Trotz Gegenwind bleibt die Schweizer Industrie auf Kurs
Während sich die Industrie gerade erst von der Pandemie erholt, die sie im Jahr 2020 schwer getroffen hat, verfliegt die Euphorie des Aufschwungs bereits wieder. Schwierigkeiten in den Lieferketten, Personalmangel, steigende Energiekosten und der starke Franken geben Anlass zur Sorge.
Um den Puls der Branche zu fühlen, besuchte SWI swissinfo.ch Mitte Juni die 20. Ausgabe der Messe für Unternehmen und Berufe der Uhren- und Schmuckindustrie, der Mikrotechnik und der Medizinaltechnologie (EPHJExterner Link) in Genf. Vier Tage lang hatten fast 700 Aussteller aus der ganzen Schweiz und dem Ausland die Gelegenheit, ihre neuesten Innovationen und ihr Know-how einem Fachpublikum zu präsentieren. Bei den auf der Messe vertretenen Unternehmen handelte es sich hauptsächlich um Zulieferer, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt sind, aber für den reibungslosen Ablauf der helvetischen Industrie von entscheidender Bedeutung sind.
In den Gängen des Palexpo, wo jedes Jahr mit viel «Bling-Bling» der Internationale Automobil-Salon Genf stattfindet, gaben sich alle Aussteller, die wir trafen, optimistisch, obwohl am Morgen unseres Besuchs bekannt wurde, dass das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) die Wachstumsprognosen für die Schweizer Wirtschaft nach unten korrigiert hatte.
«Man sollte die aktuellen Schwierigkeiten nicht überdramatisieren. Die Erholung war 2021 besser als erwartet und unsere Prognosen für 2022 sind weiterhin ausgezeichnet», sagt Michel Kühni, Direktor von Meyrat, einem Berner Unternehmen, das auf die Entwicklung und Herstellung von massgeschneiderten Spindeln für den Werkzeugmaschinensektor spezialisiert ist.
Einige Gänge weiter, am Stand von Viquodéco, einem jurassischen Unternehmen, das Hochpräzisionsteile für die Schweizer Uhrenindustrie herstellt, gibt man sich ebenfalls unbesorgt. Die Covid-Krise war zwar schmerzhaft, da Viquodéco die ersten Entlassungen in seiner Geschichte vornehmen musste, doch heute profitiert das Unternehmen vom Boom der Luxusgüterindustrie. Der Anstieg der Uhrenexporte setzte sich im April fort (7,3 % im Jahresvergleich), während 2021 bereits zu den besten Jahrgängen der Branche zählte. «Wir erwarten, dass unser Umsatz in diesem Jahr um weitere 15% steigen wird. Wir sind in den letzten zwölf Monaten von 42 auf 67 Mitarbeitende gewachsen, was für unser Unternehmen ein beispielloses Wachstum darstellt», freut sich der Geschäftsführer Marino Vitelli.
Mangel an Material und Personal
Viele Unternehmen berichten jedoch, dass sie durch Lieferschwierigkeiten und den allgemeinen Preisanstieg behindert werden. Dies gilt beispielsweise für Precitrame, ein Berner Unternehmen mit rund 330 Beschäftigten, das Werkzeugmaschinen für verschiedene Industriezweige (Uhren-, Automobil-, Medizin- und Elektronikindustrie usw.) herstellt.
«Wir haben Schwierigkeiten, bestimmte Halbfertigprodukte zu erhalten, wodurch sich unsere Lieferzeiten verlängern. Da die Preise für unsere Maschinen im Voraus mit unseren Kundinnen und Kunden vereinbart werden, können wir die Verteuerung der Komponenten nicht auf die Endabrechnung aufschlagen», erklärt Nicolas Vez, Marketingleiter von Precitrame.
Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Unternehmen, weist in seinem jüngsten Bericht von Anfang Juni darauf hin, dass sich die Versorgungsschwierigkeiten in den letzten Monaten noch verschärft haben. Die Gründe dafür sind die Blockaden in China, die Häfen und grosse Teile der Industrie zum Stillstand bringen, sowie der Krieg in der Ukraine und die gegen Russland verhängten Sanktionen, die zu einem Anstieg der Rohstoffpreise führen.
Auch die Logistik- und Transportkosten sind erheblich gestiegen. «Angesichts all dieser Schwierigkeiten mussten wir in unserer Einkaufsabteilung zusätzliches Personal einstellen», sagt Gilles Beuret, externer technischer Berater des jurassischen Werkzeugmaschinenherstellers Crevoisier.
Mitarbeitende verzweifelt gesucht
Während die Auftragsbücher voll sind, stehen die Unternehmer, mit denen wir gesprochen haben, vor einer weiteren grossen Herausforderung: dem Arbeitskräftemangel, der in der Schweiz Rekordwerte erreicht hat. «Die Industrie läuft auf Hochtouren und alle suchen nach denselben Profilen. Es ist sehr schwierig geworden, qualifiziertes Personal zu rekrutieren, auch im benachbarten Frankreich», sagt Marino Vitelli, der fast 50% seiner Belegschaft aus Grenzgänger:innen rekrutiert. «Es ist frustrierend, die Konjunktur ist auf dem Höhepunkt, aber es fehlt sowohl an Material als auch an Personal, um den vollen Nutzen daraus zu ziehen», ergänzt Gilles Beuret.
Das Wort Knappheit ist in aller Munde und betrifft auch die Energie. Die Warnung von Wirtschaftsminister Guy Parmelin vor möglichen Problemen bei der Stromversorgung lässt die Industrie nicht kalt: «Wir sind sehr beunruhigt, die Situation könnte im Dezember kritisch werden, wenn wir uns auf dem Höhepunkt des Winterverbrauchs befinden. Ein Blackout wäre eine Katastrophe für die Wirtschaft», warnt Vitelli.
Auch wenn der starke Franken nicht mehr ganz oben auf der Agenda steht, belastet er weiterhin die von den europäischen Märkten abhängigen Exportunternehmen. Der Wechselkurs zwischen dem Euro und dem Schweizer Franken flirtet mit der Parität, was seit der Aufhebung des Mindestkurses von 1.20 CHF pro Euro durch die Schweizerische Nationalbank (SNB) im Januar 2015 noch nie vorgekommen ist.
Precitrame, das fast die Hälfte seiner Maschinen in der EU und in Asien verkauft, bezieht so viele Lieferungen wie möglich aus europäischen Ländern, um von den günstigen Wechselkursen zu profitieren. «Wir versuchen auch, unsere Produktionsprozesse so effizient wie möglich zu gestalten. Aber es ist schwierig, alles zu automatisieren, da unsere Maschinen nach den Wünschen unserer Kundschaft massgeschneidert werden», sagt Nicolas Vez.
Heilsame Krisen
Die Schweizer Industrie, die sich Krisen gewöhnt ist und stark von der weltweiten geopolitischen Lage abhängt, überrascht dennoch mit ihrer Widerstandsfähigkeit. Die Schweiz ist nämlich neben Deutschland eines der wenigen westlichen Länder, denen es gelungen ist, eine starke industrielle Basis zu bewahren. Der Beitrag der Industrie zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) blieb bei rund 20%. Zum Vergleich: Die USA, Grossbritannien, Frankreich oder auch Japan haben in den letzten 25 Jahren ganze Teile ihrer produktiven Tätigkeiten verloren.
Gilles Beuret betont: «Krisen zwingen uns, innovativ zu sein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Dank der Einführung eines automatisierten Poliersystems konnten wir Arbeitsschritte, die zuvor manuell in Asien durchgeführt wurden, zurückverlagern. Dies ermöglicht es uns, unabhängiger zu sein und das Know-how unserer Teams in der Schweiz aufzuwerten.»
In den Augen von Michel Kühni sind Flexibilität und ständiges Hinterfragen zwei wesentliche Trümpfe für das Überleben der Industrie. «Die Schweiz verfügt über keine natürlichen Ressourcen und kann sich daher nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. Wir müssen immer an der Spitze des Wandels stehen. Unsere Stärke liegt in dieser Fähigkeit, immer Lösungen zu finden, selbst in den schwierigsten Zeiten.»
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Sibilla Bondolfi
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