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«Ist Katar bereit für die Welt? Ich glaube nicht!»

Auslandschweizer-Familie vor der Skyline von Doha
Die fünfköpfige Familie von Brigitte Gonzalez* vor der Skyline Dohas: Die Auslandschweizerin möchte unerkannt bleiben – zu gross ist die Angst vor möglichen Problemen. zVg

Noch 20 Tage bis zum Anpfiff der Fussball-Weltmeisterschaft in Katar. Wie lebt es sich als Schweizer:in in einem Land, das die Meinungsfreiheit einschränkt und im Vorfeld der WM so stark kritisiert wurde? Die Lehrerin Brigitte Gonzalez* gibt uns Einblick in eine Kultur, die sie oft als Herausforderung empfindet.

«Ich lebe am Persischen Golf, weil ich vor sechs Jahren ein Jobangebot aus Katar erhalten habe. Von der Swiss International School. Ausser dem Namen hat die Schule aber nichts mit der Schweiz zu tun. Sie wird hier gerne für Marketing-Zwecke verwendet. Mittlerweile arbeite ich als Lehrerin an einer katarischen Schule.

Ich habe schon in Kanada, Grossbritannien, Tschechien, oder Zypern gelebt. Geboren bin ich in der Schweiz und habe meine ersten fünf Lebensjahre in Zürich verbracht. Danach sind wir wegen der Arbeit meines Vaters alle drei bis vier Jahre umgezogen. In Südamerika habe ich schliesslich mein Studium absolviert, meinen Mann kennengelernt und eine Familie gegründet.

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Eigentlich ist es unser Traum, irgendwann in die Schweiz zurückzukehren. Wir haben aber noch nicht herausgefunden, wie wir das angehen könnten. Bis dahin wollen wir unseren drei Kindern den Lifestyle bieten, den ich als Kind lebte.

Familie unter der Schweizer Flagge in Doha, das für die Fussball-WM geschmückt wurde.
Die «Flag Plaza» ist eine neue Kunstinstallation in Doha. Unter den 119 Flaggen ist eine Begegnungszone für die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt entstanden. zVg

Ein wesentlicher Grund, warum sich mein Mann vor sechs Jahren auf das Abenteuer Katar einliess, war die Fussball-Weltmeisterschaft. Und jetzt geht es nicht einmal mehr einen Monat und die Stimmung hier ist fantastisch. Alle sprechen vom Turnier, überall wird die WM-Hymne gespielt, die Shops verkaufen Fan-Artikel, egal, wo man hinschaut – die WM-Vorfreude ist riesig.

Auch bei den Katarerinnen und Kataren. Ob sie bereit dafür sind, dass die ganze Welt in ihr Land strömt? Ich glaube nicht. Katar ist eine Blase. Die hiesige Kultur ist wohl auch die grösste Herausforderung in unserem Leben in Katar. Obwohl ich schon in ganz vielen verschiedenen Kulturen gelebt habe.

Es fällt mir schwer, eine Balance zu finden. Auf der einen Seite, zwischen mir selbst zu sein und zu bleiben. Und auf der anderen Seite, respektvoll mit der katarischen Kultur umzugehen. Letzteres steht sogar als Klausel in meinem Arbeitsvertrag.

Die Einheimischen sind sehr reserviert. Und sie haben überhaupt kein Problem, einem zu sagen, was man zu tun oder zu lassen hat. Es wird etwa nicht gerne gesehen, wenn man sich berührt. Mein Mann und ich wurden auch schon in einem Kaffee zurechtgewiesen, weil wir einander die Hand hielten.

Ich erhoffe mir, dass die Fussball-Weltmeisterschaft dem Land eine Veränderung bringt. Doha wird für die nächsten Wochen im Scheinwerferlicht stehen. Ich frage mich, was sie machen wollen, wenn Touristinnen etwa die Schultern nicht bedecken oder sich Fussball-Fans in der Öffentlichkeit küssen.

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Auch Alkohol ist in Katar ein Thema. Wenn man mal ein Glas Wein oder ein Bier trinken will, muss man das in den eigenen vier Wänden, bei Freunden oder in einem Hotel tun. In der Öffentlichkeit ist es nicht erlaubt. Um Alkohol zu kaufen, benötigt man eine Lizenz, und man kann Alkohol nur in einem einzigen Laden kaufen. Es gibt auch klare Regeln, wie viel Geld man für Alkohol ausgeben darf – nämlich maximal 24% des Monatseinkommens. Das mag nach viel klingen. Aber 24 Büchsen Bier kosten hier locker 120 Dollars.

Das Leben in Katar ist teuer, fast so teuer wie in der Schweiz. Aber man verdient hier sehr gut, und wir erhalten viele Zusatzleistungen. Die Schulgebühren meiner Kinder werden übernommen, wir können gratis wohnen, die Krankenversicherung wird bezahlt und einmal im Jahr erhalten wir Gratis-Flugtickets, um nach Hause zu fliegen.

Junge im Park in Doha - die Trottoirs sind klimatisiert.
Das jüngste Familienmitglied trotzt der Hitze: In Katar gibt es Parkanlagen mit klimatisierten Spazierwegen. zVg

Ich finde es nicht fair, dass Katar so stark in der Kritik steht. Jede Fussball-Weltmeisterschaft hatte ihre Probleme. Und oft überspitzen die Medien die Situation vor Ort. Klar, das Land wurde von den Arbeitern aufgebaut und ziemlich sicher wurden sie von der Oberschicht nicht gut behandelt.

Aber über die Toten und die Arbeitsbedingungen in Doha habe ich nicht genügend Informationen, um das hier zu kommentieren. Was ich kommentieren kann, ist der Umgang mit Corona in den letzten Jahren. Und ich finde, Katar hat das sehr gut gemacht.

Dass das Turnier jetzt im November/Dezember stattfindet, ist zeitlich nicht ideal. Hätte es aber im Juni stattgefunden, wäre es wegen der Temperatur nicht zum Aushalten gewesen. Das Wetter im November ist wunderschön. Wir haben Tickets für alle Schweiz-Spiele. Das Land meines Mannes hat sich leider nicht qualifiziert. Es wird bestimmt ein grossartiges Erlebnis.»

*der Name wurde auf Wunsch der Protagonistin geändert. Sie befürchtet wegen ihren Aussagen negative Konsequenzen. SWI swissinfo.ch berichtet nur in Ausnahmefällen in anonymisierter Form. Gemäss unseren Richtlinien müssen «Gründe für eine Anonymisierung berechtigt, erklärt und somit nachvollziehbar sein«.


Katar sieht sich seit der WM-Vergabe mit heftiger Kritik konfrontiert. Zwar haben sich die Bedingungen für Wanderarbeiter:innen seit dem Austragungsentscheid des Weltfussballverbandes FIFA verbessert. Aber die Kritik reisst nicht ab.

Einen Monat vor Anpfiff der Fussball-WM hat Amnesty International einen neuen BerichtExterner Link publiziert, indem die NGO noch vor dem WM-Start von Katar und dem Fussballverband Fifa drastische Verbesserungen fordert. Die Missstände sind laut Amnesty International noch lange nicht behoben: Homophobe Gesetze, Einschränkungen der Pressefreiheit und arbeitsrechtliche Mängel.

«Tausende Arbeitsmigrant:innen stehen weiterhin vor dem Problem, dass ihre Löhne verspätet oder gar nicht bezahlt werden, ihre Ruhetage gestrichen und ein Jobwechsel verunmöglicht wird. Sie haben kaum Möglichkeiten, sich gegen diese Verstösse rechtlich zu wehren», schreibt Amnesty International. Zudem seien die Todesfälle von tausenden Arbeitsmigrant:innen in Katar ungeklärt.

Im Land am Persischen Golf leben rund 3 Millionen Menschen, wovon allerdings nur 15% Kataris sind. Den Hauptteil der Bevölkerung machen Arbeitsmigrant:innen ohne katarische Staatsbürgerschaft aus. Das Land hat eine der höchsten Ausländer:innenquote der Welt.

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