkeit eine Absage erteilt, dann gewichtet sie das Beharren auf ein Prinzip höher als ihren gesetzlichen Auftrag.»

Im Gegensatz zu früher betrifft die Unabhängigkeit heute aber primär die Freiheit, eine lockere Geldpolitik zu betreiben. Zu den unpopulären Instrumenten, die zurzeit von der SNB eingesetzt werden, gehören die Negativzinsen. Sie wurden 2015 auf ihr heutiges Niveau von -0,75 Prozent gesenkt, um den Exportsektor zu schützen.

Unabhängigkeit in Gefahr?

Das reicht aber nicht aus, um dem schärfsten Wirtschaftseinbruch seit Jahrzehnten zu begegnen. Zur Erinnerung: Zwischenzeitlich waren in der Schweiz unglaubliche 1.91 Millionen Arbeitnehmende für die Kurzarbeit angemeldet. Wenn die SNB den Empfehlungen zur Stimulation der Wirtschaft in einer solchen Situation mit Verweis auf die Unabhängigkeit eine Absage erteilt, dann gewichtet sie das Beharren auf ein Prinzip höher als ihren gesetzlichen Auftrag.

Die Unabhängigkeit befreit die SNB nämlich in keiner Weise davon, ihrem Mandat gerecht zu werden. Die Vorschläge aus der Wissenschaft können dafür besser oder schlechter geeignet sein. In jedem Fall stehen sie aber im Einklang mit den Zielen der SNB. Sie gefährden die Unabhängigkeit der Nationalbank deshalb nicht.

Die Nationalbank muss Massnahmen ergreifen, die wirksam sind. Unabhängig davon, wer sie vorschlägt oder gut findet.

Fabio CanetgExterner Link ist Geldökonom am Studienzentrum Gerzensee. Er moderiert den swissinfo.ch Geldpolitik-Podcast (Geldcast).

* Weiterführende Literatur: Kenneth Rogoff (1985), «The Optimal Degree of Commitment to an Intermediate Target», Quarterly Journal of Economics, 100(4), 1169-90.

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