Wenn ein Schweizer Atomkraftwerk abgeschaltet wird
Am 27. November entscheidet das Schweizer Stimmvolk über die Forderung der Grünen, wonach Atomkraftwerke nach einer maximalen Laufzeit von 45 Jahren abgeschaltet werden müssen. Aber was bedeutet es konkret, wenn ein AKW stillgelegt wird? Welche Schwierigkeiten sind damit verbunden? swissinfo.ch zeigt dies am Beispiel des AKW Mühleberg auf.
Für die Schweiz ist es eine Premiere: Am 20. Dezember 2019 wird das Atomkraftwerk Mühleberg definitiv stillgelegt. Damit beginnt ein gänzlich neues Kapitel in der Geschichte der Atomkraft in der Schweiz. Erstmals wird ein Kernkraftwerk vollständig zurückgebaut.
«Es handelt sich um das umfangreichste Projekt, seit der Atommeiler vor über 40 Jahren gebaut wurde», sagt Sabrina Schellenberg, Sprecherin des Energieunternehmens BKW Energie AG, der Eigentümerin des AKW Mühleberg. Das Kernkraftwerk Mühleberg befindet sich im Kanton Bern in der gleichnamigen Gemeinde, rund 15 Kilometer von der Schweizer Hauptstadt entfernt. Es wurde 1972 in Betrieb genommen und liefert rund 5 Prozent des in der Schweiz konsumierten Stroms.
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«Die rechtlichen und administrativen Aspekte stellen die grösste Herausforderung dar. Es braucht viel Zeit, um die nötigen Unterlagen zusammenzustellen, das Projekt auszuarbeiten und die Stilllegungsverfügung zu erhalten. Die Rahmenbedingungen müssen eingehalten und alle interessierten Parteien beteiligt werden, das heisst von der direkt betroffenen Bevölkerung bis zum Kanton und den Bundesbehörden», sagt Sabrina Schellenberg. Sie betont zugleich, dass die BKW Energie AG schon 2013 begonnen habe, das ganze Verfahren aufzugleisen.
Die technischen Aspekte scheinen hingegen keine Schwierigkeiten darzustellen. «Wir wissen, was es bedeutet, ein AKW stillzulegen. Denn solche Stilllegungen sind im Ausland schon häufig erfolgt, vor allem in Deutschland», hält die BKW-Sprecherin fest.
2,1 Milliarden Franken sind nötig
Die Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg wird laut Berechnungen der BWK Energie AG rund 2,1 Milliarden Franken kosten: 800 Millionen Franken für den Prozess der Deaktivierung sowie 1,3 Milliarden für die Beseitigung der radioaktiven Abfälle. Gemäss Schweizer Gesetzen muss die Betreiberin die Gesamtkosten für Stilllegung und Rückbau tragen.
Wenn die Volksinitiative der Grünen «Für einen geordneten Atomaussteig» am 27. November 2016 sowohl von Volk wie Kantonen angenommen würde, müssten alle Schweizer Atomkraftwerke bis 2029 abgeschaltet und stillgelegt werden.
Die Gesamtkosten für diese Operation dürften gemäss einer Schätzung der Bundesbehörden von 2011 rund 20,6 Milliarden Franken erreichen. Atomgegner sind hingegen der Meinung, dass die Rechnung am Ende fünf Mal so hoch sein wird.
Aus Deutschland kommen daher auch die wichtigsten Ratschläge. «Die Sicherheit hat absolute Priorität. Aus diesem Grund erfolgt die Stilllegung von innen nach aussen. Die Gebäudehülle dient als Barriere, um jegliche Emission von Radioaktivität auszuschliessen», betont Werner Süssdorf, Projektleiter bei der Firma WAK für den Rückbau des Versuchsreaktors MZFR in Karlsruhe (Süddeutschland).
98 Prozent weniger Radioaktivität
Auch bei der Stilllegung des Atomkraftwerks Mühleberg hat ein Deutscher die Projektleitung übernommen. BKW-Ingenieur Stefan Klute erklärt, dass in einer ersten Phase die Kühlung des nuklearen Brennstoffs erfolgen müsse, das heisst der mit Uran gefüllten Brennstäbe. Bis Ende 2019 wird es im Inneren des AKW 240 solcher Brennstäbe geben. Jeder ist vier Meter lang und wiegt 270 Kilogramm.
Sobald die Brennstäbe abmontiert sind, kommen sie in ein Abklingbecken. Dort bleiben sie einige Jahre. «Wasser kühlt und stellt zugleich einen guten Schutz gegen radioaktive Strahlung dar», meint Stefan Klute. Dieser Vorgang sei nichts Aussergewöhnliches: «Es handelt sich um eine Routineoperation, die wir auch bei der jeder Jahresrevision vornehmen.»
Voraussichtlich im Jahr 2024 wird dann das abgekühlte Uran mit Lastwagen zum Zwischenlager für radioaktive Abfälle in Würelingen (Kanton Aargau) gebracht. Zu diesem Zeitpunkt werden rund 98 Prozent der Radioaktivität des AKW Mühleberg nicht mehr vorhanden sein. «Für die Bevölkerung besteht dann praktisch kein Risiko mehr», versichert Stefan Klute.
Rückbau auf engem Raum
Danach kann der eigentliche Rückbau des Reaktorgebäudes und des Reaktorkerns beginnen. Gemäss Martin Brandauer, Ingenieur beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT),Externer Link handelt es sich um die komplexeste Phase des gesamten Prozesses. Das KIT gehört zu den weltweit renommiertesten Kompetenzzentren für den Rückbau von Atomanlagen.
«Als vor 50 Jahren AKW gebaut wurden, hat niemand an ihre Stilllegung gedacht. Die alten Anlagen wurden aus Kosten- und Sicherheitsgründen extrem kompakt gebaut. Daher gibt es wenig Platz beim Abbau und der Dekontaminierung», erklärt Brandauer gegenüber swissinfo.ch
Neue Technologien helfen allerdings mittlerweile bei diesem Prozess. «Wir arbeiten beispielsweise mit virtueller Realität. Und wir entwickeln Roboter, um die Effizienz zu erhöhen und die Sicherheit für das Personal zu verbessern», sagt Martin Brandauer.
15 Jahre für Rückbau
Im Gegensatz zu einigen stillgelegten Atommeilern in den USA wird in Mühleberg auf einen «schnellen Rückbau» gesetzt. «Die Stilllegung eines solchen Siedewasserreaktors ist ein bekannter Prozess, und wir können daher direkt mit dem Rückbau beginnen. In anderen Fällen wird der Atommeiler zuerst für 40 bis 50 Jahre versiegelt, damit die verbleibende Radioaktivität sich auf natürlichem Wege verflüchtigt», hält Stefan Klute fest.
Die Vorteile eines schnellen Rückbaus liegen nach Meinung des BKW-Ingenieurs auf der Hand: «Wir müssen uns nicht damit beschäftigen, wie die politische und wirtschaftliche Situation in einem halben Jahrhundert aussehen wird. Wir möchten nachkommenden Generationen nicht ein solches Erbe hinterlassen. Und wir können auf die Erfahrung unserer eigenen Mitarbeitenden bauen.» Diesen Aspekt unterstreicht auch Martin Brandauer vom KIT: «Es hat stets grosse Vorteile mit Leuten zu arbeiten, die eine Kernkraftanlage bereits im Detail kennen.»
Die Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg wird zu rund 200’000 Tonnen Abfall führen. Der grösste Teil dieses Materials wird direkt vor Ort dekontaminiert, recycelt oder auf entsprechende Sonderdeponien gebracht. Der gesamte Stilllegungsprozess dürfte 15 Jahre dauern und 2034 abgeschlossen sein (eine Zusammenfassung im folgenden Video).
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So wird das AKW Mühleberg stillgelegt
Kritische Begleitung
Wird in Mühleberg alles problemlos ablaufen? Einige Umweltorganisationen sind der Meinung, dass es durchaus Komplikationen geben könnte. So betont Greenpeace, dass die Schweiz keine Erfahrung mit einem solchen Vorgang habe und keine klar vorgegebenen Prozeduren für die Stilllegung kenne. Greenpeace weist darauf hin, dass jedes Kernkraftwerk seine Eigenheiten habe. Die Erfahrungen in Frankreich und Deutschland zeigten, dass Zeitpläne und Budgets kaum eingehalten werden könnten.
Genau deshalb wird es nach Ansicht von Stefan Klute von BKW Energie von entscheidender Bedeutung sein, die Erfahrungen von anderen AKW zu verarbeiten und den gesamten Stilllegungsprozess zu optimieren: «Ein Fehler bei der Berechnung des Lüftungssystems oder der Beseitigung der Brennstäbe kann leicht zu einer Verzögerung von zwei bis drei Jahren führen.»
Gemäss der Schweizerischen Energie-Stiftung, die den Atomausstieg begrüsst, sind die von der BKW Energie AG vorgesehenen Massnahmen lobenswert. «Wir werden den gesamten Prozess aber durchaus kritisch begleiten», hält Direktor Jürg Buri fest. Dies sei auch wichtig, weil die Erfahrung von Mühleberg für die Betreiber der anderen Kernkraftwerke in der Schweiz von zentraler Bedeutung sein werde.
«Es ist wie bei der Bahn: Wir sind zwar nur für unseren Zug zuständig, aber wir verlegen die Gleise für die ganze Branche», mein Stefan Klute.
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Das Geschäft mit dem AKW-Rückbau
Weltweit sind momentan 450 Atomkraftwerke in Betrieb. Die Hälfte dieser Anlagen wird bis 2040 die maximale Betriebszeit erreicht haben und stillgelegt werden. Allein in Europa werden in den nächsten 10 bis 15 Jahren rund 50 AKW abgestellt und zurückgebaut.
Diese Schätzung stammt von Nukem Technologies, einem deutschen Unternehmen, das auf die Stilllegung nuklearer Anlagen spezialisiert ist. Allein die Kosten für die Deaktivierung der Anlagen werden auf 50 Milliarden Euro (rund 54 Milliarden Franken) veranschlagt.
Die Betreiber der Atomkraftwerke in der Europäischen Union gehen davon aus, dass bis 2050 Investitionen in Höhe von 250 Milliarden Euro (270 Milliarden Franken) für die Stilllegung von Nuklearanlagen und die Bewirtschaftung der radioaktiven Abfälle nötig sein werden.
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