Grenzgänger pendeln in Genf auf hindernisreicher Strasse
Sie halten die Genfer Wirtschaft in Gang, leben aber nicht in der Stadt und auch nicht in der Schweiz. Aber jetzt tauchen neue Barrieren auf, die den Grenzgängern den Zugang zu Arbeitsplätzen in der Calvin-Stadt erschweren.
Im Hotel Ramada Encore Genève treffen die Gäste nur mit Glück auf eine Genferin oder einen Genfer unter der Belegschaft. Lediglich drei von 45 Angestellten leben in Genf. Alle anderen fahren täglich von Frankreich in die internationale Stadt und zurück.
«In der Hotellerie brauchen wird ausländische Arbeitskräfte», sagt Erik Wagenaar, der holländische Manager, der das Hotel seit zwölf Jahren führt. «Es gibt eine Vielzahl von Stellen, aber man findet kaum die richtigen Leute.»
Derzeit hat er verschiedene Stellen zu besetzen, wie zum Beispiel einen Barkeeper oder Stellen im Marketing für französisch- und englischsprachige Personen.
«Wir sind offen gegenüber Schweizern und Nicht-Schweizern, aber ich erhalte kaum je Bewerbungen von Schweizern. Ich habe ein Dreisterne-Hotel und glaube, dass Schweizer lieber in Vier- oder Fünfsterne-Hotels arbeiten. Es ist eine Prestige-Frage», sagt Wagenaar.
Für Schweizer seien die Löhne für diese Stellen zu niedrig und die Arbeitszeiten zu lange. Aber das sei halt die wirtschaftliche Situation, die sich nicht ändern lasse.»
Gute Löhne, aber…
Veronique Allamand arbeitet seit sieben Jahren in diesem Hotel. Sie ist verantwortlich für Speisen und Getränke und pendelt täglich zwischen dem 50 Kilometer entfernten Cluses (Frankreich) und Genf. «Der grösste Vorteil ist der Lohn», bestätigt sie. «Aber ich kann hier auch Aufgaben übernehmen, die ich in Frankreich niemals bekommen würde. Ich habe kein Hotel-Diplom und führe hier Leute, die im Besitz eines Diploms sind. In der Schweiz bekommt man eine Chance, nicht wie in Frankreich.»
Celine Vitse, eine Pflegefachfrau am Genfer Universitätsspital (HUG), die in Thonon-les-Bains (Frankreich) wohnt, bestätigt die attraktiven Schweizer Arbeitsbedingungen.
«Meine beste Freundin lebt in Frankreich, und sie kann nicht glauben, dass ich mich um sechs Patienten kümmere, während sie im gleichen Job 25 Patienten betreuen muss. Was ich hier in der Schweiz antreffe, ist das, was ich in der Schule gelernt habe – einen umfassenden Ansatz bei der Patientenbetreuung», sagt sie.
Aber Grenzgängerinnen und Grenzgänger haben es nicht nur leicht. In der Schweiz arbeiten sie länger als in Frankreich (42 statt 35 Stunden pro Woche), haben lange Arbeitswege, bezahlen höhere Sozialabgaben und Steuern als in der Vergangenheit, und der Kündigungsschutz ist schwächer als in Frankreich.
Der jüngste Monatsbericht des «Conseil du LémanExterner Link«, ein grenzüberschreitendes Gremium mit Vertretern aus Frankreich und den Kantonen Genf, Waadt und Wallis, hält fest, dass einer von vier Arbeitsplätzen in Genf (rund 83’000) von einer Person belegt wird, die in Frankreich lebt. Und die Zahl der Grenzgängerinnen und Grenzgänger steigt laufend, obwohl die Wirtschaft stagniert. Von den 10’000 zusätzlichen Grenzgänger-Bewilligungen (Ausweis G) des letzten Jahres wurden 4300 für Genf und 1400 für den Nachbarkanton Waadt ausgestellt.
«Genf kann seine Wirtschaft ohne Pendler und Grenzgänger nicht in Gang halten», sagt Véronique Kämpfen, Kommunikationsverantwortliche beim Westschweizer UnternehmerverbandExterner Link.
«Die Zunahme der G-Ausweise ohne Zunahme der Arbeitslosenrate [stabil bei 5,5%] zeigt, dass es der Wirtschaft eher gut geht, obwohl dies je nach Branche sehr unterschiedlich ist.» Die Kehrseite der Medaille sei, dass es schwierig sei, Genferinnen und Genfer für offene Stellen zu finden.
Tessin und 9. Februar 2014
Am 26. September hat das Stimmvolk des Kantons Tessin (350’000 Einwohner) entschieden, den Ortsansässigen auf dem Arbeitsmarkt einen Vorrang gegenüber Ausländern einzuräumen, um die Zahl der Angestellten aus dem benachbarten Italien einzudämmen. Täglich überqueren fast 70’000 Personen auf ihrem Arbeitsweg die Grenze zwischen Italien und dem italienischsprachigen Tessin.
Auch auf nationaler Ebene dominiert die Zuwanderungsfrage die politische Agenda, seitdem das Stimmvolk am 9. Februar 2014 eine Initiative «gegen Masseneinwanderung» knapp angenommen hat. Das Volksbegehren verlangt, dass die Schweiz die Zuwanderung selbständig mit Kontingenten, Höchstzahlen und einem Inländervorrang steuert, was aber im Widerspruch zum Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU steht.
Die grosse Parlamentskammer hat im September einem Umsetzungsvorschlag zugestimmt, der einen sanften Inländervorrang vorsieht. Arbeitgeber sollen verpflichten werden, offene Stellen den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) zu melden, aber erst, wenn bei der Zuwanderung gewisse Schwellenwerte überschritten wurden.
Eine «Zuwanderungskommission mit Vertretern der Kantone, des Bundes, der Sozialpartner und der Arbeitsämter soll festlegen, nach welchen Kriterien diese Werte festgelegt werden. Ein Kriterium wäre dabei die Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen, Branchen und Berufsgruppen. Die EU ist dem Vorschlag bisher skeptisch begegnet.
«Inländer-Vorrang»
Trotz ihrer Bedeutung für die Wirtschaft könnten Grenzgänger die neuen Richtlinien zum Schutz der lokalen Arbeitskräfte in Genf und im Tessin, wo die Grenzgänger im benachbarten Italien rekrutiert werden, zu spüren bekommen.
In Genf wurden 2014 Richtlinien erlassen, welche die 250 öffentlichen und staatsnahen Institutionen wie das HUG verpflichten, bei der Rekrutierung von Arbeitskräften den Inländern Vorrang zu geben (vgl. Infobox).
Derzeit sind 31% der 11’000 Stellen von Grenzgängern belegt. 2015 gab es 907 neue Anstellungen, 23% mit G-Ausweis.
HUG-Sprecher Nicolas de Saussure sagt, dass die Spitalverantwortlichen im Allgemeinen mit dem Rekrutierungsverfahren, das er als «intelligente» Variante bezeichnet, zufrieden seien. Es zwinge den Betrieben nicht lokale Kandidaten für Bereiche auf, in denen es auf dem lokalen Arbeitsmarkt nur wenige gebe.
«Am HUG geht es bei den meisten Rekrutierungen um Stellen im Pflegebereich – entweder Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachleute oder Pflegehelfer. Unter ihnen befinden sich nur wenige Schweizerinnen und Schweizer. Es gibt nicht genügend ausgebildete Leute in der Schweiz, um die Bedürfnisse des Gesundheitswesens zu decken», sagt er. «Das Problem sind eher die Ausbildungskapazitäten als ein Interessenmangel.»
«Selbstzensur»
Laut einem Bericht der Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» haben die Rekrutierungsvorschriften für öffentliche und staatsnahe Institutionen Nebenwirkungen auf den lokalen Arbeitsmarkt.
Grenzgänger – sowohl Schweizer wie Franzosen, die in Frankreich leben – fühlten sich im öffentlichen wie privaten Sektor gegenüber Inländern benachteiligt. Schuld daran seien die kantonalen Vorschriften.
Laut «Le Temps» üben diese indirekt Druck auf private Firmen aus und führten bei diesen zu «Selbstzensur».
Der Genfer Regierungsrat Mauro Poggia, Mitglied der populistischen Bürgerbewegung (MCG), sagt, dass die Vorschriften ihren Zweck erfüllten: «Wir haben [auf dem kantonalen Arbeitsamt] immer mehr offene Stellen aus dem Privatsektor.»
Die Debatte zu diesem Thema dürfte noch hitziger werden, nachdem die MCG und die Genfer Sektion der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei Anfang Oktober dem Kanton Tessin folgten und Vorschläge ankündigten, in der Kantonsverfassung einen Vorrang für Genferinnen und Genfer auf dem Arbeitsmarkt zu verankern – sowohl im öffentlichen wie im privaten Sektor.
Gewerkschaften, Französische Politiker und der Westschweizer Unternehmerverband haben diese Pläne öffentlich angefochten.
Die Grenzgänger-Debatte sorgt nicht nur in den Kantonen Genf und Tessin für hitzige Debatten, sondern auch auf nationaler Ebene, wo sich Regierung und Parlament seit fast drei Jahren mit der Umsetzung der Initiative «gegen Masseneinwanderung» schwer tun.
Genfer-Vorrang
Im Kanton Genf sind die Kantonsverwaltung und sämtliche Staats- und Regiebetriebe wie etwa das Unispital verpflichtet, offene Stellen im Falle von vergleichbaren Kompetenzen wenn möglich mit Genfer Arbeitslosen zu besetzen.
Nach seiner Wahl im Jahr 2013 zum Genfer Regierungsrat hat Mauro Poggia, der Mitglied des rechtspopulistischen Mouvement Citoyens Genevois (MCG) ist, diese Bestimmungen auf sämtliche vom Kanton subventionierten Betriebe und Institutionen ausgedehnt.
Diese rund 250 Institutionen müssen offene Stellen zuerst – nämlich zehn Tage bevor sie diese sonstwo ausschreiben – dem kantonalen Arbeitsamt melden. Und sie sind verpflichtet, mindestens fünf vom Arbeitsamt vorgestellte Kandidaten mit dem gesuchten Profil zu prüfen. Wenn sie keinen dieser Kandidaten, sondern einen Grenzgänger anstellen, müssen sie dies begründen.
Von den 835 Personen, die 2015 im Kanton Genf angestellt wurden, kamen 579 via Arbeitsamt.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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