Schweizer Künstler erkunden Zukunft vom Mai 68
Die Brüder Cyril und Grégory Chapuisat statten die Bühne des Théâtre des Amandiers in Nanterre aus, wo 1968 alles begann. Massimo Furlan und Claire de Ribaupierre nutzen dieses Dekor für die Ausrichtung ihres Marathonspektakels "Les Héros de la pensée" (Die Helden des Denkens).
Nanterre. Ein grosser, trauriger Campus. Hier begann am 22. Mai 1968 der französische «Mai 68». 150 Studenten, angeführt von Daniel Cohn-Bendit besetzten damals den Verwaltungsturm der Universität. Sie forderten die Freilassung von Aktivisten des «Vietnam-Komitees», die wegen Steinwürfen gegen den Sitz von American Express festgenommen worden waren. Ausserdem verlangten sie, dass sich junge Frauen und Männer während der Nacht frei bewegen und treffen dürfen.
Am 29. Mai 1968 reisten die protestierenden Studierenden aus Nanterre nach Paris, um ihre Mitstreiter an der Sorbonne bei der Besetzung der bekannten Universität zu unterstützen. Die Revolte nahm ihren Anfang.
Zum Gedenken an den «Mai 68» in Frankreich, und um den Boden für neue Utopien zu bereiten, wandte sich das Théâtre des Amandiers aus Nanterre an Kunstschaffende aus der Schweiz. Nun stehen auf der Theaterbühne riesige Strukturen aus Holz, entworfen von den Gebrüdern Chapuisat.
Sind es Hütten? Oder Wachtürme, mit denen die Unterdrückung im Mai 1968 ausgedrückt werden soll? «Die Installationen sind von den märchenhaften Felskaminen in Kappadokien inspiriert. Für uns stellen sie utopische, imaginäre Welten dar», antwortet Grégory Chapuisat.
Gedankenmarathon
Die ursprüngliche Idee war, die natürlichen Felssäulen der Türkei, die bei den Chapuisats einen tiefen Eindruck hinterliessen, realistischer zu reproduzieren. «Aber aus Budget- und Sicherheitsgründen gingen wir von Plan A zu Plan B über, dann zu C und schliesslich zu D wie ‹dunkel›: Wir mussten das Holz feuerfest machen, es schwarz streichen.» Das alles führte zu einem ziemlich beunruhigenden, fast apokalyptischen Ergebnis.
SEHEN: Das Feenkamin-Dorf der Brüder ChapuisatExterner Link (Village Hoodoo) ist im Rahmen des Festivals «Mondes possibles» bis zum 26. Mai auf der grossen Bühne des Théâtre des Amandiers, in Nanterre zu sehen.
LESEN: «Les héros de la pensée»Externer Link von Massimo Furlan und Claire de Ribaupierre, erschienen im Verlag Les presses du réel.
Ideal als Dekor für das Werk von zwei anderen Kunstschaffenden aus der Schweiz, etwa gleich «verrückt» wie die zwei Chapuisat-Brüder: Massimo Furlan und Claire de Ribaupierre. An einem Samstagnachmittag Mitte Mai um 14 Uhr markierte der sonore Klang eines Gongs den Auftakt zum Theatermarathon «Héros de la pensée». Auf der Bühne rund ein Dutzend Forschende, Anthropologen, Historiker, Philosophen und Kunstschaffende, die sich für den «Mai 68» und dessen aktuelle Resonanz interessieren.
Als Zeremonienmeisterin gibt Claire de Ribaupierre, ganz in Schwarz gekleidet, die auf dem Zufallsprinzip fussende Ausrichtung der Debatte bekannt: «A wie Anarchisten». Massimo Furlan singt das Wort auf seine Art, kindisch und leicht närrisch. Darauf nehmen die in karierten Dreiteilern gekleideten Teilnehmer, die Überlebende der Apokalypse repräsentieren sollen, ihr Gespräch auf. Sie erinnern an jene fernen Zeiten, an das 20. und 21. Jahrhundert, als die «Emanzipation des Individuums durch das Kollektiv verlief».
Um 15 Uhr folgt das nächste Wort, «B wie Banderole», um 16 Uhr «C wie Camp». Was ihn interessiere, erklärt Massimo Furlan, sei, «was mit einem Ausdruck passiert, wenn dieser sich dem akademischen Kontext entzieht, sich befreit und Materie, Performance wird.»
«Sie gedenken dem Mai 68, wir machen weiter»
Die Besucher und Besucherinnen kommen und gehen. Wir nutzen die Gelegenheit zu einem kleinen Rundgang durch die einige hundert Meter entfernt gelegene Universität. Was erinnert auf dem verlassenen Campus an den «Mai 68»? Einige Studierende wachen vor dem Gebäude E. Ein rotes Transparent zeigt ihre Gedanken: «Sie gedenken dem Mai 68. Wir machen weiter.»
«Wir sind nicht die Erben vom Mai 68», bekräftigt der Psychologiestudent Anas. Zusammen mit anderen Studierenden besetzt Anas seit einem Monat das Gebäude E, aus Protest gegen das von Präsident Emmanuel Macron und seiner Regierung neu eingeführte Zulassungs- und Aufnahmeverfahren für ein Studium.
Anas hat nur begrenzten Respekt für seine berühmten Vorkämpfer. «Schauen Sie doch, was aus Cohn-Bendit und den anderen geworden ist: Liberale, Pro-Macrons!», sagt er. Am 9. April waren die Polizeikräfte eingeschritten, um das besetzte Gebäude zu räumen. «Seither schlossen sich uns Studierende an, die bisher kaum politisiert waren», freut sich Anas, der bereit ist, gegen die «Faschos» zu kämpfen.
Müde Helden
Doch zurück zum Théâtre des Amandiers. Nach einem Marathon von 26 Stunden sind die «Helden des Denkens» müde. Die Unterhaltung hatte die ganze Nacht angedauert, die Intellektuellen hatten sich einige Momente Schlaf gegönnt, in kleinen Zelten, wie in einem Biwak in den Bergen. Einige unter den Zuschauern und Zuschauerinnen schlossen sich ihnen auf der Bühne an, andere schauten von der Tribüne aus zu, hingerissen von dieser halb intellektuellen, halb künstlerischen Aufführung.
Claire de Ribaupierre gibt das letzte Wort bekannt: Z wie «Zone». Eine Katastrophenzone oder eine Zone, die es zu verteidigen gilt. Man spürt, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind erleichtert, dass die Erfahrung zu Ende geht, und stolz, die Welt neu gestaltet zu haben. Einer von ihnen räumt ein, sie seien etwas über das Wort «Möwe» (goéland) gestolpert.
Ende Mai werden die Chapuisat Brüder ihr «Village Hoodoo» (Feenkamin-Dorf) aus dem schwarzen Holz zerstören. «Wir werden diesen Sommer zurück nach Kappadokien gehen, um eine Art Bienenstöcke zu bauen», erklärt Grégory Chapuisat. Danach geht es zurück in die Schweiz, nach Elm, wo die zwei «Piraten» etwas zum zehnten Jahrestag der Aufnahme des Martinslochs in die Liste des UNESCO-Welterbes gestalten wollen.
«ANARCHITEKTEN«
«Man hat uns oft als Szenographen, Gestalter von Bühnenbildern qualifiziert. Wir sind aber eher «Anarchitekten», sagt Grégory Chapuisat. Die Konstruktionen der Chapuisats sind funktionell: Man kann darin herumstreifen, sie teilweise erklimmen. Wie das Théâtre des Amandiers festhält, «verwandeln» ihre Installationen «den Raum und erfordern oft eine aktive Teilnahme von Besucherinnen und Besuchern, indem diese in die Lage von Entdeckern versetzt werden».
Während dem Konstruktionsprozess schätzen die Chapuisats das Organische, Fortschreitende, Evolutionäre. Nicht alles sei im Voraus festgelegt, sondern man «muss den richtigen Weg finden können», präzisiert Grégory Chapuisat.
«Die Entstehungs- und Realisierungsphasen nehmen im Verlauf langer kollektiven Arbeitsperioden Gestalt an, während denen die Künstler manchmal in ihren Werken leben» schreibt das Centre Culturel Suisse in Paris, dass die Chapuisats seit langem unterstützt.
Die beiden Brüder haben ihre Werke bisher vor allem in Chicago, Los Angeles, in der Türkei, in Polen, in Frankreich und der Schweiz ausgestellt.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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