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Tunesischer Ex-Minister: EU-Migrationsdeal ist gefährliche Symptombekämpfung

Tunesische Migrant:innen auf einem Schiff im Mittelmeer
Die tunesische Küstenwache bringt Migrant:innen, die über das Meer nach Italien gelangen wollten, zurück nach Tunesien. Tunesien ist eines der wichtigsten Transitländer aus Afrika für Migranten:innen auf dem Weg nach Europa. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved.

Der geplante Migrationsdeal zwischen der EU und Tunesien ist aus Sicht des tunesischen Soziologen Mehdi Mabrouk vor allem Symptombekämpfung. Er fordert die EU und die Schweiz auf, Tunesier:innen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Während die Europäische Union mit Tunesien über ein Migrationsabkommen verhandelte, ist Tunesiens harter Kurs gegen Migrant:innen aus Subsahara-Afrika zuletzt eskaliert: Hunderte Menschen wurden in der Wüste ausgesetzt, in der Stadt Sfax kam es zu gewaltsamen Zusammenstössen.

Im Interview, das Ende Juni aufgezeichnet wurde, äussert sich der tunesische Soziologe und ehemalige Kulturminister Mehdi Mabrouk kritisch – sowohl zur politischen Situation im wirtschaftlich angeschlagenen Tunesien als auch zum Migrationsdeal, den die EU und Tunesien inzwischen beschlossen haben (siehe Infobox).

SWI swissinfo.ch: Herr Mabrouk, was halten Sie von der Migrationspartnerschaft zwischen der EU und Tunesien  im Austausch für Finanzhilfen, die Rede war von 900 Millionen Euro*?

Mehdi Mabrouk: Zunächst möchte ich festhalten, dass die EU Tunesien keine echte Partnerschaft mit einem gemeinsamen Migrationsmanagement vorgeschlagen hat, sondern eine Zusammenarbeit, die in erster Linie auf die Bekämpfung der irregulären Migration abzielt. Es handelt sich um einen stark sicherheitsorientierten Ansatz.

Verfügt Tunesien überhaupt über die nötigen Mittel, um die eigene Küste so zu bewachen, wie die EU sich das vorstellt?

Tunesiens Meeresküsten sind sehr lang, das zu kontrollierende Gebiet umfasst rund 1500 Quadratkilometer. Dieses zu überwachen, ist eine sehr mühsam Aufgabe für die tunesischen Behörden, und dies in einer Zeit, in der die wirtschaftlichen Probleme immer grösser werden.

Italien hat Tunesien 82 Marineschiffe angeboten, um die Küsten besser kontrollieren zu können. Aber diese Schiffe wie auch die 900 Millionen Euro reichen nirgends hin. 900 Millionen Euro sind ein lächerlicher Betrag, um die irreguläre Migration zu bekämpfen.

Tunesiens Präsident Kais Saied und Italiens Premierministerin Giorgia Meloni
Tunesiens Präsident Kais Saied reicht Italiens Premierministerin Giorgia Meloni bei Verhandlungen in Tunesien am 16. Juli die Hand. Keystone / Tunisia Presidency / Handout

Der tunesische Präsident Kais Saied hatte zunächst erklärt, Tunesien sei nicht Europas Grenzpolizei und werde nicht die schmutzige Arbeit für die EU erledigen. Teilen Sie seine Meinung?

Kais Saied sagte, die EU dränge Tunesien, die Rolle des Polizisten zu übernehmen, der die «Festung Europa» beschützt, und er sei nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen.

Paradoxerweise pflegt der Präsident selbst eine migrationsfeindliche Rhetorik, die sich hauptsächlich gegen Subsahara-Afrikaner:innen richtet. Mit diesem politischen Populismus und seiner fremdenfeindlichen Haltung schliesst sich der Präsident der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni und anderen europäischen Staatsoberhäuptern an.

Migrationsdeal EU-Tunesien

Am 16. Juli haben die EU und Tunesien eine Absichtserklärung unterzeichnet, um die Migration über das Mittelmeer einzuschränken. Zudem will die EU mit Tunesien wirtschaftlich zusammenarbeiten.

Zuvor hatten sich die EU-Staaten auf eine Reform ihrer Migrationspolitik geeinigt, die auch eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie Tunesien vorsieht, damit diese die irreguläre Migration bekämpfen und abgewiesene Asylbewerber:innen zurücknehmen. Im Gegenzug hat die EU dem wirtschaftlich angeschlagenen Land unter anderem Finanzhilfen in Aussicht gestellt.

Hilfsorganisationen kritisieren, das nordafrikanische Land unter dem zunehmend autoritär regierenden Saied sei kein sicherer Ort, an den Flüchtlinge zurückgeschickt werden dürfen. Im Juli kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Migrant:innen und Tunesier:innen, worauf tunesische Sicherheitskräfte Hunderte Flüchtlinge in die Wüste brachten, in die Nähe der lybischen oder algerischen Grenze, und sich selbst überliessen.

In einer Rede im Februar 2023 hat Kais Saied die Migrant:innen aus dem südlichen Afrika beschuldigt, Gewalt und Kriminalität im Land zu verbreiten. Wie hat sich das auf die Situation vor Ort für diese Menschen ausgewirkt?

Im Anschluss an diese alarmistische Rede ergriffen die tunesischen Behörden umgehend Massnahmen, um die angeblich massive Einreise von Subsahara-Afrikaner:innen nach Tunesien zu stoppen.

In tendenziell autoritären Regimen reagieren Sicherheitsbehörden wie Polizei und Gendarmerie meist sehr schnell und mit harter Hand, um zu demonstrieren, dass auf Worte Taten folgen.

Hat sich die fremdenfeindliche Rede des Präsidenten auch auf das Verhalten der Bevölkerung ausgewirkt?

Ja, ganz klar. Diese Art von migrationsfeindlicher Rhetorik führt leider zu mehr Fremdenfeindlichkeit bei den Menschen – manchmal kommt es zu rassistischen Handlungen. Die Immigrant:innen aus Subsahara-Afrika werden immer öfter gezielt angegriffen, ihre Situation ist prekär. Dies schreckt sie zunehmend davon ab, durch Tunesien zu reisen.

Migrant:innen aus Subsahara sitzen in Tunesien am Boden.
Migrant:innen in der tunesischen Hafenstadt Sfax, wo es Anfang Sommer 2023 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Migrant:innen kam. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved

Lässt sich Migration durch Repression eindämmen?

Migrationsströme lassen sich nicht abrupt stoppen. Schliesst man an einem Ort eine Route oder ein «Tor», werden woanders Tore geöffnet und neue Routen gefunden, wie aktuell zum Beispiel am Horn von Afrika und via die Golfstaaten.

Was halten Sie aus ethischer Sicht vom Migrationsdeal, den die EU Tunesien vorgeschlagen hat?

Rein ethisch gesehen ist es inakzeptabel, die tunesische Wirtschaftskrise zu missbrauchen und zu instrumentalisieren und in einer Logik des Outsourcings von Tunesien zu verlangen, dass das Land an Stelle der EU darüber entscheidet, wer den Flüchtlingsstatus verdient und wer nicht. Sie sollte diese Menschen aufnehmen und diese Auswahl selbst treffen. Alles andere ist eine völlig unproduktive Politik, deren perverse Auswirkungen wir noch sehen werden.

Eine unproduktive Politik, weil die Haupttreiber der Migration fortbestehen?

Diese Abschottungspolitik macht aus dem Mittelmeerraum statt eines Raums des Handels und der Unterstützung zwischen den Völkern und Staaten einen Friedhof. Solange die rein objektiven Beweggründe für die Migration weiterbestehen, kann das Problem nicht durch einen reinen Sicherheitsansatz gelöst werden.

Die Arbeitslosigkeit, die Bürgerkriege, der Klimawandel, die aktuelle Dürre in Somalia – all diese Faktoren bleiben bestehen. Wir müssen versuchen, die Lebenswirklichkeit der Menschen zu ändern, die sich auf Tunesien als Transitland konzentrieren. Sicherlich liegt diese Verantwortung bei den afrikanischen Staaten selbst, aber sie muss von der internationalen Gemeinschaft mitgetragen werden.

Mehdi Mabrouk
Mahdi Mabrouk (Foto: Stephan Röhl)

Mehdi Mabrouk ist ein tunesischer Politiker, promovierter Soziologe und Hochschuldozent. Von 2012 bis 2014 – nach der Absetzung des langjährigen Machthabers Ben Ali im Zuge des Arabischen Frühlings – war er tunesischer Kulturminister. Als Soziologe lehrt, forscht und publiziert Mabrouk zu Themen wie internationale Migration, Jugend, Bildung und demokratischer Wandel. Er ist Direktor des «Centre arabe des recherches et de l’étude des politiques» (CAREP) in Tunis.

Welche Elemente müsste eine Partnerschaft enthalten, damit sie für Tunesien interessant ist?

In Tunesien gibt es derzeit zwischen 100’000 und 800’000 arbeitslose Frauen und Männer, also eine sehr hohe Arbeitslosenquote, die teilweise 18 oder 19% der Erwerbsbevölkerung erreicht. Davon ist etwa ein Drittel hoch qualifiziert: Ärzt:innen, Apotheker:innen, Informatikingenieur:innen.

Aber selbst diese Personen bekommen keine Visa. Das ist ein grosses Problem. Was es bräuchte, ist ein verbessertes Austausch- und Mobilitätssystem, das es jungen Tunesier:innen ermöglicht, nach Europa zu reisen und dort arbeiten zu dürfen.

Zwischen Tunesien und einer Reihe von europäischen Ländern darunter auch die Schweiz – bestehen bereits bilaterale Partnerschaften. Funktionieren diese Abkommen nicht?

Doch, aber sie reichen nicht aus. Die Schweiz zum Beispiel ist keine bevorzugte Destination für tunesische Migrant:innen. Was Tunesier:innen dazu bewegt, nach Italien und Frankreich auszuwandern, ist nicht nur die geografische Nähe, sondern auch die Präsenz tunesischer Migrant:innen vor Ort, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht.

Die Migrationsketten und -netzwerke lenken die Tunesier:innen eher dorthin und seltener in andere Länder.

In der Zwischenzeit versuchen weiterhin Tausende von meist jungen Tunesier:innen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.

Ja. Die Auswanderung aus Tunesien ist sehr hoch. Als es in Tunesien 2010 und 2011 zum Volksaufstand kam, gab es bereits nach vier Wochen eine sehr grosse Migrationswelle, und es wurden etwa 25’000 tunesische Migrant:innen registriert, die auf die kleine Insel Lampedusa gelangten.

Diese Situation ist in etwa konstant geblieben. Gleichzeitig gibt es einen realen Bedarf an Arbeitskräften in Europa. Man sollte also nicht zu egoistisch sein. Auch wenn Sie die Wirtschaftskrise instrumentalisieren wollen: Seien Sie ein wenig grosszügiger! Wir fordern von der EU, dass sie Arbeitskräfte aufnimmt und einstellt, egal ob sie unqualifiziert oder gut qualifiziert sind.

Proteste gegen die Politik von Tunesiens Präsident
Tunesier und Tunesierinnen protestieren gegen die Politik von Präsident Kais Saied, der das Land zunehmend autoritär regiert. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved.

Seit dem Arabischen Frühling sind 12 Jahre vergangen. Wie entwickelt sich Tunesien politisch? Wird der Präsident seinen autoritären Stil aufrechterhalten können?

Kais Saied hat eine soziale Wut ausgenutzt, die immer grösser wird, weil die Tunesier:innen ein Jahrzehnt nach dem politischen Umbruch keine wirkliche Verbesserung ihrer Lebenswirklichkeit sehen können. Leider sind wir jetzt dabei, all unsere persönlichen Freiheiten zu verlieren.

Europa hat den demokratischen Übergang in Tunesien nicht grosszügig genug unterstützt und hat dadurch ein Land verloren, das eine echte Demokratie hätte sein können, eine Ausnahme unter den arabischen Ländern.

Ich gehe davon aus, dass sich der Präsident wird halten können – zu einem wichtigen Teil durch die staatliche Kontrolle des öffentlichen Raums, der Zivilgesellschaft, von Journalist:innen und Blogger:innen. Wir erleben heute, wie der grosse Soziologe Vincent Geisser es formuliert hat, eine «Rückkehr der Kultur der Angst».

Migrationspartnerschaft Schweiz-Tunesien

Zwischen der Schweiz und Tunesien existiert seit 2012 eine Migrationspartnerschaft: Die Schweiz unterstützt Tunesien finanziell, in Form von Visaerleichterungen für tunesische Geschäftsleute, Akademiker:innen und Künstler:innen und mit Praktikums-Plätzen in der Schweiz.

Als Gegenleistung nimmt Tunesien abgewiesene Asylsuchendende zurück. Darüber hinaus besteht zwischen beiden Ländern ein Kooperationsprogramm, das sich auf die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung, die Stärkung der Demokratie und die Verbesserung der Lebensbedingungen in Tunesien konzentriert. Seit dem Arabischen Frühling hat die Schweiz zahlreiche Projekte zur Demokratisierung (mit-)finanziert.

Als assoziiertes Mitglied des Schengen- und Dublin-Systems trägt die Schweiz zudem die europäische Politik im Migrations- und Asylbereich mit.

* Nach Gesprächen in Tunis am 11. Juni sprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zunächst von einer Finanzhilfe in Höhe von 900 Mio. Euro.

Editiert von David Eugster.

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