Luxusuhren zu Schleuderpreisen sind ein florierendes Geschäft
Der Ausverkauf neuwertiger Uhren über mehr oder weniger seriöse Alternativmärkte ist in der Schweizer Uhrenindustrie ein Tabu. Nichtsdestotrotz nimmt das Phänomen zu. Grund dafür sind der wirtschaftliche Abschwung in bestimmten Weltregionen sowie Detailhändler, die unter Bergen unverkaufter Uhren ersticken.
In der Uhrenbranche nennt man ihn «Momo den Saubermacher.» Maurice Goldberger, Gründer und Inhaber der kanadischen Firma Chiron Inc., ist auf den Verkauf von Restposten der wertvollsten Uhrenmarken spezialisiert. Seine Geschäfte florieren. Im Jahr 2015 hat er für über 500 Millionen Euro neuwertige Luxusartikel auf der ganzen Welt aufgekauft, die über die offiziellen Kanäle keine Abnehmer fanden. Davon hat er fast 150 Millionen Schweizerfranken für Uhren und Schmuck aufgewendet. «Das Jahr 2016 hat einen Blitzstart hingelegt, und der Markt soll angeblich in den nächsten Jahren noch mehr wachsen», freut sich Goldberger in einem Telefoninterview mit swissinfo.ch.
Maurice Goldberger begibt sich regelmässig in die Schweiz, um mit Uhrenherstellern zu verhandeln. In absoluter Diskretion. Denn obwohl die Markenhersteller seine Dienste immer häufiger in Anspruch nehmen, achten sie sorgfältig darauf, nicht an seiner Seite gesehen zu werden. Er selbst will sich nicht weiter zur Identität seiner Schweizer Lieferanten oder seiner Klienten äussern. Er zeigt im Übrigen nie eine Uhr an seinem Handgelenk, um jegliche Falschinterpretation zu vermeiden. Auf seiner InternetseiteExterner Link findet man nichts ausser drei Adressen – in Malta, in den USA und in Kanada – sowie eine E-Mail-Adresse, auf welcher er umgehend reagiert.
«Wenn sich die unverkauften Uhren ansammeln, verschlingt das Warenlager wichtiges Kapital, das nicht in neue Ausstattung oder Modelle investiert werden kann.»
Die Uhrenfirmen möchten den Hauch von Exklusivität bewahren, der ihre Uhren umgibt. Sie sind sich der Gefahren des Parallelmarktes für ihre Marke bewusst. «Die Atmosphäre, die Erfahrung und der Service in einem offiziellen Laden sind sehr wichtig für das Prestige der Marke. Es gibt ein echtes Risiko des Kontrollverlusts, wenn neuwertige Uhren auf parallelen Kanälen zu Schleuderpreisen verkauft werden», betont François Courvoisier, Professor für UhrenmarketingExterner Link an der Hochschule des Jurabogens (HE-ARC).
Boom in Nordamerika
Maurice Goldberger jedoch findet, er sei ein wichtiges Rädchen in der Feinmechanik des Uhrenverkaufs. «Die Restposten sind eine Realität, kein Unternehmen ist davor gefeit. Wenn sich die unverkauften Uhren ansammeln, verschlingt das Warenlager wichtiges Kapital, das nicht in neue Ausstattung oder Modelle investiert werden kann.» Den Beruf von Maurice Goldberger hat es schon immer gegeben. Aber das Phänomen hat sich mit der immer schnelleren Erneuerung der Kollektionen, mit dem Boom der Internetverkäufe sowie der immer stärker industrialisierten Produktion von hochwertigen Uhren verstärkt. So sehr, dass heute schätzungsweise eine von vier mechanischen Schweizeruhren auf parallelen Kanälen zu einem reduzierten Preis verkauft wird.
Zu diesen strukturellen Änderungen kommt ein konjunktureller Faktor hinzu. Die Uhrenbranche ist seit der Finanzkrise von 2008 mit einem nie dagewesenen Abschwung konfrontiert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Stockende Konjunktur in China, Krieg in der Ukraine und im Mittleren Osten, fallender Ölpreis, starker Franken usw. «Viele Detailhändler haben diese geopolitischen Änderungen nicht vorhergesehen. Sie haben nun erhebliche Vorräte von unverkauften Uhren am Hals, die mit der Zeit an Attraktivität einbüssen. Das ist ein Problem für die Marken, weil die Detailhändler kein Geld oder keinen Platz mehr haben, um neue Kollektionen zu kaufen», stellt Maurice Goldberger fest.
Wenn die Vorräte in Hong-Kong oder China überborden, werden viele Uhren in die boomenden Outlets der USA und Kanada verschickt. «Unser Wachstum ist in Nordamerika besonders stark. Eine Secondhand-Uhr zu einem reduzierten Preis zu kaufen, gilt dort als Zeichen von Intelligenz. In Europa und in Asien ist es schwieriger, weil die Leute Mühe haben zuzugeben, dass sie sich eine neue Uhr zum vollen Preis nicht leisten können», sagt der kanadische Geschäftsmann.
Echte von gefälschten Uhren unterscheiden
Der Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie (FH)Externer Link in Biel, einer der Uhren-Hauptstädte der Schweiz, verfügt über «praktisch keine Information» bezüglich dieses wachsenden Phänomens. «Offiziell gibt es keine Ausverkäufe. Einige Firmen lassen ihre Abnehmer sogar ein vertragliches Verbot unterschreiben. Aber offensichtlich ist die Realität eine andere», bekennt Michel Arnoux, Chef des Fälschungsdienstes beim FH.
Für Liebhaber schöner Uhren, die nicht alle zwingend über ein gut gefülltes Bankkonto verfügen, sind 30, 40 oder 50 Prozent Rabatt (manchmal sogar noch mehr) für eine Prestige-Uhr auf den ersten Blick ein hervorragendes Geschäft. Aber Michel Arnoux warnt: «In den Secondhand-Läden und Outlets mischen sich Fälschungen unter die echten Uhren, das ist eine allseits bekannte Tatsache. Das macht es für die Käufer sehr kompliziert, sogar wenn sie über fundierte Uhren-Kenntnisse verfügen. Das gleiche gilt für gestohlene Uhren, welche immer wieder in diesen parallelen Kanälen zum Verkauf angeboten werden.»
«Die Schweizer Uhrenindustrie ist traditionsgemäss eine Welt, in der man die Diskretion pflegt. Aber sie muss sich heute transparenter zeigen.»
Auf dem Internet, wo es von Sites mit Schweizer Uhren im Angebot wimmelt, seien die Risiken noch grösser, warnt Michel Arnoux: «Viele dieser Webseiten behaupten, ihre Uhren seien secondhand oder stammten vom Graumarkt, wo es sich in Wahrheit jedoch um klare Fälschungen handelt.» Maurice Goldberger versichert, dass er seine Ware über lautere Kanäle weiterverkauft – Outlets, punktuelle Privatverkäufe usw. – und nur in von den Marken gewünschten geografischen Zonen. «Ich beliefere nicht den Graumarkt», behauptet er. Und was ist mit dem Internet? «Es gibt Tausende, um nicht zu sagen Zehntausende von Internetseiten mit Uhren, aber nur etwa hundert von ihnen haben einen guten Ruf. Ich arbeite nur mit diesen Leuten», sagt der Geschäftsmann.
Forderung nach Transparenz
Graumarkt, inoffizielle, aber von den Marken geduldete Händler, unechte Secondhand-Uhren oder Fälschungen, die immer mehr den Originalen ähneln: Es besteht die Gefahr, sich in diesem Dschungel des Angebots zu verlieren. «Im Vergleich zur Autobranche haben die Uhrenhersteller einige Verspätung, was den Gebrauchthandel auf parallelen Kanälen und besonders auf dem Internet betrifft», betont François Courvoisier.
Eine Lösung wäre beispielsweise, von den Marken anerkannte Verkaufsstellen aufzulisten. Eine andere wäre es, eine Art trip-advisor für Uhren auf die Beine zu stellen. Der Konsument könnte somit den Verkäufer hinsichtlich der Qualität des Produkts oder bezüglich des Services nach dem Verkauf benoten. «Wir sind davon noch sehr weit entfernt», räumt François Courvoisier ein. «Die Schweizer Uhrenindustrie ist traditionsgemäss eine Welt, in der man die Diskretion pflegt. Aber sie muss sich heute transparenter zeigen.»
Auch in der Schweiz gibt’s Uhren zu Schleuderpreisen
Moha Samraoui, Gründer und Inhaber von grooptoo.ch, gibt sich in den Medien gerne als «Robin Hood der Uhr» aus. Auf seiner Verkaufsplattform im Internet findet man unter allen möglichen Billig-Artikeln auch einige Luxusuhren. Sie machen immerhin 20 Prozent des Umsatzes aus. «Wir decken uns bei Discountern im Ausland ein, vor allem in den USA, und verkaufen die Uhren anschliessend mit 40 bis 60 Prozent Rabatt an Schweizer Kunden», erklärt der in der Schweiz eingebürgerte Marokkaner.
Dieser Graumarkt ist zwar legal, passt aber den Uhrenfirmen nicht in den Kram. Moha Samraoui bekommt regelmässig Post von Anwälten, Drohmails und sogar persönlichen Besuch von Markenvertretern, die ihn zur Entfernung ihrer Produkte von seiner Website drängen. «Dieser Druck hat viele Unternehmer davon abgehalten, in den Markt einzusteigen, aus Angst vor möglichen Repressalien. Aber wir konnten standhalten, und heute kontaktieren uns einige Marken direkt, um uns verbilligte Uhren anzubieten», sagt Moha Samraoui.
Die Schweizer zeigen sich trotzdem noch zögerlich beim Kauf von Uhren im Wert von mehreren Tausend Franken auf dem Internet, gibt der Chef von grooptoo.ch zu. «Dabei sind sie alle zertifiziert und haben die gleiche Garantie wie die im Laden verkauften Uhren», sagt Moha Samraoui und zeigt sich gleichwohl zuversichtlich, was die Zukunft seiner Geschäfte anbelangt: «Einige Uhrenliebhaber haben langsam genug davon, hohe Preise für Produkte zu zahlen, deren Herstellung häufig nicht mehr als 10 bis 15 Prozent des offiziellen Kaufpreises kostet. Allmählich schaffen wir es, eine Stammkundschaft heranzubilden.»
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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