«Uhrenbranche produziert keine Innovationen mehr»
Er gilt als einer der besten Spezialisten für komplexe mechanische Uhrwerke: Ludwig Oechslin. Zu seinem Rücktritt nach über 10 Jahren als Leiter des Internationalen Uhrenmuseums in La Chaux-de-Fonds wirft er einen kritischen Blick auf die Schweizer Uhrenindustrie.
Der Winter war gnädig in der Uhrenmetropole La Chaux-de-Fonds, die auf immerhin rund 1000 Meter über Meer liegt.
Eigens für die Uhrenindustrie erbaut, gehört die Stadt im Neuenburger Jura seit 2009 zum Unesco-Weltkulturerbe. Doch sie ist kein Museum, sondern nach wie vor ein wichtiger Standort der Schweizer Uhrenherstellung.
La Chaux-de-Fonds ist auch Sitz des Musée international d’horlogerie (MIH), des wichtigsten Uhrenmuseums der Schweiz. Zehn Jahre lang leitete Ludwig Oechslin das Haus. Jetzt tritt der aussergewöhnliche Uhrmacher zurück. Er hat u. a. die astronomische Uhr für Türler in Zürich entwickelt, eine der kompliziertesten Uhren überhaupt. Ab März will sich Oechslin wieder eigenen Uhren-Schöpfungen widmen.
Geboren wurde er 1952 in Italien. Ludwig Oechslin studierte in Basel und Bern Archäologie, Griechisch, Latein und alte Geschichte, bevor er eine Uhrmacherlehre absolvierte. Er hat zudem in Geschichte und Philosophie doktoriert.
Während seiner Lehre studierte und restaurierte er die farnesianische Uhr im Vatikan, eine astronomische Uhr aus über 400 Stücken, welche die Positionen des Mondes und der Sonne sowie die Mondphasen zeigt.
Er ist auch der Schöpfer der astronomischen Türler-Uhr in Zürich, eine der vollständigsten und komplexesten weltweit. Über eine lange Zeit arbeitete er mit der Marke Ulysse Nardin zusammen.
Seit 2009 besitzt er seine eigene Uhrenmarke in Luzern, ochs und junior. Er entwickelt Uhren, die ein Muster mit orangen Punkten haben, über welche Datum, Monat oder Wochentag ablesbar sind.
Seit 2001 ist er der Leiter des Musée international d’horlogerie (MIH) in La Chaux-de-Fonds. Ende Februar 2014 geht er in Pension.
swissinfo.ch: Hatte die Aufnahme der Stadt in die Liste des Unesco-Welterbes eine Auswirkung auf die Besucherzahlen Ihres Museums?
Ludwig Oechslin: Es gab keine starke Zunahme, die Zahl von jährlich 30’000 bis 40’000 Besuchern ist seit Jahren stabil. Fast 60% kommen aus dem Ausland, der Rest hauptsächlich aus der Deutschschweiz. Was aber zugenommen hat, ist der Anteil jener, die nicht nur das Museum besuchen, sondern auch die Stadt entdecken wollen..
swissinfo.ch: Welchen Zweck soll das Museum erfüllen?
L.O.: Hier soll die Geschichte der Uhrmacherei und die Entwicklung der Zeitnahme und ihre Auswirkungen auf die Menschheit erzählt werden. Darin sind wir weltweit einzigartig, weil wir über die grösste und vollständigste Sammlung verfügen.
Das Museum ist auch Inspirationsquelle für die aktuellen Uhrmacher. In den letzten Jahren habe ich bei diesen einen gewissen Mangel an Kreativität festgestellt. Und weil sie keine Ideen haben, kommen sie hierher und stöbern in der Vergangenheit der Uhrmacherei.
swissinfo.ch: Trotzdem brüsten sich viele Marken mit ihren Neuerungen bezüglich Uhrwerke. Ist dies gerechtfertigt?
L.O.: Nein, die Uhrenindustrie hat in den letzten Jahren keine echten Innovationen hervorgebracht. Gewiss schaffen die Uhrmacher mechanische Kombinationen oder verschieben die Akzente etwas. Aber sie stützen sich dabei auf Dinge, die seit langem existieren. Dadurch soll die Uhr für den Verkauf interessanter gemacht werden, statt ein Problem zu lösen. Ich nenne das «mechanische Bijouterie». Die Innovation liegt im Bereich der Verzierung mit Schmuck, im Design, und vor allem im Marketing.
swissinfo.ch: Weshalb finden die Uhren mit aufwändigen Komplikationen so reissenden Absatz?
L.O.: Je mehr Komplikationen eine Uhr aufweist, also Dinge, die man sehen, aber nicht unbedingt begreifen kann, desto mehr gleicht sie einem Schmuckstück. Dank dieser Strategie hat die mechanische Schweizer Uhr die Uhrenkrise der 1970er-Jahre überlebt.
Schmuckstücke sind ebenso unentbehrlich wie das Brot: Seit dem Zeitalter der Neandertaler braucht das menschliche Wesen Schmuck, um sich zu zeigen, um mit seinen Ebenbürtigen zu kommunizieren. Was rund um die Uhr gelebt wird, ist hauptsächlich die intellektuelle Ordnung. Die Geschichte, welche diese Produkte umrahmt, dient sodann als Kommunikationsbasis. Und weil der Mensch von der Kommunikation abhängt, kann man der mechanischen Schweizer Uhr eine goldige Zukunft voraussagen.
swissinfo.ch: War es seit jeher die Mission der Schweizer Uhrenbranche, den Vermögenden Träume zu bieten?
L.O.: Nein, bis zur Krise der 1970er-Jahre versuchte die Uhrenindustrie, die Konsumenten vom Nutzen und von der Präzision der Uhren zu überzeugen. Erst nach dieser Krise hat man gemerkt, dass ein Interesse an der Schönheit der Mechanik der Uhr selber bestand. Darauf hat man angefangen, damit zu spielen. Dieser Paradigmenwechsel hat die Schweizer Uhrenindustrie gerettet.
swissinfo.ch: Ist das Label «swiss made» ein wesentliches Element dieses Erfolges?
L.O.: Der Begriff «swiss made» ist meiner Ansicht nach fiktiv. Lassen Sie mich das erklären: Alle Grundmaterialien, die es zur Herstellung einer Uhr braucht, etwa Eisen oder Messing, gibt es nicht in der Schweiz. Wenn man sie hier bearbeitet, genügt das, damit sie in den Genuss dieses Labels kommen. Diese Fiktion leuchtet den Konsumenten sicherlich ein, jedoch nicht in materieller Hinsicht.
Die gleiche Logik gilt auch für die Arbeitskräfte. Ohne eingewanderte Arbeiter und französische Grenzgänger gäbe es keine Schweizer Uhrenindustrie.
swissinfo.ch: Aber das Schweizer Know-how, das gibt es?
L.O.: Ja, und es scheint, dass man dieses Know-how nur schwerlich verlagern kann. Dennoch könnten die Uhren, was das Handwerk betrifft, problemlos anderswo hergestellt werden. Aber den Kern des Fachwissens, das sich hier über jahrhundertelange Erfahrungen entwickelt hat, kann nicht per Zauberstab reproduziert werden.
China zum Beispiel versucht seit 30 Jahren, uns einzuholen. Klar, auch China stellt heute hochkomplexe Uhren in gleicher Qualität wie die Schweizer Uhren her. Es fehlt ihnen aber noch der Reichtum dieses Know-hows, was sich in winzigen Details zeigt, aber auch in der Schwierigkeit, neue Kreationen zu realisieren.
swissinfo.ch: Die Uhrenbranche wird je länger je mehr von den grossen Gruppen dominiert (Swatch, Richemont, LVMH, Rolex). Sehen Sie darin eine Gefahr für das Überleben von kleinen, unabhängigen Marken?
L.O.: Wenn es ihnen gelingt, interessante Nischenprodukte zu kreieren, dann haben auch die kleinen Unternehmen eine Überlebenschance. Aber wenn sie das Gleiche machen wollen wie die grossen Gruppen, dann ist ihr Untergang programmiert.
Die Dominanz der grossen Uhrengruppen mit ihren schwerfälligen und wenig flexiblen Strukturen stellen sicherlich ein Risiko für die Diversifizierung der Uhrenbranche dar.
swissinfo.ch: Hat die Dominanz der grossen Uhrengruppen noch andere Konsequenzen?
L.O.: Ja, etwa auf das Sozialleben der Uhrenstädte. La Chaux-de-Fonds bietet eine grosse Zahl an Arbeitsplätzen in der Uhrenindustrie und beherbergt praktisch alle grossen Marken (Patek Philipp, Cartier, Tag Heuer, etc.), die in den letzten zehn Jahren Fabriken gebaut haben, etwa entlang der Strasse nach Le Locle. Die Entscheidungszentren sind aber nicht mehr in La Chaux-de-Fonds, die Firmenbesitzer, die Patrons, bezahlen ihre Steuern anderswo. Sie investieren auch nicht mehr in lokale Vereine, wie etwa in Fussball- oder Eishockeyclubs, die früher den Stolz der Bevölkerung ausmachten. Die Stadt hat auch zahlreiche Geschäfte verloren, und die Strassen sind manchmal etwas tot.
swissinfo.ch: Ist der Uhrmacherberuf heute noch ein Traumberuf?
L.O.: Mich zumindest bringt er noch zum Träumen. Ich habe mit kleinen Stücken begonnen, um dann später äusserst leistungsfähige Uhren zu realisieren, indem ich immer viel Kreativität investierte. Solche Kunstwerke zu schaffen, ist eine grosse Freude.
Zur Zeit sind die meisten industriellen Uhrmacher Spezialisten im Zusammensetzen von Teilen – Rädchen, Zähne usw. – , die von Maschinen hergestellt werden. Dagegen habe ich absolut nichts, persönlich aber würde ich nicht auf meine Rechnung kommen.
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein und Renat Künzi)
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