Viktoriia und Polina sind ausgezogen
Nach fast einem halben Jahr haben die Kriegsflüchtlinge aus Mykolajiw eine Wohnung gefunden. Die Beherbergung von Viktoriia und Polina Bilychenko war eine wertvolle Erfahrung. Sie hat diesem grauenvollen Krieg ein Gesicht gegeben.
Millionen Menschen haben die Ukraine verlassen müssen oder sind Vertriebene im eigenen Land. Die 34-jährige Viktoriia und ihre 11-jährige Tochter Polina sind im März zwar dem Bombenhagel entkommen, leiden aber dennoch unter dem russischen Angriffskrieg, denn sie mussten ihre Familie, ihr Zuhause, ihr bisheriges Leben zurücklassen. Gelandet sind sie zufällig bei mir in Bern.
Auf Reportagen während meiner Zeit als Journalistin habe ich in Bosnien und Georgien auch schon kriegsversehrte Dörfer gesehen und bin traumatisierten Menschen begegnet. Diesmal aber ist es anders: Viktoriia und Polina lebten in meinem Haus, wir teilten Küche und Bad, hatten einen gemeinsamen Alltag. Damit wurde dieser Krieg konkret, rückte näher.
Als das Auto mit Taschen, Matratzen, Geschirr und vielem mehr fertig beladen ist und wir uns verabschieden, sagt Viktoriia: «I will not forget this time till the end of my life.» Mir geht es genauso: Die Monate mit den beiden werde ich nie vergessen.
Stark sein in harten Zeiten
Ich habe Viktoriia als starke Persönlichkeit kennengelernt, bin voller Respekt dafür, wie tapfer sie mit dieser schwierigen Situation umgeht und einen vordergründig «normalen» Alltag lebt: Sie lernt intensiv Deutsch, hilft ihrer Tochter bei den Hausaufgaben, erledigt ihren Job als IT-Coach, stellt Blumen auf den Tisch, erkundet ihre Umgebung, kommt gut zurecht mit dem ganzen Bürokram, schaut Filme, geht ab und zu ins Museum, joggt an der Aare usw.
Und dennoch: Ihr Leben ist erschüttert, die Zukunft unsicher. Sie und ihr Mann Andrei haben sich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Beide leiden unter dieser Trennung. Immer mehr, es sei schlimm, sagte sie mir kürzlich. Und keiner weiss, wie lange der Krieg noch dauern wird. Das führt unweigerlich auch zu Verzweiflung und Ohnmacht, zu Wut und Stress.
Und Polina? Auch ihr fehlt natürlich der Vater, und sie vermisst ihre alte Schule, ihre Freundinnen, die Grosseltern, auch wenn sie sich in ihrer neuen Klasse trotz Sprachproblemen recht gut integriert hat, soweit ich das beurteilen kann. Jedenfalls hat sie schon Freund:innen gefunden, beim Fussballspielen ein paar Goals geschossen und lernt – neben Deutsch – auch noch Französisch.
Bald kommt die Mutter
Viktoriias und Polinas neues Zuhause ist nur einen Katzensprung von meinem Haus entfernt, auf der anderen Seite der Aare. Vor kurzem kamen sie zum Raclette, und wer weiss, vielleicht komme ich bald wieder in den Genuss von Borschtsch, dem ukrainischen Nationalgericht, diesmal zubereitet von Marina, Viktoriias Mutter. Sie wird in den nächsten Tagen hier erwartet.
Aber obwohl die Lage in der umkämpften Stadt Mykolajiw prekär ist, hat sie Mühe, ihre Heimat, ihre Wohnung zu verlassen, hat sie doch fast ihr ganzes Leben dort verbracht. Mit 60 Jahren nochmals neu anfangen? In ein unbekanntes Land fliehen, dessen Sprache, Kultur man nicht kennt? Das stelle ich mir sehr schwierig vor.
Polina: Ihren Namen hat die 11-Jährige kurz nach ihrer Ankunft vor einem halben Jahr in Bern an ihre Zimmertüre geklebt. Ich lasse ihn noch eine Weile stehen – als Erinnerung an eine intensive, lehrreiche Zeit mit den beiden unter meinem Dach.
Mit dieser Folge endet die Serie über die ukrainische Flüchtlingsfamilie in Bern. Alle vergangenen Folgen zum Nachlesen und Teilen finden Sie unten im Link-Karussell.
Editiert von: Marc Leutenegger
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