Wie aus der Zuwanderungs- eine Arbeitslosen-Vorlage wurde
Seit bald drei Jahren dominiert die Umsetzung der "Masseneinwanderungs-Initiative" (MEI) die politische Agenda in der Schweiz. Nachdem das Geschäft in den Räten mehrmals hin- und hergeschoben wurde, hat das Parlament am Montag ein Gesetz verabschiedet. Es soll dazu beitragen, das inländische Arbeitskräftepotential besser auszuschöpfen und die Zuwanderung indirekt bremsen. Mit dem Wortlaut des Volksauftrags hat es nicht viel gemeinsam.
«Wenn mir ein Architekt einen Bauplan gibt, dessen Umsetzung zum Einsturz des Hauses führt, kann ich den Auftrag nicht plangemäss umsetzen.» Mit diesem Bild versuchte der freisinnige Ständerat Philipp Müller in einer der vielen hitzigen Debatten zu veranschaulichen, dass eine wortgetreue Umsetzung der MEI zur Havarie geführt hätte. Die MEI verlangt nämlich, dass die Zuwanderung mit Höchstzahlen und Kontingenten gesteuert werden soll. Weil damit das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) verletzt worden wäre, hätte dieses neuverhandelt werden müssen, was die EU aber ablehnt.
In diesem Dilemma entschied sich das Parlament – nach insgesamt fünf jeweils stundenlangen Debatten in beiden Kammern – schliesslich für ein EU-kompatibles Umsetzungsgesetz, mit dem sich die Zuwanderung bestenfalls indirekt steuern lassen wird. Die neuen Bestimmungen sollen mithelfen, die Anstellungschancen der Arbeitslosen zu verbessern. Konkret: Wenn die Arbeitslosigkeit in einer bestimmten Berufsgruppe und Wirtschaftsregion überdurchschnittlich hoch ist, müssen Arbeitgeber offene Stellen den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) melden. Darüber hinaus werden sie verpflichtet, geeignete vom RAV gemeldete Bewerber zu Vorstellungsgesprächen einzuladen. Das Resultat müssen sie dem RAV gegenüber nicht begründen, aber mitteilen.
Parlamentarier der Schweizerischen Volkspartei (SVP), welche die MEI lanciert hatte, wurden in der Debatte nicht müde, von Schein- und Nulllösungen, von Missachtung des Volkswillens, ja sogar von Hintergehen und «Verar…» zu sprechen. Sie versuchten vergeblich, an einer Umsetzung mit Kontingenten und Höchstzahlen festzuhalten, ohne jedoch eine Lösung zu präsentieren, die mit den internationalen Abkommen kompatibel wäre. Stattdessen unterstellten sie der Schweizer Regierung eine unterwürfige Verhandlungshaltung gegenüber der EU, die spätesten nach dem Brexit nichts von Neuverhandlungen des FZA wissen wollte.
Trotzdem wird die SVP nun das Referendum nicht ergreifen. Das Parlament, das jetzt zu einem «Verfassungsbruch» bereit sei, würde die MEI auch nach einem Referendumsentscheid nicht richtig umsetzen, sagte Parteipräsident Albert Rösti gegenüber der Tagesschau von SRF. Sollte die Zuwanderung weiter steigen, werde die SVP eine Initiative zur Kündigung des FZA lancieren, meinte Rösti.
Linke Rechte und rechte Linke
Ins Zeug legten sich andere, insbesondere freisinnige Parlamentarier, allen voran Kurt Fluri und besagter Philipp Müller, die über ihren «liberalen» Schatten sprangen und sich für Eingriffe auf dem Arbeitsmarkt im Dienst von Stellensuchenden im Inland stark machten.
Wenn in einem Land im Baugewerbe mehr als 10’000, im Gastgewerbe mehr als 17’000 Personen arbeitslos gemeldet sind und für diese Branchen gleichzeitig 10’000 Arbeitskräfte aus dem Ausland geholt werden, dann geht dies auch den beiden Freisinnigen zu weit. Massnahmen gegen solche Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt hätten nichts mit Fremdenfeindlichkeit, sondern mit dem Schutz der Arbeitenden in diesem Land zu tun, sagte Müller.
Volk hat letztes Wort
Ob es für einige Interventionen auf dem Arbeitsmarkt eine MEI gebraucht hat? Das werden sich manche Stimmenden auch fragen, wenn sie derentwegen 2017 erneut zur Urne gerufen werden, um über die RASA-Initiative zu befinden. Das Volksbegehren mit dem Namen «Raus aus der Sackgasse» verlangt nämlich die ersatzlose Streichung des Verfassungsartikels zur MEI. Die Regierung hat bereits in Aussicht gestellt, dass sie einen Gegenvorschlag zu RASA vorlegen werde, wenn sich das Parlament für eine Umsetzung der MEI entscheide, die sich deutlich vom Volksauftrag unterscheide.
Unterstützt wurden die freisinnigen Schmiede des Umsetzungsgesetzes immer wieder von links-grüner Seite, die sich bei Bedarf auch wirtschaftsliberaler Argumente bediente. Er vertraue darauf, dass sich ein Arbeitgeber für einen über 50-jährigen arbeitslosen Inländer entscheide, sagte etwa der Grüne Balthasar Glättli in Anspielung auf die neue Anhörungspflicht, wenn er diesem beim Vorstellungsgespräch in die Augen schauen müsse. Und Cédric Wermuth von der Sozialdemokratischen Partei fragte seine Widersacher, ob sie eigentlich mit ihren Ideen den liberalen Arbeitsmarkt abschaffen wollten.
Schadensbegrenzung
Dass das Parlament mit diesem Umsetzungsgesetz zur MEI die Schweiz vor einer Kündigung der bilateralen Abkommen mit der EU bewahrt, glaubt auch die zuständige Bundesrätin, Simonetta Sommaruga. Und die Schweizer Regierung rechnet damit, dass eine vollumfängliche Teilnahme am europäischen Forschungsprojekt Horizon 2020, von dem die Schweiz nach der Annahme der MEI teilweise ausgeschlossen war, ab 2017 wieder möglich sein sollte. Eine Voraussetzung dafür war nämlich, dass die Schweiz das Protokoll über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien vor dem 9. Februar 2017 ratifiziert. Eine Ratifizierung kam für das Parlament aber nur in Frage, wenn mit der EU eine mit der schweizerischen Rechtsordnung kompatible Zuwanderungsregelung gefunden sei.
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