Leo Docherty: «Wir sind beide Inseln, aber auf sehr unterschiedliche Weise»
Die Schweiz und das Vereinigte Königreich sind beide auf der Suche nach dem richtigen Verhältnis zur Europäischen Union. Gleichzeitig versuchen sie, ihre bilateralen Beziehungen zu stärken, wie der UK Minister for Europe Leo Docherty im Interview erklärt.
Docherty war Ende Februar für einen zweitägigen Arbeitsbesuch in der Schweiz. Dabei traf er sich mit den Schweizer Staatssekretärinnen Livia Leu, Auswärtige Angelegenheiten, und Martina Hirayama, Bildung, Forschung und Innovation. Der UK Minister for Europe entspricht dem Amt eines Staatssekretärs in der Schweiz.
Vor einem knappen Jahr beschlossen das Vereinigte Königreich und die Schweiz, die bilaterale und internationale Zusammenarbeit zu verstärken. Und kürzlich hat die Schweizer Regierung angekündigt, das Handelsabkommen zwischen den zwei Staaten auszubauen.
swissinfo.ch: Alle scheinen der EU beitreten zu wollen, nur die Schweiz und das Vereinigte Königreich nicht. Was eint die beiden Länder in dieser Aussenseiterrolle?
Leo Docherty: Die Schweizer:innen haben im Herzen Europas eine grosse Nation aufgebaut, die sich von keinem Druck abschrecken lässt. Die Brit:innen sind ein Inselvolk, dessen lange Geschichte und Schicksal durch das Meer geprägt wurde. Wir sind beide «Inseln», aber auf sehr unterschiedliche Weise.
Zusammen sind wir wichtige Partner, und das liegt daran, dass das Vereinigte Königreich und die Schweiz so viele Gemeinsamkeiten haben. Wir haben diese starke Beziehung zueinander, gerade weil sie auf gemeinsamen Werten beruht. Wir sind beide vom Handel abhängig. Die Schweiz ist der drittgrösste Handelspartner Grossbritanniens ausserhalb der EU. Uns verbindet die Liebe zu Recht und Ordnung, der Wunsch, mit unseren Nachbarn in Frieden zu leben, und ein gemeinsames Engagement für die Wahrung der Freiheit des Einzelnen.
Beide Länder sind auch im EU-Forschungsprogramm Horizon Europe an den Rand gedrängt. Nach dem Ausschluss unterzeichneten sie ein bilaterales Abkommen zur Forschungszusammenarbeit. Welche konkreten Projekte werden im Rahmen dieses Abkommens durchgeführt?
Letztes Jahr haben unsere Aussenminister in London ein Memorandum of Understanding über die Zusammenarbeit unterzeichnet, in dem sie sich verpflichten, in den Bereichen Forschung und Innovation mehr gemeinsam zu tun. Dies ist ein Bereich, den Staatssekretärin Hirayama und ich bei unserem Gespräch während meines Besuchs angesprochen haben.
Was spezifische Projekte betrifft, so hat die Royal Society ihr prestigeträchtiges Newton International Fellowship Programme eröffnet, von dem wir hoffen, dass es viele Bewerber:innen aus der Schweiz anziehen wird. Auch die Exzellenzstipendien der Schweizer Regierung, die britischen Forscher:innen offen stehen, werden im Laufe des Jahres eingeführt. Diese Programme werden uns helfen, aufstrebende Talente anzuziehen und eine global vernetzte Forschungs- und Innovationsbelegschaft aufzubauen.
Im Bereich der Raumfahrt wurde kürzlich eine britisch-schweizerische Absichtserklärung zwischen den Leitern unserer Raumfahrtbehörden unterzeichnet. Dies ist ein wichtiger und fortschrittlicher Schritt, der die gemeinsamen Prioritäten und Ambitionen hervorhebt und den Dialog über die beiderseitigen Interessen in der Raumfahrt verstärkt.
Und im Bereich der Innovation wird im Juni in Basel ein britisch-schweizerisches Innovationsforum stattfinden, bei dem eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Life Sciences im Mittelpunkt stehen wird.
Die Schweizer Regierung hat in diesem Monat das MandatExterner Link für die Aufnahme von Verhandlungen über die Weiterentwicklung des bilateralen Handelsabkommens genehmigt. Sie spricht von einem umfassenden und «erweiterten» Handelsabkommen. Was sollte es nach Ansicht des Vereinigten Königreichs enthalten? Und wann kann mit einem Abkommen gerechnet werden?
Es gibt enorme Möglichkeiten und viel zu gewinnen, wenn wir unsere bestehenden Handelsbeziehungen ausbauen. Daher freue ich mich, dass wir voraussichtlich im Frühjahr Verhandlungen über ein neues Freihandelsabkommen aufnehmen werden.
Wir hoffen, dass es sich auf eine grössere Zahl von Schlüsselbereichen erstrecken wird, darunter Investitionen, Digitaltechnik und Daten, und auch unsere langjährige Partnerschaft in Forschung und Entwicklung widerspiegelt. Es bietet auch die Möglichkeit, die Zusammenarbeit in Bereichen von beiderseitigem Interesse zu verstärken, die durch den Handel unterstützt werden können, wie z.B. unsere Ambitionen zur Bekämpfung des Klimawandels.
Ich weiss, dass führende Vertreter:innen der britischen und schweizerischen Wirtschaft von einem erweiterten Freihandelsabkommen begeistert sind. Es wird Möglichkeiten bieten, unseren Handel weiter auszubauen, unter anderem durch die Abschaffung und Senkung von Zöllen, die nicht unter das derzeitige Handelsabkommen fallen, und den Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse. Es könnte neue Modelle für die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen sowie mögliche Vorteile für den gesamten Dienstleistungssektor bieten.
Letztes Jahr haben wir uns darauf geeinigt, das Abkommen über die Mobilität von Dienstleistungserbringern um weitere drei Jahre zu verlängern, um den Anbieter:innen beider Länder einen hochwertigen Zugang zu den Märkten der jeweils anderen Seite zu sichern. In den Gesprächen für ein erweitertes Freihandelsabkommen wird geprüft, wie den Unternehmen am besten langfristige Sicherheit in Bezug auf die Mobilität geboten werden kann.
Die Schweiz ist der zehntgrösste Handelspartner des Vereinigten Königreichs. Umgekehrt ist dieses der achtgrösste Handelspartner der Schweiz, nimmt man die Edelmetalle aus. Welchen Unterschied könnte ein erweitertes Handelsabkommen machen?
Der Handel zwischen unseren beiden Ländern hat sich in den letzten 20 Jahren verdreifacht, und wir haben die grosse Chance, diese Beziehungen durch Verhandlungen über ein verbessertes Freihandelsabkommen zwischen Grossbritannien und der Schweiz auszubauen.
Ein Freihandelsabkommen wird unsere beiden Volkswirtschaften ankurbeln, die Investitionen steigern und unsere Geschäftsbeziehungen und unser Handelsumfeld noch enger zusammenführen.
So machen beispielsweise Dienstleistungen über 70% des BIP unserer beiden Volkswirtschaften aus, und die Exporte von Finanzdienstleistungen aus dem Vereinigten Königreich in die Schweiz haben einen Wert von fast 2,25 Milliarden Franken, obwohl es derzeit kein massgeschneidertes Handelsabkommen in diesem Bereich gibt.
Ein weiterer Bereich, in dem wir noch weiter gehen können, ist der digitale Bereich: 85% der britischen Dienstleistungsexporte in die Schweiz wurden im Jahr 2020 digital erbracht.
Seit mehreren Jahren verhandeln die Schweiz und Grossbritannien über ein Post-Brexit-Finanzdienstleistungsabkommen. Kann man davon ausgehen, dass das Abkommen bis Ende Sommer 2023 abgeschlossen sein wird, wie das Schweizer Finanzministerium erklärt hat?
Wir sind entschlossen, unsere Zusammenarbeit im Bereich der Finanzdienstleistungen zu vertiefen, indem wir ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung aushandeln. Dieses erste Abkommen seiner Art ist eine Gelegenheit für die engste Zusammenarbeit zwischen zwei fortschrittlichen Finanzzentren. Die Verhandlungen werden voraussichtlich im Sommer abgeschlossen.
Der ukrainische Premierminister Denys Shmyhal sagte, dass die zweite Ukraine Recovery ConferenceExterner Link im Juni in London die internationale Finanzierung für die Reparatur der zerstörten Infrastruktur im Wert von bis zu 700 Milliarden Dollar festlegen soll. Wie hoch werden die Schäden in der Ukraine derzeit geschätzt? Wird die Konferenz festlegen, welche Länder und Organisationen diese Mittel bereitstellen werden?
Das Vereinigte Königreich und die Schweiz sind fest entschlossen, die wirtschaftliche Stabilität der Ukraine zu gewährleisten. Die Weltbank hat den Wiederaufbaubedarf der Ukraine auf über 349 Milliarden Dollar geschätzt. Dieser Betrag wird sich angesichts der russischen Angriffe auf die zivile kritische Infrastruktur der Ukraine mit Sicherheit noch erhöhen.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die internationale Gemeinschaft alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Regierung der Ukraine zu unterstützen. Um die enormen Kosten des Wiederaufbaus zu bewältigen, ist die Mobilisierung des Privatsektors unerlässlich. Wir entwickeln derzeit Optionen, um private Investitionen für diesen Zweck freizusetzen, und sind an einer Zusammenarbeit mit internationalen Partnern interessiert.
Die diesjährige Ukraine Recovery Conference, die wir gemeinsam mit der Ukraine vom 21. bis 22. Juni in London ausrichten, wird auf den in Lugano gefassten Beschlüssen aufbauen und ein breites Spektrum von Akteuren aus der internationalen Gemeinschaft, dem Privatsektor und der Zivilgesellschaft zusammenbringen, um die internationale Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten. Sie wird der Ukraine dabei helfen, die Investitionen und das Fachwissen zu entfalten, die sie für den Wiederaufbau einer widerstandsfähigen Demokratie mit einer grünen und modernisierten Wirtschaft benötigt – sowie ihrer Fähigkeit zur Abschreckung und zum Widerstand gegen künftige russische Angriffe.
Die EU hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet und erörtert mit globalen Partnern die mögliche Verwendung der im Rahmen der Sanktionen eingefrorenen russischen Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine. Sollten diese Gelder zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine verwendet werden?
Die Strafverfolgungsbehörden im Vereinigten Königreich sind derzeit in der Lage, ausländische Vermögenswerte zu beschlagnahmen, die mit Kriminalität oder rechtswidrigem Verhalten in Verbindung stehen, indem sie von den Befugnissen des Proceeds of Crime Act 2002 Gebrauch machen.
Wir prüfen, was wir langfristig tun können, um mit russischen Vermögenswerten Geld für den Wiederaufbau der Ukraine zu beschaffen. Wir prüfen, welche Möglichkeiten es dafür gibt, und arbeiten eng mit dem britischen Finanzministerium zusammen, um Fortschritte zu erzielen.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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