«Uhrenbranche kann nicht mehr alte Rezepte nutzen»
Qualität und Originalität des Designs sind entscheidende Faktoren für den Erfolg der Schweizer Uhren. Um neue Konsumenten zu gewinnen, brauche es jedoch mehr Risikobereitschaft, schätzen einige kleinere Akteure der Branche. Ob die grossen Konzerne, welche die Industrie dominieren, diesen Ruf wohl hören werden?
«In einem gesättigten Markt muss die Positionierung der Uhr vom Kunden auf den ersten Blick erfasst werden können. Das Element, das dem Objekt diesen Sinn verleiht, ist das Design», fasste Claire-Lise Ackermann, Assistenzprofessorin an der Handelsfachhochschule der nordwestfranzösischen Stadt Rennes, am 18. Internationalen Tag des Uhren-MarketingsExterner Link zusammen.
Das Thema Uhren-Design stand im Zentrum der Veranstaltung, die Anfang Dezember in La Chaux-de-Fonds stattfand, der Schweizer Uhrenmetropole in den Neuenburger Bergen.
Die Veranstaltung fand in einem für die Branche besonderen Umfeld statt. Trotz des Booms der mechanischen Uhren, der Anfang des neuen Millenniums eingesetzt hat, liegen die Jahre des verrückten Wachstums heute in der Vergangenheit. Die Schweizer Uhrenindustrie, die vor allem von den Turbulenzen im asiatischen Markt betroffen wurde, sucht neuen Wind. Mehr denn je sind die Akteure auf der Suche nach neuen Trends, die ihren Erfolg andauern lassen könnten (oder auch nicht).
Mehr transparente Gehäuse
Nicolas Babey, Professor an der Fachhochschule HEC Arc in Neuenburg, sieht zwei hauptsächliche Trends. Bei der ersten dieser «ästhetischen Konventionen»Externer Link, wie er sie nennt, geht es darum, technisch disqualifizierte Funktionen wieder zu entdecken und diese für eine zweckentfremdete Verwendung zu nutzen. Er führt dabei vor allem das Beispiel des Chronometers an, den heute kaum noch jemand nutzt. Oder den bekannten Omega-Zeitmesser, der ursprünglich zum Tauchen konzipiert worden war, heute aber vor allem an Cocktailanlässen getragen wird. Wahrscheinlich, weil man dort auf viele «Haie» stosse, witzelt er.
Entlassungen, aber keine Krise
Verschiedene Schweizer Uhrenunternehmen haben in den letzten Monaten Entlassungen vorgenommen. TAG Heuer kündigte im September den Abbau von 46 Stellen in den Bereichen Fertigung und Verwaltung an. Die Neuenburger Firma hat zudem für 49 Mitarbeiter Kurzarbeit verfügt. Cartier tat das Gleiche für seine 230 Angestellten in Villars-sur-Glâne im Kanton Freiburg. Das Unternehmen Greubel Forsey in La Chaux-de-Fonds strich jüngst 10 seiner 115 Stellen.
Nick Hayek, der Chef der Swatch Group, erklärte seinerseits jüngst in einem Interview, die Ankündigung von Entlassungen und Kurzarbeit seien «widersinnig». Er habe nichts dagegen, wenn Unternehmen in einer wirklich problematischen Situation auf Massnahmen wie Kurzarbeit zurückgriffen. «Aber in einem von Wachstum oder Stabilität geprägten Umfeld sendet dies eine gefährliche Botschaft», so Hayek.
Von Januar bis November 2014 verzeichnete die Branche gegenüber dem Vorjahr eine Export-Wachstumsrate von 2,3% auf 20,44 Mrd. Franken. Seit 2010, als die Wachstumsrate der Uhrenexporte 22,1% betragen hatte, war ein steter Rückgang zu beobachten: 2011 hatte das Wachstum noch 19,3% betragen, 2012 noch 10,9% und 2013 nur noch 1,9%.
Die Uhrenbranche ist nach der Pharma- und der Maschinenindustrie die drittgrösste Exportindustrie des Landes. Sie beschäftigt in der Schweiz fast 55’000 Personen.
swissinfo.ch
Die Ästhetisierung der mechanischen Uhrwerke und die Anwendung neuer Materialien ist die andere grundlegende, grössere Entwicklung, die Nicolas Babey beobachtet. Die Uhr und ihr Gehäuse werden immer transparenter, das mechanische Uhrwerk tritt in den Vordergrund und wird, sorgfältig in Szene gesetzt, selber zum Schmuckstück.
Antonio Terranova, künstlerischer Direktor der noch jungen Marke CvstosExterner Link (2005), die sich jedoch schon im sehr geschlossenen Kreis der Schweizer Uhrenindustrie etabliert hat, wird als einer der Vorläufer dieses «Ausziehens» betrachtet. Er hat auch den Ruf, dass er sich gewisse seiner Materialien (Metall, Schmierstoffe etc.) aus anderen Anwendungsbereichen wie der Raumfahrt oder der Mobiltelefonie leiht.
Seine Botschaft an die gegen 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung in La Chaux-de-Fonds war bewusst provokativ: Das Gehäuse sei ein notwendiges Übel, um eine Uhr zu verkaufen. Oder: «Es ist nicht die Marke, die der Star ist, sondern das Produkt.»
Notwendige Erneuerung
Seine allgemeinere Betrachtung, die er am Rande gegenüber swissinfo.ch machte, ist brutal: «Die Schweizer Uhrenindustrie lebt von der Vergangenheit, indem sie nur auf altbekannte, vertraute Rezepte setzt. Heute braucht es eine Erneuerung. Aber viele Marken haben nicht den Mut, zukunftsorientierte Spitzentechnologien anzuwenden.»
Seine Idee für eine durchsichtige mechanische Uhr geht auf eine Frustration aus seiner Kindheit zurück. Terranova wuchs in La Chaux-de-Fonds auf und entwickelte schon früh eine Leidenschaft für Zeitmesser. «Wenn man eine Rolex kauft, ist man einfach gezwungen, zu glauben, was man einem sagt. Mit einem durchsichtigen Gehäuse ist es nicht mehr möglich, zu lügen.»
In der Zwischenzeit haben viele renommierte Marken die Idee übernommen, die mechanischen Uhrwerke sichtbar zu machen. Terranova ist über dieses Nachahmen nicht erstaunt. «Wir haben das Glück, unabhängig zu sein und einen direkten Draht zu unseren Kunden zu haben, auf die fast 60% unserer Kreationen zurückgehen. Die grossen Uhrenkonzerne, die versessen sind auf kurzfristigen Profit, verfügen nicht über diese Fähigkeit, sich rasch in Frage zu stellen.»
Auch wenn die Verankerung in Tradition und klassischer Eleganz eine Notwendigkeit sowie auch ein wichtiges Plus für viele Uhrmacher seien, stellten Kreativitätsverlust und mangelnde Innovation heute eine reale Gefahr dar, vor allem, wenn ein Markenunternehmen von einem oder zwei herausragenden Modellen abhängig sei, unterstrichen andere Teilnehmer des Marketingstages.
Neue Technologien integrieren
Denn wie Patrick le Quément, «Vater» des berühmten Renault Twingo, ausdrücklich hervorhob, «im Bereich Kreation muss man klar in die Zukunft schauen und einen gewissen Mut beweisen», auch wenn er damit die Bedeutung der Erinnerung nicht verneinen wolle.
Ähnlich sah es Vincent Grégoire, Trendjäger bei der Pariser Agentur «NellyRodi»: «Es gibt nichts Schlimmeres als das Unumstrittene, Konsensuelle.» Produkte, die zu Ikonen würden, seien radikal, hätten sich durchgesetzt. Und oft werde man «in Zeiten von Krisen innovativ».
«Man darf vor den neuen Technologien keine Angst haben, sondern muss sie intelligent integrieren. Die Marken, die Erfolg haben, sind jene, die authentisch bleiben», sagte seinerseits Xavier PerrenoudExterner Link, Professor an der Kantonalen Kunsthochschule Lausanne (ECAL). Er verwies dabei vor allem auf das Aufkommen der Smartwatches, der intelligenten Uhren, die sonst kaum Gegenstand der Debatte waren.
Steven Forsey, Mitbegründer der Hochpreissegment-Marke Greubel ForseyExterner Link betonte den emotionalen Aspekt, der mit der mechanischen Uhr verbunden bleiben müsse. «Software ist eine wertvolle Hilfe beim Modellierungs-Prozess, aber sie neigt dazu, die Objekte zu sterilisieren, den taktilen, sinnlichen Aspekt, einen ganz wesentlichen Aspekt der Uhr, zu vernachlässigen. Das Risiko besteht, dass dabei ein gewisses Mass an Menschlichkeit verloren gehen kann.»
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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