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Stiehlt die Gewalt dem Fussball die Show?

Wenn König Fussball von der Gewalt in den Schatten gestellt wird. Reuters

Nach Auseinandersetzungen in Marseille zwischen russischen und britischen, sowie in Nizza zwischen polnischen und irischen Hooligans, bei welchen mehrere Dutzend Personen zum Teil schwer verletzt wurden, suchen einige Schweizer Medien in Kommentaren nach den Gründen für die Gewalt. Die Ausschreitungen würden das Fussballfest verderben und dieses zum Teil in den medialen Schatten stellen, schreiben sie.

Er habe von einer anderen Europameisterschaft geträumt, erzählt der Kolumnist der Westschweizer Tageszeitung La Liberté. Von einer Euro mit einem schönen Fest, wo der Sport König sei, von einer heilsamen Auszeit während eines Monats, vom einfachen Glück, zusammen zu sein, ohne Hass, Gewalt, Rassismus, sozialen oder religiösen Mief. «Eine süsse Utopie!»

Er habe sich «in diesem widerlichen Klima von terroristischer Bedrohung und sozialen Konflikten, welche Frankreich vergiften», so angestrengt, an den Traum zu glauben, dass er sogar mit seiner Frau und seinen drei Kindern nach Paris zu einer Euro-Partie gereist sei. Sein Glaube an die menschliche Natur, sein Vertrauen gegenüber Frankreich und dessen Sicherheitsmassnahmen hätten ihn ermutigt, die finsteren Betrachtungen zu überwinden.

«Was sehe ich nach nur drei Tournier-Tagen?», fragt der Kolumnist: «Anhänger, die sich abschlachten, Gewaltexzesse in Marseille, Nizza und sogar im Velodrom-Stadion.» Trotz Leibesvisitationen seien den Sicherheitskräften Rauchpetarden durchs Netz gegangen. «Und wenn es sich um Granaten oder Sprengstoffgürtel gehandelt hätte?»

In diesen Momenten rücke der Sport in den Hintergrund. Frankreich und die UEFA hätten sich so sehr auf die Risiken von Anschlägen und die sozialen Konflikte fixiert, dass der Hooliganismus vergessen gegangen sei. Dieses Krebsgeschwür tauche alle zwei Jahre an der EM oder WM auf, aus England, aus Russland und aus allen Nationen, aus denen diese degenerierten Gewalttätigen stammten.

«Ist es nicht unsere Gesellschaft, die für diese Entartungen gerade stehen muss? Eine Gesellschaft, in welcher der Graben zwischen Reich und Arm immer grösser wird, wo die Ausgegrenzten, die Arbeitslosen und Desillusionierten immer zahlreicher werden. Desillusionierte, die eine Lücke in extremen Verhaltensweisen finden, wie jene von Marseille und Nizza?», fragt La Liberté. 

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Sprite ja, Wasser nein

Auch der Kolumnist der Südostschweiz und des Bündner Tagblatts berichtet über seine eigenen Erfahrungen an der Euro. Er zieht andere gesellschaftspolitische Schlüsse daraus und beklagt sich darüber, dass ihm bei Sicherheitskontrollen Schokolade, Biskuits, Wasserflasche, ja sogar sein Lieblingsparfum, der Schirm, der Rasierer und das Duschmittel abgenommen worden seien. «Die Bediener der Scanner haben es nicht nur auf allfällige gefährliche Gegenstände abgesehen, sie machen auch Jagd auf anderes. Im Visier haben sie auch Lebensmittel.» Und er hat Zweifel an den offiziellen Informationen, wonach die beschlagnahmten Begehrlichkeiten vernichtet würden. «Falls nicht, bin ich überzeugt, dass mein Parfum von der Frau beziehungsweise der allfälligen neuen Freundin des Verwenders gelobt werden wird.» Bei allem Verständnis für den Sicherheitscheck komme ihm die Umsetzung der Kontrollen «Spanisch» vor. «Vor allem, wenn man wie mein Kollege eine Sprite-Flasche mit ins Stadion nehmen darf. Sein Süssgetränk wird halt vom Coca-Cola-Konzern vertrieben, einem der grossen Sponsoren der EM-Endrunde. Die Hersteller meiner Biskuits, meines Mineralwassers und meiner Lieblingsschokolade sind das nicht.»

Erbarmen mit den französischen Organisatoren der EM hegen hingegen die Luzerner und die Aargauer Zeitung. Es bleibe ihnen nichts erspart, heisst es in einem Kommentar mit dem Titel «Fussball ist mehr als Sport», der in beiden Zeitungen veröffentlicht wurde. «Zur Terrordrohung mit Ausnahmezustand gesellten sich heftige Sozialproteste. Kaum hat die EM begonnen, streiken auch noch die Air-France-Piloten. Und jetzt treten in Städten wie Marseille und Nizza äusserst gewalttätige Extremisten in Aktion, vor denen sogar die geübten englischen Hooligans Reissaus nehmen.»

Dabei gehe fast vergessen, dass auch noch Fussball gespielt werde. Das Fussball-Fieber wolle nicht recht steigen, eher herrschten Sorge und Angst. «Die laufende EM in Frankreich rückt ins Bewusstsein, dass Fussball nur noch sehr beschränkt eine Abwechslung vom Alltag bietet. Über dem ‹Fussballfest› in Frankreich liegt heute ein Schatten, gemacht aus all seinen sozialen, politischen und nationalen Umständen.»

Sollen die Fussballclubs für die Ausschreitungen gerade stehen müssen?

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