Wenn moderne Drachen auf ihren Flügen Strom produzieren
Die Grundidee ist eigentlich ganz einfach: Um Strom aus Windkraft zu erzeugen, sollte man den Wind in Höhen auszunützen, wo er stark bläst. Ein Schweizer Start-up-Unternehmen hat nach diesem Prinzip ein "fliegendes Windkraftwerk" konzipiert. Das Projekt Twingtec wurde an der Expo2017 in Astana vorgestellt. Es verfolgt ehrgeizige Ziele: Es will den Windkraftmarkt mit Drohnen revolutionieren.
Wer auf den Eiffelturm gestiegen ist oder in den Bergen wandert, hat mit Sicherheit die Erfahrung gemacht: Je höher man kommt, desto stärker weht der Wind. Die Erbauer von herkömmlichen Windrädern kennen diesen Effekt natürlich auch. Darum bauen sie immer höhere Windräder mit immer längeren Rotorblättern.
Doch das Wachstum hat Grenzen. «Die Windräder sind beschränkt: Denn sie können aus technischen und ökonomischen Gründen nicht höhere Lagen ausnutzen, wo der Wind stärker und zuverlässiger bläst», sagt Rolf Luchsinger.
Luchsinger, der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETHZ) studiert hat, ist Experte für ultraleichte Materialien sowie Mitbegründer und heutiger Chef des Start-Up-Unternehmens Twingtec. Für sein innovatives Projekt einer neuen Windenergie interessieren ihn genau die hohen, bisher nicht erreichbaren Lagen.
Windenergie in der Höhe
Gegründet wurde Twingtec 2013 als Spin-off der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dübendorf (Empa) nahe Zürich und der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Windisch. Das zugrunde liegende System ist scheinbar ganz einfach: Ein kleines Fluggerät, das mit einem Generator verbunden ist.
Das Fluggerät fliegt wie ein Drachen in einer kreisförmigen Bahn. Die Drohne ist mit einem Seil mit der Bodenstation verbunden. Durch die schnelle Fluggeschwindigkeit zieht die Drohne mit grosser Kraft am Seil, dieses wird von der Spule abgewickelt und ein Generator erzeugt elektrische Energie. Sobald die maximale Höhe erreicht ist, das heisst das Seil ganz ausgerollt ist, fliegt der Flieger nach unten zurück und das Seil wird wieder aufgewickelt. Danach beginnt ein neuer Zyklus, wie das folgende Video zeigt.
Laut Luchsinger ist die Idee, mit Drachen Energie zu erzeugen, bereits 1980 erstmals in einer Publikation aufgetaucht. Doch damals habe es keine entsprechende Technologie gegeben. «Das Konzept tauchte vor 10 Jahren wieder auf, gleichzeitig mit den grossen lenkbaren Drachen im Kitesurfing.»
Tatsächlich gab ein Treffen zwischen dem Physiker Luchsinger und einem leidenschaftlichen Kitesurfer der Fachhochschule Nordwestschweiz den Anstoss zu Twingtec. Nach vier Jahren Forschung und Entwicklung hat das Start-up-Unternehmen den klassischen Drachen durch eine ultraleichte Drohne ersetzt, diese automatisiert und mit einem modernen Satelliten-Navigationssystem ausgerüstet.
Der Prototyp hat eine Spannweite von drei Metern und wiegt sechs Kilo. «Er fliegt auf einer Höhe zwischen 100 und 300 Metern über Boden. Er ist in der Lage, alleine zu starten und zu landen, abhängig von den jeweiligen Windverhältnissen»; sagt der Twingtec-Chef.
Die Hauptschwierigkeit bei der Entwicklung dieses Projekts bestand darin, alle Funktionalitäten und Flugmodalitäten in ein einziges Flugobjekt zu integrieren. «Dabei waren die technologischen Fortschritte in zwei anderen neuen Märkten für uns äusserst wichtig: Bei den zivilen Drohnen und bei den Motoren und Batterien für Elektrofahrzeuge», sagt Luchsinger.
Wind statt Diesel
Im Gegensatz zu den klassischen Windrädern kann das System Twingtec somit Winde in bisher unerreichbaren Höhen ausnutzen. Aber das ist nicht der einzige Vorteil. «Es braucht weder Türme noch Fundamente: Der Bedarf an Baumaterial im Vergleich zu einem Windrad beträgt ein Zehntel. Der Container mit dem Generator lässt sich leicht transportieren und ist kein grosser Fremdkörper in der Landschaft», hält Luchsinger fest.
WindEurope, die Europäische Vereinigung für Windenergie, hält auf Anfrage fest:
«Wir unterstützen alle Windenergie-Innovationen, die einen Beitrag zur Energiewende leisten. Doch Technologien, die auf Drachen oder Drohnen setzen, sind Nischentechnologien, die nicht helfen werden, die Emissionen signifikant zu senken. Sie sind zu teuer und nicht in grossem Massstab getestet», schreibt WindEurope-Sprecher Andrew Canning. Windräder gebe es schon lange, die Branche sei aber weiterhin innovativ. Die Industrie senke die Preise und erhöhe die Leistungskraft der Windrad-Anlagen.
Die leichte Versetzbarkeit ist seiner Meinung nach einer der grossen Trümpfe des Systems. «Wir können diese Container in abgelegene Gegenden bringen, etwa im Falle von Naturkatastrophen. Denken wir an isolierte Orte, die nicht ans Stromnetz angeschlossen sind, oder solche, wo Generatoren mit fossilen Brennstoffen eingesetzt werden», sagt Luchsinger.
Die Mobilität ist seiner Meinung nach einer der grossen Trümpfe des Systems. «Wir können diese Container in abgelegene Gegenden bringen, etwa im Falle von Naturkatastrophen. Denken wir an isolierte Orte, die nicht ans Stromnetz angeschlossen sind, oder solche, wo Generatoren mit fossilen Brennstoffen eingesetzt werden», sagt Luchsinger.
Die erste kleine Pilotanlage wird nächstes Jahr in einer Mine in Kanada getestet. In einer zweiten Phase wird dann eine leistungsstärkere Anlage mit 100 kW entwickelt, welche den Bedarf von 80 Wohneinheiten abdecken kann.
Gemäss dem Twingtec-Verantwortlichen lassen sich mit einer 100 kW Anlage 100‘000 Liter Diesel und 240 Tonnen CO2-Ausstoss im Jahr einsparen. «Mit unserem System werden wir umweltfreundlicher und günstiger Elektrizität produzieren können. Bei einem mit Diesel betriebenen Generator kostet eine Kilowattstunde zwischen 30 und 50 Cent. Mit unserer Technologie kann der Preis auf 5 bis 10 Cent fallen.»
Drohnen über den Alpen
In der Schweiz deckt die Windenergie nur einen minimalen Teil des Gesamtenergiebedarfs ab (0,2 Prozent). Da das Schweizer Stimmvolk die Energiestrategie 2050 angenommen hat, welche einen Ausstieg aus der Atomenergie vorsieht, muss die Energieproduktion aus erneuerbaren Energiequellen erhöht werden. Dazu gehört auch die Windenergie. Kann das Projekt Twingtec einen Beitrag leisten?
«Ich bezweifle, dass bald eine Energiedrohne über jedem Haus oder jedem Quartier schwirren wird. Finanziell lohnt sich das nicht, zudem gibt es etliche Flugbeschränkungen in besiedelten Gebieten. Das System könnte aber in den Alpen nützlich sein, wo gute Windverhältnisse herrschen, aber der Bau von Windrädern schwierig ist. Eine Twingtec-Einheit könnte beispielsweise den Strom für Bergbahnen oder Berghotels Skilift liefern», meint Luchsinger.
Windpärke im Meer
Twingtec ist nicht die einzige Firma, die mit modernen Drachen Windenergie nutzt. Mindestens 10 Unternehmen sind weltweit in dieser Branche tätigt. Gemäss einem kürzlich erschienen Artikel auf der Webseite Cleantechnica sind die amerikanische Firma Makani (Eigentümerin ist Google) und die holländische Ampyx Branchenleader. Auch die italienische KiteGen Research, welche im Frühling ein Produktionszentrum für Giga-Rotoren eingeweiht hat, gehört gemäss dieser zu den verheissungsvollen Unternehmen.
«All diese Technologien basieren auf dem Prinzip eines Drachens, doch die Formen sind sehr unterschiedlich. Wir haben als erste eine Drohne benutzt», betont Rolf Luchsinger. Diese Innovation fand anlässlich der Internationalen Ausstellung 2017 in Astana grosse Anerkennung. Twingtec ist von 780 Projekten aus 55 Ländern eines der besten 30 Start-up-Unternehmen – als einzige Schweizer Firma – in diesem Wettbewerb für alternative Energien #NEWENERGY.
«Es ist eine wirkliche Revolution Windenergie dort erzeugen zu können, wo Windräder nicht hin gelangen», meint Luchsinger. Und er schaut bereits in die Zukunft: «Ich stelle mir grosse Windkraftpärke im Meer vor. Küstenstädte können dann ihre eigenen Windkraftwerke mitten im Meer haben.»
(Aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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