Profitieren Einheimische sogar von den Grenzgängern?
Eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts IRE in Lugano kommt zum Schluss, dass im Tessin in Folge der Personenfreizügigkeit keine Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte durch Grenzgänger erfolgt ist. Viele Politiker toben, denn sie sind vom Gegenteil überzeugt. Die Lega will gar das zuständige Universitätsinstitut schliessen.
Die explosionsartige Zunahme von Grenzgängern seit Einführung der Personenfreizügigkeit ist im Tessin ein politisches Thema erster Güte. Seit 2002 hat sich die Zahl der Grenzgänger fast verdoppelt – auf 62‘555. Umgerechnet bedeutet dies, dass 26,5 Prozent aller Arbeitsplätze mit Grenzgängern besetzt sind. Schweizer Rekord.
Fast unbestritten ist im Südkanton mittlerweile die These, dass italienische Grenzgängerinnen und Grenzgänger einheimischen Arbeitskräften zunehmend die Arbeitsplätze weg schnappen, weil sie bereit sind, zu Billiglöhnen zu arbeiten.
Anders gesagt: Es findet angeblich eine Verdrängung einheimischen Personals zugunsten der Arbeitspendler aus Italien statt. In der Folge steigt die Arbeitslosigkeit im Südkanton an. Die rechtspopulistische Lega dei Ticinesi hat einen Grossteil ihres politischen Erfolgs dieser These zu verdanken. Die SVP machte gar eine Kampagne, in der sie Grenzgänger als gefrässige Raten zeichnete, die Schweizer Käse verschlingen.
Politisches Erdbeben
Diese Vorbemerkung ist nötig, um zu verstehen, warum eine diese Woche publik gewordene Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts der Universität der italienischen Schweiz (IREExterner Link) ein politisches Erdbeben ausgelöst hat.
Die Studie, die im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco) erarbeitet wurde und auf Wunsch des Präsidiums des Grossen Rates entstand, kommt nämlich zum Schluss, «dass die erhöhte Zahl der Grenzgänger und der ausländischen Wohnbevölkerung in der Folge des Personenfreizügigkeitsabkommens für die einheimische Bevölkerung im Tessin nicht das Risiko erhöht hat, arbeitslos zu werden.»
Es könne zwar nicht ausgeschlossen werden, dass punktuell einheimische Arbeitnehmer durch ausländische Arbeitskräfte ersetzt wurden, von einer systematischen Verdrängung könne aber nicht die Rede sein.
Die Grenzgänger im Tessin
Die im Tessin tätigen Grenzgängerinnen und Grenzgänger (62‘500) stammen überwiegend aus den Provinzen Varese und Como, danach aus der Provinz Verbano-Cusio-Ossola (Raum Intra, Domodossola, Vigezzo-Tal), aber auch aus weiter gelegenen Gebieten.
Im südlichen Tessin (Mendrisiotto), das an die Provinzen Como und Varese angrenzt, übertrifft die Zahl der beschäftigten Grenzgänger mittlerweile die Zahl der beschäftigten Einheimischen, wie der «Corriere del Ticino» unlängst publik machte, das heisst mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmer pendeln aus Italien zur Arbeit.
Traditionell waren Grenzgänger – «frontalieri» – im Bau- und Industriesektor tätig. Doch mittlerweile haben sie auch den Tertiärsektor erobert. Inzwischen arbeiten in der Dienstleistungsbranche mehr Grenzgänger als auf dem Bau oder in der Fabrik.
Arbeitslosigkeit rückläufig
Tatsächlich ist trotz des anhaltenden Zustroms an Grenzgängern die Arbeitslosenquote gesunken und hat sich dem Schweizer Mittelwert angenähert. Sie lag Ende September im Tessin bei 3,4 Prozent, in der ganzen Schweiz bei 3,2 Prozent. Vor einem Jahr betrug sie im Tessin 3,9 Prozent, in der Gesamtschweiz 3,0 Prozent.
Die Erwerbstätigenquote der 15-64-Jährigen im Tessin betrug in der Periode 2003-2008 im Durchschnitt 69,5 Prozent (ganze Schweiz: 78,1%), zwischen 2009-2015 stieg sie auf 71,2 Prozent (ganze Schweiz: 79,4%).
Diese Daten legen den Schluss nahe, dass in Folge der Marktöffnung mit der EU im Tessin viele neue Jobs geschaffen wurden, der Kanton unter dem Strich also profitierte und seine Wirtschaftsleistung steigerte. Allerdings gingen die neu geschaffenen Stellen – fast 30‘000 – überwiegend oder fast ausschliesslich an Grenzgänger. Darüber muss diskutiert werden.
Mangelnde Qualifikationen der Einheimischen
Laut IRE kommt die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte zustande, weil auf dem einheimischen Markt schlicht das Personal fehlt oder die Bewerber aus Italien die besseren Qualifikationen aufweisen.
«Das Verhältnis Lohn/Leistung scheint demgegenüber für Tessiner Unternehmen ein Kriterium von deutlich untergeordneter Bedeutung bei der Rekrutierung zu sein», so die Schlussfolgerung. Die Studie beruft sich dabei auch auf eine Umfrage bei 328 Unternehmen.
Gemäss IRE ist es allerdings möglich, dass gerade für junge Menschen ohne Berufserfahrung der Eintritt in die Arbeitswelt im Tessin schwer sei. Die vergleichsweise hohe Jugendarbeitslosigkeit sei ein Zeichen dafür.
Kritik und Spott
Kaum waren die Ergebnisse der IRE-Studie bekannt geworden, fegte ein Sturm der Entrüstung durch die Tessiner Politlandschaft. Das Wirtschaftsinstitut wurde mit Kritik und Spott überhäuft, Anfragen an die Regierung eingereicht. «Hier wird die Evidenz negiert», donnerte CVP-Fraktionschef Fiorenzo Dadò. Gewerkschaftssekretär Enrico Borelli (Unia) meinte, diese Studie habe mit der Realität im Kanton Tessin nichts zu tun. Und die Lega dei Ticinesi forderte sogar schlicht und einfach die Schliessung des Universitätsinstituts IRE.
Insbesondere wurde kritisiert, dass sich das IRE auf eine Umfrage bei Unternehmen beruft. Denn Unternehmen würde doch nie zugeben, dass sie Grenzgängerinnen und Grenzgänger in Wirklichkeit einstellten, um Geld zu sparen.
Dieser Kritik liess IRE-Direktor Rico Maggi nicht auf sich sitzen. In mehreren Interviews warf er den Tessiner Politikern umgekehrt vor, sich der Realität verschliessen zu wollen. Die Erhebung basiere auf 90‘000 Daten aus den Jahren 2003 bis 2013 und sei nach modernsten wissenschaftlichen Kriterien verfasst worden.
Die Frage des Lohndumpings sei nicht tiefgehend analysiert worden, weil es nicht dem Auftrag durch das SECO entsprochen hätte. Das Staatssekretariat für Wirtschaft sei für diesen Aspekt zuständig. Im Übrigen sei die Umfrage bei den Unternehmen nicht die wissenschaftliche Grundlage für die Studie, sondern sozusagen nur parallel durchgeführt worden.
Erwerbstätigkeit und Arbeitszeit
Freude in Italien
Schützenhilfe erhielt das Institut vom Chefredaktor des «Corriere del Ticino», Fabio Pontiggia: «Die IRE-Wissenschaftler können nicht die Karten fälschen, um denjenigen Schützenhilfe zu leisten, die in den Bilateralen den Grund allen Übels des Tessins sehen.»
Auch in Italien hat man derweil die IRE-Studie mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, beispielsweise in der Tageszeitung «La Repubblica». Denn für die Grenzgänger ist es nicht angenehm, dass ihnen ständig vorgeworfen wird, den Tessinern die Arbeitsplätze zu stehlen.
Diverse italienische Politiker verweisen darauf, dass der wirtschaftliche Boom des Tessins nur dank der Grenzgänger möglich gewesen sei. Die Arbeitskräfte aus Italien seien auch für das Funktionieren öffentlicher Einrichtungen wie Altersheime oder Spitäler unabkömmlich.
Zahl der Grenzgänger in der Schweiz hat sich verdoppelt
Im Jahr 2001, also vor Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit mit den westlichen EU-Staaten, zählte das Bundesamt für Statistik (BfS) 151’133 Grenzgänger. Inzwischen sind es 297’938 Personen (Stand: 2.Quartal 2015).
In absoluten Zahlen kommen die meisten Grenzgänger aus Frankreich. Waren es vor der Einführung der Personenfreizügigkeit rund 80’000, so sind es heute 157’000.
Relativ zur Bevölkerungszahl verzeichnet allerdings das Tessin mit fast 63‘000 Grenzgängern den Rekord. Das bedeutet, dass 26,5 Prozent aller Arbeitsplätze von Pendlern aus Italien besetzt sind. Dies wirkt sich vor allem auf den Pendlerverkehr aus, zumal tagtäglich noch selbständige Dienstleistungserbringer (etwa Handwerker) dazu kommen.
Aus Deutschland und Österreich stammen rund 80’000 Grenzgänger in der Schweiz. Ein grosser Teil davon arbeitet in der Region Basel, der kleinere Teil im Bodenseeraum.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch