Nach den Attentaten von Paris: Gratwanderung zwischen Sicherheit und Freiheit
Die Schweizer Sonntagspresse zeigt sich solidarisch mit Frankreich, das in der Nacht auf Samstag von barbarischen Terroranschlägen mit 129 Toten und mehr als 350 Verletzten getroffen wurde. Die Kommentatoren sind sich einig, dass das Drama von Paris kein Schlusspunkt des terroristischen Horrors darstellt.
«Eines ist sicher, es gibt Krieg. Der französische Präsident François Hollande kann gar nicht anders als losschlagen. Ohne rasche, sichtbare militärische Erfolge gegen den Islamischen Staat trauen die Franzosen ihm nicht mehr zu, ihnen Sicherheit zu geben», schreibt die SonntagsZeitung und prophezeit eine weitere Radikalisierung junger Männer: «In den trostlosen Vorstädten von Paris, aber auch in der Schweiz, wo der Nachrichtendienst immerhin auch 200 gefährliche Extremisten identifiziert hat. Sicherheit wird auch hier wichtiger, die Bedenken gegen den Überwachungsstaat werden zweitrangig, und man wird den Kompetenzausweitungen für den Sicherheitsdienst zustimmen müssen. Es wird wieder Grenzkontrollen geben, und die Freiheit des Einzelnen wird eingeschränkt, ob es einem passt oder nicht.»
«Security first», das sei die «traurige Erkenntnis nach einem traurigen Tag in Paris», bilanziert die SonntagsZeitung: «Keine schönen Aussichten für uns, die wir die Freiheit lieben. Bleibt nur zu hoffen, dass die Verantwortlichen nicht blind vor Wut vorgehen wie nach 9/11, sondern mit kluger Umsicht. Sonst haben die Terroristen ihren Krieg gewonnen.
Erhöhte Alarmbereitschaft
Die Anschläge in Paris haben in der Schweiz Bestürzung ausgelöst. Die Fahnen auf dem Bundeshaus wehen auf Halbmast. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga verurteilte am Samstag den Terror aufs Schärfste. Die Sicherheitskräfte verstärkten ihre Wachsamkeit und ihre Präsenz.
«Ich bin schockiert, traurig und wütend», sagte Sommaruga vor den Medien in Bern. Die Attacken hätten «Paris, Europa und die ganze Welt erschüttert». Die Angriffe richteten sich gegen die Grundwerte der Gesellschaft. Die Schweiz sei in Gedanken bei Frankreich.
Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle sagte, die Zusammenarbeit mit den französischen Behörden sei eng. «Wir sind auch in Paris vor Ort.» Die Schweizer Sicherheitsbehörden seien wachsam und würden die Situation laufend neu beurteilen. Konkret seien die Grenzkontrollen an den Übergängen zu Frankreich punktuell verstärkt worden.
Poröse Grenzen
Ohne «ein Mehr der Methoden, die in den USA nach 9/11 entwickelt und umgesetzt worden sind», lasse sich die Sicherheit in Europa nicht verbessern, schreibt die NZZ am Sonntag: «Es wird mehr Überwachung geben müssen, mehr Datenerfassung, mehr Staatstrojaner, mehr Verdächtigenlisten, mehr polizeiliche Kontrollen; die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Europa muss verbessert werden.» Das bringe auch «gewisse bedauerliche Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, die den Westen auszeichnen» mit sich, «aber die Alternative wäre, dass man die Schreckensbilder aus Paris in regelmässigen Abständen zu sehen bekommt. Das wäre nicht zu ertragen.»
Denn, «dass sich der Westen seit Mitte der neunziger Jahre in einer Art niederschwelligem Krieg gegen den Terrorismus befindet, dürfte nun allen klar sein. Weil es den USA nach 9/11 gelungen ist, einen gewaltigen und ziemlich effizienten Sicherheitsapparat aufzubauen, sind dort Akte des Terrorismus aber viel seltener geworden».
Das habe die «Aggressionen der Feinde des Westens Richtung Europa gelenkt. Europa mit seinen offenen Gesellschaften, seinen porösen Grenzen, seiner zunehmend multiethnischen Bevölkerung, seiner immer noch mangelhaften Koordination in Sicherheitsfragen macht es Terroristen einfacher, sich einzunisten und hier ihre Untaten zu planen».
Zudem müsse man davon ausgehen, so die NZZ am Sonntag, «dass sich unter den vielen Flüchtlingen, die gegenwärtig ankommen, auch vereinzelt potenzielle Terroristen befinden. Die Gefahr von Anschlägen dürfte in Europa insgesamt also eher zu- als abnehmen. Das gilt auch für die Schweiz».
9/11: Freiheit hat Schaden genommen
«Die Motive der Attentäter von Paris sind durchsichtig: Sie wollen in Europa Hass säen und so die Grundlage unserer offenen, demokratischen, toleranten Gesellschaft sprengen. Darum haben die Barbaren ihre Bomben da gezündet, wo ganz normale Menschen ihr Leben geniessen: an einem Konzert, bei einem Fussballstadion, vor Strassencafés», schreibt die Schweiz am Sonntag.
Mehr «Staatsmacht, mehr Überwachung und Einschränkung von Bürgerrechten» sie allerdings keine Lösung: «Das war schon die Reaktion auf 9/11. Die Sicherheit hat das nicht wirklich verbessert, die Freiheit aber hat Schaden genommen. Gestern wurde in Paris publik, dass ein Terrorist dem Geheimdienst bekannt war – das hat die Tat nicht verhindert. Die Geschichte Europas zeigt, dass wir gut fahren, wenn wir nicht vorschnell Freiheitsrechte opfern».
«Die Anschläge des Islamischen Staats (IS) fallen in eine Zeit, wo viele Menschen aus muslimischen Ländern nach Europa fliehen», so die Schweiz am Sonntag: «Zuallererst: Wir dürfen diese Flüchtlinge nicht unter Generalverdacht stellen, Opfer und Täter nicht verwechseln. Die meisten Asylbewerber aus Syrien und dem Irak fliehen vor dem IS, also vor denselben Unmenschen, die in Paris getötet haben. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in Europa eine zum Teil naive Asyl- und Grenzpolitik betrieben wird und dass potenzielle Islamisten leichtes Spiel haben, sich einzuschleusen. Toleranz darf nicht in Naivität münden.»
Streitmacht mit UNO-Mandat
Grenzkontrollen
Der Schweizer Verteidigungsminister Ueli Maurer hat sich nach den Anschlägen in Paris für stärkere Kontrollen an der Grenze ausgesprochen. «Jetzt ist die Massnahme, wieder Grenzkontrollen einzuführen, notwendig», sagte er in Interviews mit mehreren Sonntagszeitungen. «Wir dürfen uns aber keine Illusionen machen, wir haben so viele Grenzübergänge, eine hundertprozentige Kontrolle ist nicht möglich. Aber es wäre ein deutliches Signal.»
Anschläge in der Schweiz könnten aber «nicht generell und für immer» verhindert werden, sagte er weiter. Dank Nachrichtendienst, Polizei und Datenaustausch seien aber immerhin schon «einige Anschläge verhindert» worden.
«Die Blutnacht von Paris sei kein Schlusspunkt, vielleicht schon morgen nicht einmal mehr der Höhepunkt des terroristischen Horrors. Sie ist ein Anfang, eine zynische Mitteilung: Wir führen einen globalen Krieg. Der Jihad ist endgültig nichts mehr, was im fernen Arabien stattfindet. Paris ist Kriegsschauplatz, ist Front, so wie es morgen London und Moskau und andere europäische oder amerikanische Metropolen sein können», schreibt die Ostschweiz am Sonntag und ortet den Grund für die «Ausweitung des Terrorkrieges» im Umstand, dass der Islamische Staat «in seinen Stammlanden in Syrien und Irak militärisch unter Druck – aber längst nicht am Ende» sei. Deshalb reagierten die «Terrorstrategen mit kaltem Zynismus. Sie tragen den Krieg an die Heimatfront der Angreifer, versuchen den Feind an möglichst vielen Fronten zu beschäftigen».
«Der Westen ist herausgefordert und bedroht. Auch seine freiheitlich-demokratische Struktur» so die Ostschweiz am Sonntag. «Gefordert aber sind auch die internationalen und regionalen Mächte im Nahen und Mittleren Osten – jene, die versuchen, in Syrien eine politische Lösung zu finden, und jene, die den Krieg mehr oder weniger verdeckt schüren.» Eine politische Lösung «oder gar Frieden» setze verhandlungsbereite Konfliktparteien voraus. «Die Jihadisten jedoch verschliessen sich jeder Politik. Sie kennen nur die Sprache der Gewalt. Wer sie bekämpfen will, muss es tun. Nicht allein aus der Luft und nicht allein im Vertrauen darauf, Kurden und gemässigte Rebellen würden der Weltgemeinschaft die Kohlen aus dem Feuer holen können. Es ist höchste Zeit, in Syrien und Irak eine Streitmacht unter UNO-Mandat ins Feld zu schicken – eine Kampftruppe, in der die westlichen Mächte und Russland gemeinsam die Schlacht gegen den religiös verbrämten Faschismus der Jihadisten kämpfen wie einst gegen die Nazi im Zweiten Weltkrieg.»
Gerede von Sicherheit
«Noch bevor dem letzten Verletzten der Anschläge in Paris ein Verband angelegt wurde, gingen die Regierungschefs nächtens vor die Kameras, drückten ihr Bedauern aus und betonten, dass unsere demokratischen Werte unverrückbar seien», schreibt der Kommentator der News-Plattform Watson: «Die Versammlungs-, und die Meinungsfreiheit sind zwei dieser Werte. Diese Werte sind es, die der IS bekämpft und die er uns, mit Mitteln des Terrors und der Verbreitung von Ängsten, nehmen will.»
Doch um diese Werte hochzuhalten «werden wir, so schmerzhaft es ist, lernen müssen, mit Terrorangst umzugehen. Denn alles Gerede von einer absoluten, militärisch garantierten Sicherheit, ist – 15 Jahre nach 9/11, nach dem Irak-Krieg, nach dem Einmarsch in Afghanistan, nach dem Bombardement von Libyen, nach dem Tod Bin Ladens und nach dem Drohnen-Dauerbeschuss in Wasiristan – Makulatur»
Terroristen unter Asylbewerbern?
Der Schweizer Staatssekretär für Migration, Mario Gattiker, reagiert auf Befürchtungen, dass sich unter einreisenden Asylsuchenden auch Terroristen befinden könnten. Alle Asylsuchende, die den Kantonen übergeben werden, seien registriert und identifiziert worden, sagte er im Interview mit der SonntagsZeitung.
«Die Behörden überprüfen alles, was möglich ist», sagte er auf die Frage, ob man sicher sein könne, dass keine Terroristen Asyl erhalten. Heikle Dossiers würden zudem dem Nachrichtendienst zur Überprüfung vorgelegt. Das gesamte Vorleben von Asylbewerbern könne jedoch nicht ausgeleuchtet werden. Zahlen, gegen wie viele Personen ermittelt wird, nannte er nicht.
Gegen Vergeltung
Dennoch, so Watson, «mehren sich, wie inzwischen nach jedem Attentat, die Stimmen des Zorns, die vor allem nach totaler Sicherheit verlangen. Der ausrangierte französische Staatschef Nicolas Sarkozy setzt sich unverhohlen mit der Forderung nach dem totalen Krieg gegen den IS in Szene. Und es ist davon auszugehen, dass weitere politische Kleingeister wie einst George W. Bush auf die Trümmer oder den Schauplatz steigen und Vergeltung fordern. Wer sich aber jetzt, im Namen scheinbarer Sicherheit, für totale Überwachung und für die Beschränkung unserer Rechte stark macht, verfolgt, ob gewollt oder nicht, die gleichen Ziele wie der IS: Die totale Bekämpfung der toleranten, offenen Gesellschaft und ihrer Werte. Unsere Freiheit wird nicht am Hindukush verteidigt, sondern in unseren Köpfen».
In einer Sonderausgabe schreibt die Westschweizer Zeitung Le Temps: «Frankreich stand uns noch nie so nahe. Es scheint, wie wenn unsere Brüder und Schwestern unter den Schüssen dieser Nacht umgekommen sind.»
Die Terroristen hätten diesmal weder die Armee, noch Politiker, noch andere spezifische Ziele angegriffen, sondern den jedermann. «Wir nehmen mit Entsetzen zur Kenntnis, dass die Terroristen nicht lediglich fragile menschliche Wesen angreifen, aber auch unsere Art und Weise des Zusammenlebens. Sie richten ein Chaos an, um die Demokratie zu besiegen.»
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