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«Wir sehen oft nicht, wie schlecht es ihnen geht»

Junger Mann in einem Zentrum
Nachdem es während der Pandemie zu einem spürbaren Rückgang kam, gehen die Asylanträge unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge wieder rauf. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Die psychische Gesundheit junger Migrant:innen wird oft vernachlässigt – bis es zu spät ist. Die tragischen Suizide zweier Asylsuchender in Genf haben den Fokus auf die Verletzlichkeit dieser Menschen gerichtet. Aber wie kann man ihnen helfen? Der Psychologe Sydney Gaultier ordnet ein.

Die Schweiz hat noch nie so viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende aufgenommen: Im Jahr 2022 waren es über 2854, darunter viele junge Männer. Die Betreuung dieser Menschen, die ihr Leid oft verbergen, ist eine grosse Herausforderung.

Der Psychologe Sydney Gaultier vom Universitätsspital WaadtExterner Link (CHUV) veröffentlichte im Januar gemeinsam mit Psycholog:innen, Psychiater:innen und Anthropolog:innen aus der Schweiz und Frankreich ein Buch* zum Thema. Es geht der Frage nach, wie man diesen jungen Menschen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden besser helfen kann.

swissinfo.ch: Der Begriff «unbegleitete Minderjährige» ist ein wenig technisch. Können Sie uns erklären, wer sich hinter der Bezeichnung verbirgt?

Sydney Gaultier: Es ist eine juristische Kategorie, die je nach Land und Situation anders definiert wird und andere Folgen hat. In der Schweiz umfasst sie heute vor allem junge Afghan:innen, während es in der Vergangenheit vor allem Kinder und Jugendliche aus Eritrea, Somalia oder Nigeria waren. In Frankreich werden vor allem junge Menschen aus Westafrika aufgenommen, was auf die Kolonialgeschichte des Landes, aber auch auf die Aufnahmebedingungen zurückzuführen ist.

Diese Minderjährigen werden im Rahmen des Kinderschutzes aufgenommen und können mit Erreichen der Volljährigkeit einen Aufenthaltstitel erhalten, der mit einer Arbeit oder einer Ausbildung verbunden ist. Es ist also nicht notwendig, dass sie vor einem Konflikt geflohen sind oder ein Asylverfahren durchlaufen haben. In der Schweiz hingegen müssen minderjährige Migrant:innen Asyl beantragen. Solche aus Westafrika haben kaum eine Chance, da sie nicht aus Staaten stammen, die als Kriegsländer gelten.

Sydney Gaultier
Sydney Gaultier ist assoziierter Psychologe in der «Unité transculturelle de l’enfant et de l’adolescent» (Transkulturelle Einheit für Kinder und Jugendliche) des Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV). ldd

In den letzten Jahren ist die Zahl dieser Migrant:innen stark angestiegen. Wie gehen Sie mit dieser neuen Situation um?

Tatsächlich stellen wir einen extremen Anstieg fest. Im Kanton Waadt, wo ich arbeite, sind wir in weniger als einem Jahr von zwei Heimen für unbegleitete Minderjährige auf acht und bald zehn angewachsen. Jede Einrichtung bietet zwischen 15 und 35 Plätze. Diese Steigerung zwang uns dazu, unser Einsatzprotokoll anzupassen.

Das heisst, dass wir zurzeit nicht – wie bislang – mit all diesen Menschen in Kontakt treten können. Stattdessen müssen wir warten, bis die Erzieher:innen eine psychologische Notlage erkennen und uns diese melden. Glücklicherweise verfügen wir bald über mehr Mittel, so dass wir wieder zu unserer bewährten Praxis zurückzukehren können.

Jüngst haben sich zwei Asylsuchende in Genf das Leben genommen, darunter ein 18-jähriger Afghane, der nach Griechenland abgeschoben werden sollte. Wie fühlen Sie sich angesichts dieser Tragödien?

Im Kanton Waadt haben wir solche Tragödien seit Jahren nicht mehr erlebt, aber wir müssen jährlich zahlreiche suizidale Krisen bewältigen. Dies ist Teil der Realität in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und betrifft nicht nur unbegleitete Minderjährige, obwohl diese natürlich noch verletzlicher sind.

Wir wissen auch, dass ein Entscheid zur Abschiebung zu Suizidversuchen führen kann. Bisher konnten wir meistens medizinisch argumentieren und gemeinsam mit dem Staatssekretariat für Migration eine Lösung finden. Es gibt jedoch Fälle, in denen dies offensichtlich nicht funktioniert, wie bei diesem jungen Mann aus Afghanistan.

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Glauben Sie, dass die Betreuung dieser Jugendlichen in der Schweiz ausreichend ist?

Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. In der Waadt sind die Aufnahmebedingungen im Allgemeinen recht gut, aber das heisst nicht, dass nichts verbessert werden kann. Zum Beispiel führt die Unterbringung von mehreren traumatisierten Jugendlichen in einem Zimmer zu Problemen.

Sie leiden oft unter Schlaflosigkeit, reden oder spielen nachts mit ihren Handys. Ausserdem befinden sie sich in einem Zustand ständiger Wachsamkeit und Alarmbereitschaft. Dadurch halten sie sich gegenseitig vom Schlafen ab.

Unter welchen Störungen leiden diese Jugendlichen?

Sie leiden oft unter posttraumatischem Stress, der durch Erlebnisse während ihrer Flucht oder in ihrem Herkunftsland ausgelöst wurde. Dies führt zu starken Ängsten, die durch die neue Umgebung und die Ungewissheit über ihr Asylverfahren noch verstärkt werden.

Viele depressive Störungen stehen in Verbindung mit Verlust, Trennung und Akzeptanz. Auch müssen viele junge Menschen um ihre Ideale trauern, da sie erkennen, welche Hindernisse auf sie warten. Oft treffen wir auch auf Jugendliche, die unter Persönlichkeits-, psychotischen oder Bindungsstörungen leiden.

Welche Art von Betreuung bieten Sie diesen Menschen an?

Wir führen systematisch Gespräche mit den Jugendlichen, kurz nachdem sie angekommen sind. Es ist wichtig, dass wir präventiv handeln, anstatt im Notfall eingreifen zu müssen. Sie stammen oft aus Kulturen, in denen die Psychiatrie stigmatisiert ist und Gefühle eher für sich behalten werden.

Daher ist ganz wichtig, dass wir ihnen unsere Rolle erklären. Oft sind die Jugendlichen bereit, mit uns weiterzuarbeiten. Es gibt auch solche, die uns anfangs ablehnend begegnen, aber später auf uns zukommen.

Wie kann ihre Situation verbessert werden?

Vor allem beim Übergang in die Volljährigkeit müssen sie stärker unterstützt werden. Es handelt sich um gefährdete Jugendliche, die in eine komplett neue Umgebung gelangen und eine neue Sprache lernen müssen. Wenn sie 18 Jahre alt werden, sollen sie auf eigenen Füssen stehen können. Dies ist jedoch ein abrupter Übergang, der die psychoemotionalen, sozialen oder entwicklungsbedingten Bedürfnisse der Jugendlichen nicht respektiert.

Wir wissen von der Neurologie, dass das menschliche Gehirn erst mit 25 Jahren vollständig entwickelt ist. Es ist also unrealistisch zu glauben, dass junge Menschen, die weniger Fürsorge erfahren haben als andere, früher als andere selbstständig werden können.

Minderjährige Geflüchtete stellen die Schweiz vor Probleme: Die «10 vor 10»-Ausgabe vom 27.10.2022:

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Nach der Tragödie in Genf reichte der Kanton eine Standesinitiative ein, die fordert, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bis zum Alter von 25 Jahren geschützt werden. Was halten Sie davon?

Sie könnte Teil der Lösung sein. Vor einigen Jahren gab es in Frankreich eine ähnliche Debatte. Die Jugendlichen waren mit 18 aus den Heimen entlassen und quasi sich selbst überlassen worden. Das führte zu grossen Problemen und Unsicherheit. Also wurden Verträge eingeführt, um ihnen eine individuelle Unterstützung in den verschiedenen Phasen hin zur Selbständigkeit zu ermöglichen.

Eine solche Lösung könnte auch in der Schweiz interessant sein, da nicht jede:r Jugendliche dieselben Bedürfnisse hat. Wichtig ist einfach, dass man sich nicht aus der Verantwortung zieht und sie einfach machen lässt.

Wie können Betreuung einerseits und Selbständigkeit andererseits miteinander vereinbart werden?

Das ist der Knackpunkt. Sie müssen sehr früh lernen, auf sich selbst aufzupassen und sich wie Erwachsene zu verhalten, sind jedoch oft noch wie Kinder auf psychoemotionale Bedürfnisse angewiesen. Es kann vorkommen, dass Betreuer:innen sie für selbstständiger halten, als sie es tatsächlich sind. Es braucht also eine bessere Begleitung auf dem Weg zur Selbstständigkeit.

Ist es deshalb auch schwierig, die Notlage dieser unbegleiteten Minderjährigen zu erkennen?

Das ist tatsächlich schwierig, da sie oft sehr anpassungsfähig sind. Sie sind erfolgreich in der Schule, lernen schnell die Sprache und sind sozial kompetent. Diese Faktoren können dazu führen, dass ihre Notlage unsichtbar ist. Zudem fühlen sie oft den Erfolgsdruck, um ihre Anwesenheit zu rechtfertigen und ihren Familien zu helfen. Sie müssen sich eingestehen, dass es ihnen nicht gut geht, was ihren Plänen, unseren Erwartungen und ihrem kulturellen Hintergrund widerspricht.

*Publikation: «Mineurs non accompagnés Repères pour une clinique psychosociale transculturelle», unter der Leitung von Sydney Gaultier, Abdessalem Yahyaoui und Pierre Benghozi, Éditions In Press, 2023.

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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