Umstrittene Strategie: Wie sich der grösste Schweizer CO2-Verursacher bessern will
Als Topmanagerin beim Zementhersteller Holcim entscheidet sich Magali Anderson für einen unkonventionellen Weg zur Lösung der Klimakrise. Nicht alle teilen die Ansicht, dass ihre Strategie aufgeht.
Vom Holcim-Hauptsitz aus ist das Zuger Kantonsgericht gut sichtbar. Hier verhandeln die Richterinnen und Richter derzeit über die Klimaverantwortung des Zementkonzerns, nachdem vier Bewohner der indonesischen Insel Pari im vergangenen Januar eine Zivilklage eingereicht hatten.
Sollte das Gericht Holcim für vergangene, laufende und künftige CO2-Emissionen und entsprechende Schäden haftbar machen, würde der Präzedenzfall lang gehegte Gewissheiten vieler multinationaler Konzerne mit Hauptsitz in der Schweiz auf den Kopf stellen. Wann das Gericht ein Urteil sprechen wird, hat es nicht mitgeteilt.
Als Folge einer Verurteilung könnte jede Person, die unter den Auswirkungen des Klimawandels leidet, Ansprüche gegen grosse Umweltverschmutzer geltend machen – unabhängig davon, ob das Unternehmen jemals in der Schweiz tätig gewesen ist.
Für Holcim wäre ein solcher Entscheid eine ernstzunehmende Herausforderung für sein Geschäftsmodell. Im Jahr 2021 haben die Richter:innen in Den Haag den Öl- und Gaskonzern Royal Dutch Shell in einem ähnlichen Fall dazu verpflichtetExterner Link, seine künftigen Emissionen deutlich zu reduzieren. Shell legte im folgenden Jahr Berufung gegen das UrteilExterner Link ein.
Etwa 200 Meter vom Gericht entfernt, in einem schmucken, weissen Bürokomplex am Hauptsitz von Holcim, will Magali Anderson, Mitglied der Konzernleitung, «Fortschritt für die Menschen und den Planeten schaffen», wie auf den Tafeln in der Eingangshalle zu lesen ist.
Das ist der Anspruch, den Holcim an sich selbst gestellt hat. In der Öffentlichkeit präsentiert sich das multinationale UnternehmenExterner Link als «der weltweit führende Anbieter von innovativen und nachhaltigen Baulösungen». Als Holcims Top-Managerin für Nachhaltigkeit und Innovation ist Anderson die Schlüsselfigur bei der Verwirklichung dieses Anspruchs.
Die französische Ingenieurin ist ein Symbol für industrielle Praktiken, die im Mittelpunkt des Klimawandels stehen. Ihr beruflicher Werdegang führt durch die CO2-intensivsten Geschäftszweige.
Ihre Karriere begann Anderson auf einer Ölbohrinsel in Nigeria. Nach und nach stieg sie in der Branche der fossilen Brennstoffe auf, unter anderem beim Ölfelddienstleister Schlumberger, bevor sie zu Holcim kam.
Als einer der «Carbon Majors» der Welt gehört der Zementhersteller zu den Unternehmen, die für den Löwenanteil der weltweiten historischen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind.
Wie die 56-Jährige mit dezentem französischem Akzent betont, arbeitet Anderson nicht mehr nur für die Geschäftsinteressen. «Kurz bevor ich 50 wurde, hatte ich eine Art Weckruf», sagt sie im Gespräch mit SWI swissinfo.ch mit einem Kommunikationsverantwortlichen des Unternehmens an ihrer Seite.
Veränderte Ambitionen
«Als ich mein Studium als junge Ingenieurin abschloss, war meine Motivation das Abenteuer und die Wissenschaft. Dann änderte sich meine Vision. Ich wollte meinem Leben einen Sinn geben», sagt Anderson.
Zu diesem Zeitpunkt war sie bereit, die Öl- und Gasindustrie zu verlassen. Sie bereue nichts, habe aber ein neues Bewusstsein gefunden.
Informationen über die Umweltauswirkungen fossiler Brennstoffe spielten laut Anderson eine wichtige Rolle bei diesem Sinneswandel. Angesichts der Klimakrise begannen sich ihre Definitionen von Leistung und Erfolg zu wandeln.
Der Wendepunkt kam, als ihr 2016 eine Stelle im Bereich Gesundheit und Sicherheit bei Holcim angeboten wurde. Nach jahrzehntelanger Tätigkeit an der «Geschäftsfront» in den Bereichen Produktion, Instandhaltung und Supply-Chain-Management in der Ölindustrie suchte Anderson einen Rollenwechsel.
«Morgens mit dem Ziel aufzuwachen, einige Leben zu retten, war ein guter Entscheid», sagt Anderson. Zu ihren Aufgaben gehörte die Umsetzung von Initiativen zur Verringerung der Zahl der Unfälle auf dem Werkgelände und auf den Strassen von Holcim, um die Zahl der Verletzten und Todesopfer zu senkenExterner Link.
Auf die Frage, warum der Wechsel von einer umweltverschmutzenden Branche zu einer anderen eine gute Wahl sei, entgegnet Anderson, dass Zement für die Energiewende unerlässlich sei.
Als Beispiel nennt sie den Bedarf an Zement beim Bau von Infrastrukturen wie Wasserkraftwerken oder den Fundamenten von Windkraftanlagen. Ändere man die Art der Zementherstellung, habe dies grosse Auswirkungen auf das Klima, so Anderson.
«Nachhaltigere Industrien wie Holz kommen in ihrer Bedeutung für das globale Bauwesen nicht annähernd an Beton heran», sagt sie.
Drei Jahre nach ihrem Einstieg bei Holcim bat Konzernchef Jan Jenisch die Französin, die erste Chief Sustainability Officer des Konzerns zu werden. «Mein Ziel war nun nicht mehr, ein paar Leben zu retten, sondern die Menschheit», bemerkt sie mit einem Lächeln. Heute ist sie verantwortlich für die globale Klimastrategie von Holcim.
Inwieweit und wann die Führungskräfte über die Klimaauswirkungen ihrer Geschäftstätigkeiten Bescheid wussten, wird eine der Fragen sein, welche die Richter in Zug bei der Feststellung der Haftung berücksichtigen müssen.
Im vorliegenden Fall machen die Einwohner:innen von Pari geltendExterner Link, dass Holcim durch seine CO2-Emissionen ihre individuellen Rechte im Sinne des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs verletztExterner Link hat.
Anderson lehnt es ab, das laufende Gerichtsverfahren zu kommentieren, erklärt sich aber bereit, die Klimastrategie von Holcim im Detail zu erläutern.
Wie solide ist die Klimastrategie von Holcim?
Im Zentrum der Klage steht die Behauptung, Holcim tue «zu wenig zu spät». Es gibt zwei Hauptkritikpunkte an der Klimastrategie des Unternehmens.
Erstens hat sich Holcim auf kurze Sicht verpflichtet, die relativen und nicht die absoluten Emissionen zu senken.
Das im November 2022 festgelegte Ziel des KonzernsExterner Link fokussiert darauf, die direkten Emissionen pro Tonne Zementmaterial bis 2030 um 25% zu senken.
Die Schweizer Nichtregierungsorganisation HEKS, welche die indonesischen Kläger unterstützt, fordert eine Reduktion der absoluten und relativen EmissionenExterner Link um «mindestens 43%» bis zum selben Jahr.
Sie verweist daraufExterner Link, dass dieses Ziel sich am vom Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC) festgelegten Reduktionspfad orientiert, um die globale Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen.
Anderson argumentiert, dass die Forderung nach absoluten Emissionsreduzierungen pro Unternehmen lediglich dazu führen werde, dass andere Zementhersteller in die Bresche springen, um die Nachfrage zu decken. Im Jahr 2022 verkaufte Holcim seine Betriebe in IndienExterner Link, wodurch sich die CO2-Belastung insgesamt verringerte.
Je grösser der Anteil von Holcim am Zementmarkt, desto besser sei das für den Planeten, argumentiert sie, denn «unter unseren Mitbewerbern stellen wir heute einen der Zemente mit den niedrigsten CO2-Emissionen her».
Die Transition Pathway Initiative wird von der London School of Economics und dem Grantham Research Institute geleitet und verfolgt die Fortschritte von Unternehmen beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft. 2022 kam das Gremium zum Schluss, dass die Kohlenstoffintensität von Holcim unter dem Branchendurchschnitt liegt.
Anderson ist überzeugt, dass das Ziel von Holcim mit dem 1,5°C-Szenario übereinstimmt. «Die Internationale Energieagentur (IEA) leitet aus diesem [IPCC-]Bericht eine umfassende Roadmap für jeden Sektor ab. Die Science Based Targets-Initiative, der Holcim angehört, leitet daraus Pfade ab und validiert Ziele für einzelne Unternehmen.»
Genau diesen Weg kritisiert HEKS. Die NGO will, dass Holcim die kurzfristigen Emissionen schneller zugunsten von Neueinsteigern oder «kleinen Verschmutzern» reduziert: Unternehmen mit geringeren historischen Emissionen und weniger Geld.
Letztlich geht es um die Frage, wer das verbleibende CO2-Budget für das 1,5°C-Szenario des IPCC aufbrauchen darf.
Dekarbonisierung vs. Degrowth
Der zweite Kritikpunkt an der Strategie von Holcim ist, dass sich der Konzern stark auf Technologien zur Abscheidung, Nutzung und Speicherung von Kohlenstoff (CCUS) verlässt, um bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen.
Die Idee hinter dieser Technologie ist es, CO2 nach dessen Emission aus industriellen Abgasen oder direkt aus der Atmosphäre zu entfernen. Das HEKS argumentiert, dass diese technologischen Lösungen als Zauberstab präsentiert würden, aber möglicherweise nicht im erforderlichen Umfang funktionierten.
«Ich glaube fest an CCUS, weil es etwas ist, das die Welt braucht, nicht nur für Zement», sagt Anderson. Sie beruft sich auf Zahlen der IEA (fast 45 Tonnen CO2, die im Jahr 2021 weltweit abgeschieden wurdenExterner Link) und auf die umfangreichen Investitionen der Regierungen in diese Technologie (der Innovationsfonds der Europäischen UnionExterner Link hat kürzlich eine halbe Milliarde EuroExterner Linkfür CCUS-ProjekteExterner Link in der Zementindustrie ausgegeben). In CCUS sieht sie ein bewährtes Konzept, das vom politischen Willen getragenExterner Link werde.
«Wir arbeiten daran, zu beweisen, dass CCUS in grossem Massstab funktioniert», fügt Anderson hinzu. «Es gibt keine Alternative dazu, denn es ist nicht zu erwarten, dass die Bevölkerung Degrowth akzeptiert.» Degrowth steht für die Schrumpfung der Wirtschaft als Massnahme gegen den Klimawandel.
Dieser Punkt führt zum Kern von Andersons Motivation und Logik zurück: Sie sieht keinen brauchbaren Ersatz für Zement als Baumaterial.
Holcim arbeite mit der Bauindustrie zusammen, um weniger Zement beim Bauen zu verwenden, sagt Anderson. Aber sie unterstreicht, dass ein solcher Wandel Zeit braucht. «Wir haben also keine andere Wahl», sagt sie abschliessend. «Wir müssen den Zement entkarbonisieren. Es gibt keinen anderen Weg.»
Holcim hat einen kohlenstoffärmeren Beton namens «ECOPact» entwickelt, der im Juli 2020 auf den Markt kam. Das Produkt machte im Jahr 2022 13% des gesamten Nettoabsatzes des Transportbetons des Unternehmens aus.
Am Institut für Baustoffe der ETH Zürich verzeichnen die Forscher Robert Flatt und Franco Zunino einen allgemeinen Trend in der Zementindustrie zur CO2-Reduzierung, der durch gesellschaftlichen Druck, CO2-Steuern und Vorschriften vorangetrieben wird. «Holcim geht sicherlich in die richtige Richtung, aber sie sind nicht die Einzigen, die das tun», sagt Zunino, ein Spezialist für CO2-armen Beton.
Die Arbeit in einer der umweltschädlichsten Industrien ist Andersons Weg, sich für den Klimaschutz zu engagieren. Ob der Wandel schnell genug erfolgt und ob dieser weit genug geht, wird das Gericht nebenan entscheiden.
Die Autorin arbeitete von 2010 bis 2015 als Menschenrechtsspezialistin bei Holcim.
Editiert von Virginie Mangin, gw, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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