Mussie Zerai spricht von Verleumdungskampagne
Gegen den in der Schweiz lebenden Pater Mussie Zerai ermittelt die italienische Staatsanwaltschaft von Trapani wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Im Gespräch mit swissinfo.ch spricht der "Engel der Flüchtlinge" von einer "Verleumdungskampagne gegen Menschen, die Solidarität leben". Zugleich ruft der Eritreer Europa auf, seine Verantwortung gegenüber den Migranten wahrzunehmen.
Er wird «Engel der Flüchtlinge» genannt und ist selber als Flüchtling nach Europa gekommen. 2015 wurde er für den Friedensnobelpreis nominiert. Seit Jahren engagiert sich Mussie Zerai für Flüchtlinge, die über die Mittelmeerroute nach Europa gelangen. Viele in Seenot geratene Migranten rufen seine Mobiltelefonnummer an, um ihre GPS-Position durchzugeben und Hilfe anzufordern.
Doch nun ist Pater Mussie, der in der katholischen Pfarrei von Erlinsbach im Kanton Solothurn tätig ist, ins Visier italienischer Ermittler geraten. Die Staatsanwaltschaft von Trapani auf Sizilien hat im November 2016 eine Strafuntersuchung eröffnet. Mussie versichert, erst vor wenigen Tagen, am 8.August, davon erfahren zu haben. Ermittelt wird wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung.
swissinfo.ch: Sie werden verdächtigt, zwischen Bootsflüchtlingen und im Mittelmeer aktiven Nichtregierungs-Organisationen (NGO) vermittelt zu haben. Wie reagieren Sie auf diese Vorwürfe?
Mussie Zerai: Es handelt sich um eine regelrechte Verleumdungskampagne gegen mich. Ich hatte nie einen direkten Kontakt mit dem Schiff des Vereins Jugend RettetExterner Link (das Rettungsschiff Iuventa wurde im August 2017 von der italienischen Staatsanwaltschaft beschlagnahmt; Anm.d.Red.). Es gab auch keine geheimen Chats, so wie es einige Zeitungen geschrieben haben. Leider beobachte ich seit einigen Monaten eine politische und mediale Kampagne gegen alle NGO, die Solidarität mit den Flüchtlingen und Migranten zeigen, die Europa erreichen wollen. Auf diese Weise wird die humanitäre Hilfe geschwächt.
Keine Strafuntersuchung in der Schweiz
Auf Anfrage von swissinfo.ch erklärt die Bundesanwaltschaft in Bern, «dass im Moment kein Strafverfahren in besagtem Kontext (Mussie Zerai) hängig ist». Auch aus Italien sei kein Rechtshilfegesuch eingegangen.
swissinfo.ch: Welche Art von Kontakten pflegen Sie mit NGO, die im Mittelmeer aktiv sind?
M.Z.: Wenn ich Anrufe von Migranten erhalte, informiere ich zuerst die italienische Küstenwache und die Einsatzzentrale auf Malta. Mit den NGO korrespondiere ich via Mail. Ich übermittle Informationen an vier Organisationen: Ärzte ohne Grenzen, Sea Watch, Moas und Watch the Med. Es sind die Infos, die ich auch den Küstenwachen und dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge gebe. Ich habe nie irgendetwas verheimlicht. Alles geschieht vollkommen transparent.
swissinfo.ch: Teilen Sie die Auffassung, dass es keinen direkten Kontakt zwischen Migranten und Nichtregierungs-Organisationen geben sollte, damit deren Schiffe nicht zu Fähren für Flüchtlinge nach Europa werden?
M.Z.: Die Forderung, dass Migranten keinen Kontakt zu NGO haben sollen, ist vollkommener Blödsinn. Diese Organisationen existieren ja gerade, um Menschen zu helfen, die sich in Schwierigkeiten befinden. Natürlich dürfen die Hilfsschiffe der NGO nicht zu Taxi-Booten werden, die Flüchtlinge nach Europa bringen. Aber darum geht es ja nicht.
swissinfo.ch: Um was geht es also?
M.Z.: Die Nichtregierungs-Organisationen füllen eine Lücke aus, welche die europäischen Staaten geschaffen haben. Hätte Europa die im Oktober 2013 begonnene und ein Jahr später beendete Operation «Mare NostrumExterner Link» weiter geführt und intensiviert, dann hätte es gar keinen Bedarf für einen Einsatz von NGO im Mittelmeer gegeben. Die fehlende Solidarität zwischen europäischen Staaten genauso wie der fehlende Willen für eine gemeinsame Verantwortung im Umgang mit den Flüchtlingen erfolgt auf dem Rücken dieser verzweifelten Menschen. Die Rettung von Migranten im Mittelmeer ist eine Aufgabe der europäischen Staaten, nicht der NGO.
swissinfo.ch: Bedeutet dies, dass die Grenze zwischen Solidarität und Kriminalität allenfalls fliessend ist?
M.Z.: Keinesfalls. Es gibt einen klaren Unterschied. Wer Menschen rettet, die in Lebensgefahr sind, verübt einzig einen Akt der Solidarität.
swissinfo.ch: Nun wird über den von der italienischen Regierung erarbeiteten Verhaltenskodex für die NGO diskutiert. Der Flüchtlingsstrom ebbt derweil nicht ab. Wie ist die Situation im Moment gemäss Ihren Informationen?
M.Z.: Es gibt immer mehr Hürden. Für Flüchtlinge und Migranten wird es immer schwieriger, sicherte Orte zu erreichen, wo sie Schutz erhalten und Asyl beantragen können. Ich denke hier etwa an den Khartum-Prozess oder den Valletta-Aktionsplan. Auf Grund dieser Hürden ist die Zahl ankommender Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr gesunken.
Doch das bedeutet nicht, dass die Menschen nicht mehr flüchten. Viele befinden sich in Flüchtlingslagern irgendwo im Niemandsland oder in Internierungslagern in Libyen. Andere sterben in der Wüste. Man schliesst die Tore, doch man vergisst, dass hinter den Toren Leute stehen, die missbraucht, gefoltert oder vergewaltigt werden.
swissinfo.ch: Was schlagen Sie vor?
M.Z.: Das Problem lässt sich nicht durch Hilfsaktionen im Mittelmeer lösen. Es braucht eine radikale Reform des europäischen Systems, um Flüchtlinge aufzunehmen. Man muss auch in den Herkunftsländern aktiv werden und die Gründe der Flucht bekämpfen.
Ganz generell bin ich der Meinung, dass wir menschlich bleiben müssen, mit einem Sinn für Gerechtigkeit und Solidarität. Die Geschichte lehrt uns, dass nicht alles, was legal ist, auch richtig ist. Die Gerechtigkeit ist wichtiger als die Legalität.
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Mussie Zerai
Mussie Zerai wurde 1975 als fünftes von acht Geschwistern in Asmara (Eritrea) geboren. Er studierte in Rom Theologie und Philosophie. Nach seinem Studium begann er, Flüchtlingen zu helfen, die von Afrika über das Mittelmeer nach Italien gelangten.
Im Jahr 2006 gründete er gemeinsam mit einigen Freunden die Agentur «HabeshiaExterner Link» für Kooperation und Entwicklung. Ziel dieser Agentur ist es, Migranten und Flüchtlingen in bürokratischen Fragen zu helfen und ihre Eingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern.
2010 wurde er zum katholischen Priester geweiht und trat dem Orden der Scalabrinianer bei. Er ist seither das Sprachrohr von Tausenden von Flüchtlingen, die ihr Land verlassen mussten. Er prangert Menschenrechtsverletzungen an, denen die Flüchtlinge ausgesetzt seien. 2015 war er für den Friedensnobelpreis nominiert.
Seit 2012 lebt Pater Mussie in der Schweiz. Er wirkt in Erlinsbach (Kanton Solothurn), von wo aus er die Seelsorge für in der Schweiz lebende Eritreer und Äthiopier betreibt.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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