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Ukraine-Krieg: Estlands Ex-Präsident fordert Aufhebung des Waffenexport-Verbots

Estonian President Ives
Toomas Hendrik llves; Illustration: Helen James / SWI swissinfo.ch

Neutral zu sein, sei sehr einfach, wenn man von der Nato umgeben ist, sagt der ehemalige estnische Präsident Toomas Ilves in einem exklusiven Interview mit SWI swissinfo.ch. Ilves ist enttäuscht, dass die Schweizer Behörden gegenüber der Ukraine an ihrer Neutralitätspolitik festhalten.

Er könne die Logik hinter der Weigerung der Schweizer Regierung, das Wiederausfuhrverbot von Waffen durch Drittstaaten aufzuheben, nicht verstehen, sagt Ilvez. «Das ist, als würde man eine Panzerabwehrwaffe verkaufen, um sie als Dekoration zu verwenden.»

Toomas Hendrik llves ist estnischer Politiker und Diplomat. Er ist ehemaliger Präsident von Estland (2006-2016) und ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments. Seine Eltern flohen in die Vereinigten Staaten, nachdem die Sowjetunion Estland und die beiden anderen baltischen Staaten 1940 überfallen und besetzt hatte.

SWI swissinfo.ch: In globalen Konflikten nimmt die Schweiz traditionell eine neutrale Position ein. Wie nehmen Sie die Haltung der Schweiz im Ukraine-Krieg wahr und welche Auswirkungen hat sie, wenn überhaupt, auf die diplomatischen Bemühungen gehabt?

Toomas Ilves: Ich fand es ziemlich bizarr, als der [Schweizer] Präsident [Alain Berset] sagte: ‹Wir können keine Waffen exportieren, die im Krieg eingesetzt werden.› Warum stellen Sie dann Waffen her? Ich meine, stellen Sie etwa Museumsstücke her? Was ist der Sinn dahinter? Stellen Sie doch Ihre Waffenindustrie ein. Er hat die Schweiz lächerlich gemacht.

Atomwaffen werden immer noch produziert, ohne dass sie eingesetzt werden…

Atomwaffen werden alt, genau wie deren Technologie.

Glauben Sie, dass die Schweiz noch einen Beitrag zum Beenden des Kriegs in der Ukraine leisten kann?

Sind wir mal ehrlich, es ist erstens sehr einfach, neutral zu sein, wenn man von der Nato umgeben ist. Und zweitens glaube ich nicht, dass Länder, die wie meines überfallen worden sind, der Schweizer Regierung viel Sympathie entgegenbringen.

Estland war ein neutrales Land. Von 1939 bis 1940 wurde es zuerst von den Russen, dann von den Nazis und dann noch einmal von den Russen überfallen. Neutralität ist eine feine Sache, wenn man von der Nato umgeben ist. Aber sie funktioniert nicht.

Wie beurteilen Sie als ehemaliger Präsident Estlands den Führungsstil des russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Auswirkungen auf die russische Aussenpolitik?

Es ist ihm gelungen, die letzten Überreste der Demokratie in Russland zu zerstören, und er hat jede Form der Opposition entweder durch Inhaftierung oder Ermordung ausgeschaltet. Das ist seine Wirkung. Wir haben es hier mit einer fast totalitären Diktatur zu tun.

Wie haben sich Ihrer Meinung nach die internationalen Sanktionen gegen Russland auf das Verhalten Russlands in Bezug auf die Ukraine ausgewirkt? Können Sanktionen wirksam sein, um Aggressionen zu stoppen?

Auf jeden Fall, was das Technische betrifft. Warum müssen sie [die russischen Soldaten in der Ukraine] enorme Mengen an Kühlschränken und Waschmaschinen [nach Hause] importieren? Weil sie die Chips für ihre Lenkraketen nicht bekommen können. In dieser Hinsicht scheinen die technologischen Sanktionen zu wirken.

Und Russland scheint stark zu versuchen, die Ölsanktionen zu umgehen. Sanktionen brauchen Zeit, bis sie Wirkung zeigen.

In der Zwischenzeit werden die Sanktionen von der Türkei, von Kasachstan und Armenien umgangen. Das ist immer ein Problem. Es kann ein Abkommen zwischen der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten, Kanada, Japan, Südkorea und so weiter geben, aber Länder wie die Türkei, Armenien oder Kasachstan versuchen, daraus Profit zu schlagen.

In Anbetracht der anhaltenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen, welche Rolle kann die internationale Gemeinschaft bei der Lösung des Konflikts in der Ukraine einnehmen?

Das Einzige, was [Wladimir] Putin respektiert, sind Gewalt und Macht. Wir müssen mit dem Zaudern aufhören. Seit Deutschland letzten Februar 5000 Helme [an die Ukraine] gegeben hat, haben wir einen langen Weg zurückgelegt. Aber klar ist, die Ukrainer können ohne ernsthafte militärische Unterstützung nicht gewinnen.

Es hätte massive Zerstörungen in Kiew gegeben, hätten die Ukrainer keine «Patriot»-Raketen gehabt, um die auf sie gerichteten Raketen abzuschiessen. Wir brauchen eine geschlossene Unterstützung des Westens.

Aber auch hier hat der Westen die Karte der Selbstabschreckung gespielt. Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen und alle sagen: ‹Oh nein, wir können nicht zulassen, dass die Ukrainer mehr Ausrüstung bekommen.› Dann begreift der Westen langsam, dass kein Dritter Weltkrieg startet, wenn wir ihnen Panzerabwehrraketen und Raketenabwehrsysteme geben.

Und was noch wichtiger ist: Der Westen begreift zu wenig, dass man die vergangenen 80 Jahre des Völkerrechts über den Haufen werfen kann, wenn man der Ukraine nicht hilft. Denn im Grunde genommen sagt Putin der zivilisierten Welt: ‹Ich kann überfallen und es gibt keine Konsequenzen.›

Angesichts Ihrer Erfahrung in der internationalen Diplomatie, was wäre Ihrer Meinung nach der effektivste Weg, um die Situation sofort zu deeskalieren?

Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, jetzt zu deeskalieren. Dies würde bedeuten, dass Russland die Verteidigung der illegal besetzten Gebiete beibehalten und weiter verstärken kann.

Meiner Meinung nach brauchen wir jetzt das Gegenteil – einen sehr starken Vorstoss, um die besetzten ukrainischen Gebiete zu befreien. Besonders, weil wir wissen, dass sie in den besetzten Gebieten die schrecklichsten Kriegsverbrechen begehen.

Wenn ich höre, dass Menschen sagen: ‹Wir sollten deeskalieren und einen Waffenstillstand schliessen›, dann heisst das im Grunde: ‹Nur zu, Russland, vergewaltige, töte, foltere.›

Deeskalation ist also etwas, das man sagen kann, wenn man in der Badewanne sitzt und einen Rosé trinkt. Aber wir reden hier über Folter- und Vergewaltigungsopfer.

Die meisten Länder, die wie Estland und andere baltische Staaten unter der sowjetischen Besatzung gelitten haben, stehen der russischen Aggression geschlossen entgegen. Denken Sie, andere europäische Länder sollten ihrem Beispiel folgen?

Was wir in Europa beobachten, ist eine Spaltung zwischen den Ländern, die von der Sowjetunion besetzt waren, und den anderen Ländern. In diesem Land hat jeder einen Verwandten oder einen Grosselternteil, jemand, der unter der sowjetrussischen Herrschaft gelitten hat.

Die estnische Premierministerin [Kaja Kallas] wird als «Falke» bezeichnet. Ihre Mutter war sechs Monate alt, als sie [1940] in einem Viehwaggon nach Sibirien deportiert wurde, wo sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr blieb und erst dann nach Estland zurückkam.

Wir haben also Erfahrung und diese bevormundende Haltung von Leuten, die das nie erlebt haben und uns sagen, wir wüssten nicht, wie man mit Russland umgeht, ist unausstehlich.

SWI: Sie meinen, weil einige Politiker nur in Allgemeinheiten über den Krieg sprechen und nicht in der Lage sind, die privaten Tragödien hinter diesen Zahlen zu sehen?

Nun, ich meine die Unfähigkeit vor allem westlicher, europäischer Politikern, zu verstehen, was vor sich geht, und die Abwertung der Erfahrungen der Menschen im Osten. Das ärgert mich, seit ich im Times Literary Supplement eine Rezension von Alexander Solschenizyns Archipel Gulag gelesen habe.

Der Rezensent schrieb: ‹Oh, Solschenizyn weiss nicht, wovon er spricht.› Das ist die bizarre Unfähigkeit der Menschen, zu sehen, was passiert ist. Und man kann jahrelang von westlichen Politikern belehrt werden, dass sie wissen, wie man mit den Russen auskommt, obwohl sie keine Erfahrung mit den Russen haben.

Einige argumentieren, dass härtere Sanktionen gegen Russland negative wirtschaftliche Folgen für die Länder haben könnten, die sie verhängen. Warum überwiegen Ihrer Meinung nach die potenziellen langfristigen Vorteile strengerer Sanktionen die kurzfristigen wirtschaftlichen Herausforderungen?

Wir befinden uns in einem Krieg. In einem Krieg bringen wir alle Opfer. Wir zahlen höhere Energiekosten, weil wir kein russisches Öl und Gas verwenden. Das betrifft jeden. Die kurzfristigen Probleme für die Menschen hier spielen einfach keine Rolle, wenn es um die Kriegsverbrechen geht, die gerade in der Ukraine begangen werden.

Sollte es spezifischere Bestimmungen oder Überlegungen geben, um sicherzustellen, dass das Wohlergehen der russischen Bevölkerung nicht beeinträchtigt wird, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu lebenswichtiger humanitärer Hilfe und Dienstleistungen?

Diese Ausnahmen gibt es bereits. Das ist kein Problem. Wie Sie wissen, gibt es keine Einschränkungen für humanitäre Hilfe. Die gab es schon immer, auch während den Sanktionen gegen den Iran.

Was halten Sie von der Idee, dass russische Bürger, die nicht direkt am Krieg beteiligt waren, auch nicht von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen betroffen sein sollten?

Ich denke nicht, dass Ukrainer, die zufällig in der Ukraine leben, von russischen Kriegsverbrechen betroffen sein sollten. Ich kümmere mich nicht um Menschen, denen Sanktionen Umstände bereiten könnten, wenn in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen werden. Und ich sehe diese Menschen auch nicht protestieren. Also gehen Sie protestieren. Vielleicht wird das meine Meinung ändern.

Einige dieser Demonstranten in Russland sitzen jetzt für 25 Jahre im Gefängnis…

Ja, es gibt einige Leute im Gefängnis, aber die Umfrage des Levada-Zentrums scheint zu zeigenExterner Link, dass [in Russland] die Unterstützung für den Krieg zugenommen hat.

Es gibt immer noch die Tochter von [Wladimir Putins Sprecher Dmitri] Peskow, die ein Praktikum im Europäischen Parlament macht, den russischen Staat, der mit einem Atomschlag auf LondonExterner Link droht, oder die Frau des stellvertretenden Verteidigungsministers, die in Paris auf Einkaufstour geht Externer Linkund für Zehntausende von Euro einkauft, weil sie reingelassen wird. Diese Dinge sollten nicht passieren.

Einige Leute glauben, dass russische Oligarchen und ihre Vermögen bei Banken in der Schweiz nicht stark von den Sanktionen betroffen sind. Was ist Ihre Meinung dazu?

Ich weiss wirklich nichts über Schweizer Banken, die mit Russland Geschäfte machen. Aber die Raiffeisenbank in Österreich vergibt Kredite an russische Soldaten. Ich würde Banken, die Russland unterstützen, grundsätzlich sanktionieren.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Claire Micallef

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