Explainer: Wie würde heute ein Atomkrieg aussehen?
Die heutigen Atomwaffen sind viel kleiner, präziser und leistungsfähiger als jene, die im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden waren. Ein Atomkrieg hätte damit weit über die ukrainischen Grenzen hinaus verheerende Auswirkungen.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat gesagt, wer versuche, sein militärisches Vorgehen in der Ukraine zu verhindern, habe mit «noch nie dagewesenen Konsequenzen» zu rechnen. Die Androhung eines Atomkonflikts versetzt die ganze Welt in Alarmbereitschaft und dreht die Uhr um 60 Jahre zurück, als die Sowjetunion mit einem Atomkrieg drohte, indem sie auf Kuba ballistische Raketen installierte.
Spätere Abrüstungsbemühungen haben Russland nicht davon abgehalten, seine Technologie weiterzuentwickeln. Heute verfügt das Land mit fast 6000 Sprengköpfen über das grösste Atomwaffenarsenal der Welt. Das macht praktisch die Hälfte aller weltweit existierenden Atomwaffen aus.
Seit den Atombombenabwürfen der USA auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 hat sich die Nukleartechnologie erheblich weiterentwickelt. Sie ist komplexer geworden: Die Vielfalt der entwickelten Waffen erlaubt sowohl grossflächige als auch gezielte Angriffe mit grösserer Reichweite und viel grösserer Zerstörungskraft.
SWI swissinfo.ch zeigt auf, was Atomwaffen heute sind und was ein Atomkrieg für die Welt bedeuten würde.
Wie hat sich die Atomwaffentechnologie seit 1945 entwickelt?
Die 1945 auf Hiroshima abgeworfene Bombe wog rund 4,5 Tonnen und tötete über 100’000 Japaner:innen. Im Laufe der Zeit wurden erhebliche Fortschritte bei der Miniaturisierung der Technologie gemacht: Die heutigen Atomwaffen sind kompakter und wiegen in der Regel nur einige hundert Kilo, haben aber das Potenzial, Millionen von Menschen zu töten.
Diese Eigenschaften ermöglichen es, einen Atomangriff mit einer Vielzahl von Mitteln durchzuführen, von ballistischen Raketen bis hin zu Marschflugkörpern, die jeden Teil der Erde erreichen.
«Viele dieser Waffen sind viel kleiner, leichter und einfacher zu handhaben als früher. Ausserdem ist ihre Sprengkraft viel grösser», erklärt Stephen Herzog, Forscher am Center for Security Studies CSS der ETH Zürich. Einige der Atomwaffen, über die Russland heute verfügt, sind mehr als 50-mal so stark wie die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen.
Wie sieht das russische Atomwaffenarsenal aus?
Russland verfügt über ein sehr breit gefächertes Atomwaffenarsenal, das es ihm ermöglicht, Angriffe über Land-, See- und Luftwaffenplattformen auszuführen. Dies ist die so genannte «nukleare Triade», über die auch die Vereinigten Staaten und China verfügen. Bei den landgestützten Waffen handelt es sich um ballistische Raketen oder Marschflugkörper, von denen einige eine interkontinentale Reichweite haben und sehr weit entfernte Ziele wie China oder die Vereinigten Staaten erreichen können. Andere haben eine kürzere Reichweite und sind auf den europäischen Kontinent gerichtet.
Seegestützte Raketen hingegen werden von U-Booten aus gestartet, die schwer zu orten sind, da sie rund um den Globus unter Wasser versteckt sein können. Schwerere Bomben werden nach wie vor auf dem Luftweg in strategischen Bombern transportiert, die grosse Entfernungen zurücklegen. Der Vorteil der Triade besteht darin, dass sie sowohl eine grössere Abschreckung als auch eine überlegene strategische Fähigkeit und Flexibilität bietet. Diese verstreuten Plattformen machen ein Arsenal auch «überlebensfähiger» oder schwieriger zu zerstören in einem Krieg.
Wie können die verschiedenen Waffentypen eingesetzt werden?
Strategische Atomwaffen sind für den Einsatz gegen Städte gedacht. «Sie können aber auch gegen sehr grosse und wichtige Militäreinrichtungen wie Stützpunkte und Marinestreitkräfte auf See eingesetzt werden», erklärt Herzog.
Taktische oder nicht-strategische Waffen hingegen sind Waffen mit geringer Sprengkraft, die auf dem Schlachtfeld als «Kräfteausgleich» eingesetzt werden können, um einen Konflikt zu entscheiden. Russland verfügt über schätzungsweise 1900 taktische Atomwaffen.
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Welche Konfliktszenarien sind möglich?
Sollte Russland beschliessen, die Ukraine oder ein anderes Land, das zur Unterstützung der ukrainischen Regierung eingreift, nuklear anzugreifen, wird es wahrscheinlich eher taktische Atomwaffen auf dem Schlachtfeld einsetzen als grosse strategische Sprengköpfe. Denn die könnten von den USA als direkter Angriff auf die Nato interpretiert werden, sagt der Forscher Alexander Bollfrass vom CSS der ETH Zürich.
Bei einem gross angelegten Angriff bestünde die Gefahr, dass die Abschreckungskräfte der Nato-Verbündeten aktiviert werden, so Bollfrass. Der Einsatz taktischer Nuklearwaffen würde es der russischen Armee ermöglichen, militärisch strategische Punkte in der Ukraine (z.B. Flugplätze) zu zerstören oder eine deutliche politische Botschaft an die ukrainische Regierung zu senden, indem sie Sprengköpfe direkt auf Raketen montiert, die sie bereits einsetzt.
Neben den vorsätzlichen Angriffen ist auch das Risiko von Unfällen zu bedenken, das beim Transport von Atomsprengköpfen oder bei Kämpfen in der Nähe von Atomkraftwerken steigt – wie bereits in der Nähe von Saporischschja der Fall, wo sich das grösste Atomkraftwerk Europas befindet: Die russische Armee wurde kürzlich beschuldigt, das Kraftwerk durch Beschuss von Gebäuden beschädigt zu haben, bevor sie es einnahm. Diese Tat stellt eine ernste Bedrohung für die Sicherheit ganz Europas dar.
Nukleare Spannungen und Waffen in Alarmbereitschaft erhöhen zudem das Risiko von Fehleinschätzungen und der Eskalation von Konflikten.
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Welchen Schaden könnten die heutigen Atomwaffen anrichten?
Wenn Russland sein gesamtes Atomwaffenarsenal einsetzen würde, wäre ein Teil der Erde nicht mehr bewohnbar, sagt Herzog. Aber auch der Einsatz nur eines kleinen Teils dieses Arsenals hätte langfristig verheerende Folgen.
«Der atmosphärische Überdruck, der durch die Schockwelle der Nuklearexplosion verursacht wird, wäre in der Lage, ganze Gebäude in einer Entfernung von bis zu zehn Kilometern zu zerstören, ausser solche aus gehärtetem Stahlbeton», erklärt er.
Hunderttausende Menschen könnten durch Trümmer oder einstürzende Gebäude sofort getötet oder verletzt werden. Ausserdem würde die Explosion sichtbare, infrarote und ultraviolette Lichtwellen erzeugen, die sich zu einer Art grossem, sehr heissem Feuerball verbinden würden, der Verbrennungen dritten Grades in einem noch grösseren Radius als die Explosionsschäden verursachen könnte.
Die kontaminierte Bevölkerung wäre dann mit dem radioaktiven Fallout konfrontiert, der Tumore und Geburtsfehler verursachen kann.
Welche Risiken bestehen für den Rest der Welt?
Mit der heutigen Atomwaffentechnologie ist es möglich, ganze Metropolen und Landstriche auch über grosse Entfernungen hinweg auszulöschen. «Jede grössere Stadt in den USA ist potenziell eine halbe Stunde von der Zerstörung entfernt, jede grössere Nato-Stadt in Europa ist in etwa zwanzig Minuten mit einer ballistischen Rakete erreichbar», sagt Herzog.
Die Schweiz und Österreich sind aufgrund ihrer Neutralität weniger gefährdet, aber die Auswirkungen der Strahlung könnten in ganz Kontinentaleuropa enorm sein und wären mit denen einer Kernschmelze in einem Kernkraftwerk vergleichbar, so der Forscher.
Wie wahrscheinlich ist ein Atomangriff?
Bislang ist die Wahrscheinlichkeit, dass Russland Atomwaffen einsetzt, noch gering, aber das Risiko ist nicht gleich null. Stattdessen scheint es wahrscheinlicher, dass Putin sich für den Einsatz chemischer Waffen vor dem Einsatz von Atomwaffen entscheiden würde. Diese Waffen werden vom russischen Präsidenten nicht nur als weniger tabu angesehen, sondern erleichtern auch das Leugnen von Beweisen, denn «im Falle eines Angriffs ist es einfacher, die ukrainischen Streitkräfte zu beschuldigen, während ein nuklearer Angriff keinen Zweifel daran lässt, wer verantwortlich ist», so Herzog.
Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass der laufende Krieg nicht nur zwischen Angreifer Russland und der Ukraine stattfindet, sondern zwischen Russland und der vom Westen unterstützten Ukraine. Eine Eskalation ist nicht auszuschliessen. Deshalb ist die nukleare Bedrohung so beängstigend, sind sich Herzog und Bollfrass einig.
Die Schweiz und der Atomwaffenverbotsvertrag
Dieser 2017 verabschiedete und im Januar 2021 in Kraft getretene Vertrag der Vereinten Nationen verbietet erstmals verbindlich den Einsatz oder die Androhung des Einsatzes, die Entwicklung, den Test und die Lagerung von Atomwaffen. Das Dokument wurde bisher von 86 Ländern unterzeichnet, nicht aber von der Schweiz – obwohl sie für die Schaffung des Abkommens gestimmt hat – und auch von keinem Land, das Atomwaffen besitzt.
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