Türkei: Wahlen und Erdbeben – wie ausgewanderte Schweizerinnen damit umgehen
Erdbeben, Inflation und Unterdrückung kritischer Stimmen – die Menschen in der Türkei machen schwierige Zeiten durch. Doch es könnte eine Zeitwende bevorstehen. Das Land wählt Mitte Mai einen neuen Präsidenten. Wie erleben Auslandschweizer:innen ihre Wahlheimat?
Unser Gespräch mit Michelle Salan musste kurzfristig verschoben werden. «Leider haben wir heute keinen Strom», schreibt die Auslandschweizerin an einem Montagmorgen aus Oğuzeli, ein Ort im Südosten der Türkei.
Das ist typisch für ihren Alltag zurzeit. Die lückenhafte Stromversorgung und die Internetausfälle seien aber weniger schlimm als die fehlende Wasserversorgung, erzählt sie.
Seit zwei Jahren lebt Salan in der Türkei – im Januar hat sie ihren türkischen Freund geheiratet. Seit dem Erdbeben Anfang Februar geht ein tiefer Riss durch ihr Wohnhaus. Mittlerweile wurde ihre Wohnung durch Fachleute wieder freigegeben.
Weil die Auslandschweizerin kein Türkisch spricht, verfolgt sie die Schweizer Medien, um informiert zu bleiben. «Viele Sachen dringen gar nicht bis nach Europa durch», sagt die 52-Jährige.
Sie beobachte die Berichterstattung über die Katastrophe im Februar und stelle fest, dass sie sehr schnell verebbt sei. «Die Erde bebt aber immer noch und vor ein paar Wochen hatten wir schlimme Überschwemmungen.»
Inflation: Jetzt spüren es auch die Ausländer:innen
Salan, die im Erdbebengebiet lebt, ist gerade dabei ihre sieben Sachen zusammenzupacken. Nach zwei Jahren in der Türkei reist sie zurück in die Schweiz – zumindest vorübergehend. «Mein Pensionskassenguthaben ist aufgebraucht», sagt die 52-Jährige. Der betagte Vater und ihre Töchter in der Schweiz sind weitere Gründe.
Einen Anteil daran hat auch die hohe Inflation in der Türkei, die mittlerweile auch Ausländer:innen aus Europa zu spüren bekommen. Lebensmittel werden jede Woche teurer, Benzinpreise schiessen in die Höhe, die Mieten sind um ein Vielfaches gestiegen.
«Die Einheimischen mussten im Winter überlegen, ob sie heizen oder essen wollen», erzählt eine andere Auslandschweizerin.
Laut «The EconomistExterner Link» ist die Inflation in den letzten fünf Jahren auf 80% gestiegen. Doch die türkische Wirtschaft schaffte es, irgendwie weiterzumachen. Sie sei eine der wenigen grossen Volkswirtschaften, die im Jahr 2020 überhaupt ein Wachstum verzeichnen konnte.
Unter Druck von Präsident Erdogan habe die Zentralbank die Zinssätze angesichts der rasant steigenden Inflation unangemessen niedrig gehalten. Inmitten dieses Chaos sei es bemerkenswert, dass die Wirtschaft so gut läuft.
Mit 85 Millionen meist jungen Verbraucher:innen verfügt das Land über einen grossen Binnenmarkt. Es ist seit langem eine Drehscheibe für den Handel zwischen Ost und West, und die Geschäftskultur des Landes ist tief verwurzelt. «Der Anteil der Bevölkerung, der eine unternehmerische Tätigkeit anstrebt, ist im internationalen Vergleich hoch», so das britische Magazin.
Die Türkei ist trotzdem ein attraktives Auswanderungsziel
Rund 1000 Kilometer nordwestlich, in der Provinz Kocaeli am Marmarameer, wohnt Selin Grögli mit ihren 50 Hunden. Grögli, die seit sechs Jahren in der Türkei lebt, hat auf ihrem Gnadenhof für HundeExterner Link seit ein paar Wochen einen neuen Helfer. Dieser stammt aus dem Erdbebengebiet.
Wäre das Hundeheim der Auslandschweizerin mehrstöckig, so hätte er das Jobangebot nicht angenommen. «Er ist traumatisiert», sagt sie. Grögli selbst kenne niemanden in der Türkei, der nicht mindestens ein Familienmitglied beim Erdbeben im Februar verloren habe.
Eigentlich wollte die 55-Jährige gar nicht in die Türkei auswandern, aber sie strandete vor sechs Jahren an der Grenze von Nord-Zypern. Ihr Hund hätte in Quarantäne gehen müssen, damit sie einreisen konnte. Das wollte sie nicht und so machte sie sich auf in die Türkei.
Mittlerweile sieht sie die Vorzüge des Landes: «Das Klima ist gut, das Gesundheitssystem funktioniert und die Sprache kann man lernen», so Grögli, die sich problemlos auf Türkisch verständigen kann. Es sei ein wunderschönes Land.
5342 Schweizer:innen lebten 2022 Externer Linkin der Türkei – das sind rund 2000 Personen mehr als noch vor zehn Jahren. «Man wird hier herzlich empfangen», sagt auch Salan. Ausserdem schwärmt sie von der Natur, die vielseitig sei wie im Tessin.
Bleibt Erdogan an der Macht?
Am 14. Mai könnte in der Türkei eine Ära zu Ende gehen. An diesem Datum finden die Parlaments- und Präsidentenwahlen statt. Das Oppositionsbündnis Nationale Allianz besteht aus sechs Parteien und konnte sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen: Kemal Kilicdaroglu. Er soll Erdogan nach rund 20 Jahren an der Macht ablösen.
«Egal wer in Ankara auf dem Stuhl sitzt, für mich wird sich nichts ändern», sagt Grögli. Sie wohne so abgeschieden, dass sie das kaum betreffe. In ihrer Wahrnehmung ist das Land jedoch gespalten. Gröglis Tierarzt etwa habe seine Klinik in Antalya verkauft, «er fängt nichts mehr Neues an bis zu den Wahlen».
Sie diskutiere viel mit Einheimischen, die meisten würden die Opposition wählen. Und auch Salans türkischer Ehemann hofft auf einen Machtwechsel.
Erdogan hatte vor über 20 Jahren versprochen, dass die Bauvorschriften künftig rigoros durchgesetzt werden. Doch angeblich erdbebensichere Häuser sind beim letzten Erdbeben in sich zusammengefallen, zehntausende von Menschen sind gestorben. Dies löste scharfe Kritik gegen den Präsidenten aus.
In der Provinz Kocaeli am Marmarameer, wo Grögli lebt, gab es vor 24 Jahren ein schweres Erdbeben. Es verhalf Präsident Erdogan an die Macht zu kommen. Der neue Präsident könnte es ihm gleichtun.
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