«Der Friedensnobelpreis ist unser Stolz»
Taieb Baccouche, Chef der tunesischen Diplomatie, hat sich bei einem Besuch in Bern erfreut gezeigt über den Erfolg des Demokratisierungsprozesses in seinem Land. Aber auch fünf Jahre nach der Revolution könne die Jugend die Früchte bezüglich "Arbeit und anständiges Leben" noch nicht ernten, sagte er gegenüber swissinfo.ch.
Bei Taieb Baccouches Arbeitsbesuch in der Schweiz, wenige Tage nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an das tunesische Quartett des Nationalen Dialogs, kamen die Rückerstattung der Ben Ali-Vermögen zur Sprache, aber auch die Unterstützung der Schweiz beim Übergang zu Demokratie in Tunesien. Zudem konnte der Staatsbesuch von Präsident Béji Caid Essebsi vorbereitet werden, der für kommenden November geplant ist.
swissinfo.ch: Wie haben Sie als ehemaliger Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes UGTT, der zusammen mit drei anderen tunesischen Organisationen den Friedensnobelpreis erhalten hat, diese Nachricht aufgenommen?
Taieb Baccouche: Mit grossem Stolz. Dieser Preis geht an Tunesien, aber auch an alle Kräfte unseres Landes, die zum Erfolg des Demokratisierungs-Prozesses beigetragen haben. Zu sagen ist, dass es der Verdienst des Quartetts des Nationalen Dialogs ist (A.d. Red: Gewerkschaft UGTT, Verband von Industrie, Handel und Handwerk (UTICA), Liga für Menschenrechte (LTDH) und Nationaler Anwaltsverein), ohne dass der Weg in Richtung Demokratie voller Fallstricke gewesen wäre.
swissinfo.ch: Welche Rolle spielt heute die Zivilgesellschaft bei der Stärkung des Dialogs?
T.B.: Die Zivilgesellschaft hat aus dem Quartett eine nicht offizielle Institution gemacht, die immer bereit war zu reagieren. Wenn der Dialog auf ein Hindernis stösst, setzt sich die Zivilgesellschaft dafür ein, das Gleichgewicht im politischen Leben wieder herzustellen. Dies ist eine positive Reaktion, die nirgendwo sonst in der arabischen Welt zu finden ist.
swissinfo.ch: Haben Sie mit Ihren Schweizer Amtskollegen auch über die Vermögen gesprochen, die von der Bundesanwaltschaft gesperrt wurden? Gibt es einen Weg, diese bald einzutreiben?
T.B.: Es geht nicht um Fristen, denn es ist eine politische Frage. Was es jetzt braucht, ist, «die Maschine auf Kurs zu bringen». Aber der politische Wille ist vorhanden, er existiert.
Was bleibt, ist der juristische und gerichtliche Aspekt der Angelegenheit. Man darf nicht vergessen, dass die Schweiz ein Land der Institutionen ist. Wir müssen die Traditionen der Eidgenossenschaft und der helvetischen Gerichtsverfahren respektieren. Will heissen, wir zweifeln in keiner Weise, dass die Schweizer Behörden gewillt sind, das Verfahren zu beschleunigen.
Anzufügen ist, dass die Frage der Vermögenswerte ausserdem abhängig ist von den Gerichtsverfahren in der Schweiz und in Tunesien.
swissinfo.ch: Seit der Jasmin-Revolution unterstützt die Schweiz Tunesien auf verschiedenen Gebieten: Bei der Überwachung der Wahlen, den Medien, den Menschenrechten, der Bildung, beim Umweltschutz… Was ist Ihrer Meinung nach die beste Hilfe, welche die Schweiz ihrem Land bieten kann?
T.B.: Die Schweiz kann uns vor allem bei der Ausbildung, namentlich der Militärgerichtsbarkeit unterstützen. Zu diesem Zweck gibt es übrigens ein Grundsatzabkommen. Sie kann zudem die Jungen ermutigen, Kleinunternehmen zu gründen. Auch die Unterstützung von Investoren ist immer wünschenswert, ebenso die Hilfe für Schweizer Unternehmen, die in Tunesien tätig sind, was für die Jungen Arbeitsplätze schafft.
Und wie vereinbart könne die Schweiz auch bei der Bewältigung des Migrationsproblems helfen und damit die illegale Migration zugunsten einer kontrollierten Migration verhindern.
swissinfo.ch: Die neue tunesische Verfassung besteht auf Dezentralisierung, einem lokalen Führungssystem und der Aufteilung der Macht. Hat man sich hier vom föderalen System der Schweiz inspirieren lassen?
T.B.: Jedes Land hat seine eigenen Regeln und Traditionen, die sich nicht 1:1 übernehmen lassen. Die tunesische Erfahrung zum Beispiel kann nicht exportiert werden, denn sie bleibt mit der tunesischen Gesellschaft verbunden, mit ihren Eigenheiten, ihrer politischen und sozialen Entwicklung.
Das Gleiche gilt für die Schweiz: Auch ihr System kann nicht in ein anderes europäisches Land übertragen werden. Wenn wir uns also vom Schweizer Modell inspirieren lassen, müssen wir abwägen, was davon sich eignet, bei uns umgesetzt zu werden. Etwa den grossen Regionen und den lokalen Behörden mehr Macht zugestehen, sowohl auf dem Gebiet der Bewältigung alltäglicher Probleme wie auch bei der Planung von Projekten.
In diesem Sinne können wir uns vom Schweizer Modell inspirieren lassen. Die eidgenössischen Behörden haben uns übrigens in dieser Hinsicht ihre Unterstützung zugesichert.
swissinfo.ch: Die internationale Gemeinschaft anerkennt, dass der Übergang zu Demokratie in Tunesien ein Erfolg ist. Dennoch bleiben Herausforderungen zu bewältigen. Internationale Berichte sprechen von Korruption, Zollbetrug, hoher Arbeitslosigkeit, von Armut, terroristischer Bedrohung und Sicherheitsproblemen… Wo liegen in Bezug auf diese Schwierigkeiten ihre Prioritäten?
T.B.: Der politische Erfolg hängt vom wirtschaftlichen und sozialen Erfolg ab, der wiederum von der Sicherheitslage abhängt, die in einem Land herrscht. Alles ist miteinander verhängt. Gewalt und Terrorismus bedrohen die wirtschaftliche und soziale Stabilität und verzögern die Entwicklung.
Nun hängt aber die Sicherheit nicht von der Verantwortung eines einzigen Landes ab. Heutzutage ist die Sicherheit ein Problem, mit dem die ganze Region konfrontiert ist. Wir können die Probleme in Tunesien nicht zufriedenstellend regeln, wenn sie in Libyen nicht gelöst werden. Die nationalen Fragen müssen in einem regionalen Kontext angepackt werden.
swissinfo.ch: Tunesien hat ein hoch entwickeltes Bildungswesen. Wie ist es zu erklären, dass junge Tunesier sich im Ausland in bewaffneten Gruppen wie dem IS engagieren? Ist das nicht Ausdruck von Verzweiflung angesichts der tunesischen Revolution, die ihre Versprechen nicht halten konnte?
T.B.: Man muss dies nicht unter dem Blickwinkel der Verzweiflung sehen, sondern objektiv betrachten. Die Jugend, die sie erwähnen, kennt Arbeitslosigkeit, Armut und Marginalisierung. Es ist also nicht verwunderlich, wenn sie in den Kampf zieht, angelockt vom grossen Geld, das man ihr dafür bietet. Dieses Problem betrifft aber nicht nur die tunesische Jugend, sondern auch die europäische.
Noch einmal: Betrachten wir die tunesische Realität objektiv: Fünf Jahre nach der Revolution sieht unsere Jugend noch immer keine Resultate bezüglich Arbeit und anständiges Leben.
swissinfo.ch: Kann man sagen, dass es Tunesien heute gut geht?
T.B.: Auf politischer Ebene, ja, denn der Übergang zu Demokratie ist gelungen. Dieser Sieg muss sich aber auch positiv auf Wirtschaft, Gesellschaft und Sicherheit auswirken. Wir bleiben optimistisch!
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
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