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Trotz Bombardements: Die Ukraine als Wirtschafts-Standort

Bombed business centre in the Ukrainian city of Kharkiv
Nach Bombardements und Blackouts bleibt die Wirtschaftsinfrastruktur in Betrieb. Keystone / Sergey Kozlov

Schutzräume, Blackouts, Ausgangssperren und Mitarbeitende an der Front: Damit müssen Unternehmen in der Ukraine momentan umgehen. Trotzdem bleibt ein Schweizer Verein für Wirtschaftsförderung dabei, dass ausländische Unternehmen im kriegsgebeutelten Markt langfristig Profite machen können.

Private Investitionen anlocken, die zum Wiederaufbau der Ukraine beitragen. Macht das Sinn? Zu diesem Zweck wurde der Verein Global Business for Ukraine (GB4U) im September in der Schweiz gegründet.

«Selbst unter den jetzigen Umständen können Unternehmen überleben und Geschäfte machen. Die grosse Mehrheit hält den Betrieb mindestens teilweise aufrecht. Sie blicken positiv in die Zukunft der ukrainischen Wirtschaft», sagt Anna Derevyanko, Mitbegründerin von GB4U, gegenüber SWI swissinfo.ch.

Die Ukraine befindet sich seit der illegalen Annexion der Krim 2014 im Konflikt mit Russland. Unternehmen wie der Schweizer Lebensmittelhersteller Nestlé hatten Notfallpläne für den Fall einer Eskalation der Gewalt erstellt.

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Doch am 24. Februar, als Russland seine Invasion in die Ukraine startete, «waren wir nicht auf eine umfassende Invasion vorbereitet», sagt Nestlés Regionalleiter Alessandro Zanelli bei einem GB4U-Treffen in Zürich im Dezember 2022.

Im Schock der Invasion sah sich Nestlé gezwungen, seine drei Fabriken in der Ukraine zu schliessen. Die zwei im Westen des Landes konnte das Unternehmen innerhalb weniger Tage wieder eröffnen. Eine dritte Fabrik bleibt geschlossen, weil sie sich nah an der Front befindet: In Charkiw, im Nordosten, stellt der Nahrungsmittelmulti Instant-Nudelprodukte her.

Neue Fabrik in der Ukraine

Nestlé hat kürzlich angekündigt, dass das Unternehmen 40 Millionen Franken für eine neue Fabrik investiert, um die verlorene Produktionsstätte bis 2024 zu ersetzen. Das Unternehmen produziert in der Ukraine neben Nudeln unter anderem Saucen, Suppen, Konfekt und Kaffee.

Die Realität des Krieges hat die Tätigkeit des Unternehmens verändert. «Planung, Produktion und Lieferungen sind im Moment eher Kunst als exakte Wissenschaft», sagte Zanelli. «Wir müssen von Tag zu Tag kreative Lösungen für neue Probleme finden.»

Dazu gehört auch der Bau von Bombenschutzräumen in den Fabriken nach einem Entwurf aus dem Werk des Unternehmens in Israel. Mitarbeiter:innen aus dem Backoffice, beispielsweise aus der Marketingabteilung, erhielten eine Umschulung, damit sie Kolleg:innen beim Umzug oder bei Sicherheitsprojekten helfen können. Nicht mehr benötigte Büros hat man zu vorübergehenden Unterkünften für umgesiedelte Mitarbeiter:innen umgebaut. Und die Generatoren in den Fabriken unterstützen nun die Stromversorgung.

Von den 5850 Nestlé-Angestellten in der Ukraine kämpfen 155 gegen russische Truppen, und 700 sind ins Ausland verlegt worden. Rund 70% der 5850 sind aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben worden.

Dennoch bleibt das Unternehmen in der Ukraine profitabel, trotz 15% Umsatzrückgang und schrumpfender Margen aufgrund von Sicherheitskosten.

Arbeiten vom Bunker aus

Vladimir Liulka, selbst Ukrainer, war zum Ausbruch des Krieges in der Schweiz, wo er 2019 im Kanton Zug das Startup Blocksport mitgründete. Blocksport berät Sportvereine zu digitalen Blockchain-Strategien und beschäftigt rund 20 Mitarbeitende, von denen einige in der Ukraine tätig sind.

Der aus Mariupol stammende Liulka sorgte sich anfangs um die Sicherheit seiner Mitarbeiter:innen und um den Verbleib seines Vaters, der in Mariupol – wo in der Anfangsphase des Krieges mit am schwersten gekämpft wurde – vorübergehend vermisst wurde.

Doch schon bald konnte in der Ukraine die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Blocksport ihre Arbeit wieder aufnehmen. «Ich bin erstaunt über den Mut und das Durchhaltevermögen unserer Mitarbeiter:innen, die in Luftschutzbunkern an ihren Projekten arbeiten», sagt er.

Ein Mitarbeiter habe einen Fuss verloren, als er auf eine russische Landmine getreten sei, erzählt Liulka an der GB4U-Veranstaltung in Zürich. Dort hat Liulka Schweizer Unternehmen dazu aufgerufen, durch die Beschäftigung ukrainischer Mitarbeiter:innen die Ukraine zu unterstützen.

Laut der Schweizer Unternehmensberatungsfirma Alvicus habe der Krieg den Zugang zu hochqualifizierten IT-Entwickler:innen, die das Unternehmen in der Ukraine für Projektarbeiten unter Vertrag nimmt, nicht unterbrochen.

«Wir haben festgestellt, dass wir am besten helfen können, wenn wir ihnen mehr Arbeit geben. Sie liefern weiterhin Projekte», sagt der geschäftsführende Gesellschafter von Alvicus, Manuel Eppert.

Der Wirtschaftsförderverein GB4U, der von der European Business Association unterstützt wird, wurde erstmals auf der Konferenz des Weltwirtschaftsforums in Davos im Mai angeregt und erhielt weiteren Schub durch die Ukraine Recovery Conference, die im Juli in Lugano stattfand.

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Chancen in der Zeit nach dem Krieg

Gründerin Derevyanko redet die Probleme nicht klein, mit denen in der Ukraine tätige Unternehmen weiterhin konfrontiert sind. Russland hält immer noch weite Teile des Landes besetzt und hat vor dem Wintereinbruch mit einer Reihe von Drohnenangriffen die Energieinfrastruktur angegriffen.

Es gibt verschiedene Schätzungen für die Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine nach dem Krieg, aber die meisten gehen für die Beseitigung der strukturellen Schäden von mindestens 500 Milliarden Dollar (468 Milliarden Franken) aus.

«Viele Unternehmen mögen zum Schluss kommen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um in der Ukraine zu investieren», so Derevyanko. «Aber es ist notwendig, dass die Unternehmen jetzt damit beginnen, sich auf mögliche zukünftige Investitionen für den Wiederaufbau der Ukraine nach Kriegsende vorzubereiten.»

Sie verweist auf Möglichkeiten in den Bereichen Bau, Logistik, IT, Energie und Telekommunikation sowie auf mögliche künftige Aufträge des ukrainischen Militärs.

«Es gibt bereits viele Erfolgsgeschichten von europäischen Unternehmen, die sich in der Ukraine niedergelassen haben. In Zukunft wird es noch viele weitere Möglichkeiten für Geschäfte geben.»

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