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Unionsbürger-Richtlinie: Ist sie das Monster, das wir fürchten?

Wartende Menschen in Jobcenter
Keystone / Martin Meissner

Die Schweiz sträubt sich gegen die Unionsbürgerrichtlinie. Sie fürchtet eine Einwanderung in ihre Sozialwerke. Angst vor "Sozialhilfetourismus" kennen auch reiche EU-Länder wie Deutschland oder Österreich. Sie sind der Schweiz einige Jahre voraus.

Fast wäre es zu einem Drama gekommen, weil eine deutsche Familie die Unionsbürgerrichtlinie nicht im Detail kannte.

Und das ging so: Familie Wetenkamp zog von Hannover in ein geerbtes Haus nach Kärnten in Österreich. Dort angekommen, stellten die Eltern ein Gesuch, damit ihr geistig beeinträchtigter Sohn in einer Behindertenwerkstätte arbeiten kann. Sie wussten nicht, dass dies in Österreich mit einer Sozialleistung verbunden wäre.

Österreich reagierte. Das Land wollte die Familie ausweisen, weil ausländische EU-Bürgerinnen und -Bürger in den ersten fünf Jahren keine Sozialleistungen beziehen dürfen.

Die Unionsbürgerrichtlinie sieht nämlich vor: Bürgerinnen und Bürger eines EU-Staates dürfen in ein anderes EU-Land ziehen, wenn sie über «ausreichende Existenzmittel» verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaats in Anspruch nehmen müssen. Wer fünf Jahre rechtmässig im fremden Land gelebt hat, darf sich dort auf Dauer niederlassen und folglich auch Sozialleistungen beziehen.

Die Unionsbürgerrichtlinie ist eine Weiterentwicklung der Personenfreizügigkeit. EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sollen bei Sozialversicherungen gleichbehandelt werden.

SRF erklärte am 7. Dezember 2018, worum es bei der Unionsbürgerrichtlinie geht:

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Die Schweiz will die Unionsbürgerrichtlinie nicht

Über diese Unionsbürgerrichtlinie streitet derzeit die Schweiz. Sie gilt als Stolperstein für den Abschluss eines Rahmenabkommens mit der EU.

Die Schweiz ist kein Mitglied der Europäischen Union, aber über bilaterale Verträge in den europäischen Wirtschaftsraum integriert. Die EU möchte, dass institutionelle Fragen dieses bilateralen Weges in einem Rahmenabkommen geregelt werden. Zwischen 2014 und 2018 handelten die Schweiz und die EU einen Text aus. Die EU drängt auf eine Unterzeichnung, doch in der Schweiz gibt es innenpolitischen Widerstand.

Die EU möchte, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie übernimmt. Doch in der Schweiz kommt vor allem von rechts Widerstand: Gegner befürchten, kriminelle EU-Bürger und EU-Bürgerinnen könnten nur noch schwer ausgewiesen werden. Und der einfachere Zugang zu Sozialhilfe führe zu einer gezielten Einwanderung in die Sozialwerke.

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Alles halb so wild?

Eine Studie des wirtschaftsnahen Think Tanks Avenir SuisseExterner Link hat kürzlich ergeben, dass die Unionsbürgerrichtlinie der Schweiz im Worst-case-Szenario «nur» 75 Millionen Franken zusätzliche Kosten pro Jahr verursachen würde. Die Schweizer Regeln über den Zugang zur Sozialhilfe würden sich laut Avenir Suisse mit der Unionsbürgerrichtlinie kaum ändern. Der Think Tank beruft sich dabei unter anderem auf die restriktive Auslegung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

Der österreichische EU-Rechtsexperte Peter Hilpold von der Universität Innsbruck hat die Rechtsprechung des EuGHs zur Unionsbürgerrichtlinie ausgewertet. Sein Ergebnis: Ursprünglich hat das Gericht die Ansprüche kontinuierlich erweitert. Doch seit 2014 änderte das Gericht seinen Kurs, es kam zu einer Gegenbewegung. «Der EuGH hat wohl die Signale aus den Mitgliedstaaten verstanden, wonach eine allzu extensive Auslegung der Unionsbürgerrechte auf breite Ablehnung stösst», schlussfolgert Hilpold. Von der möglichen Gefahr eines «Sozialtourismus» könne man demnach gegenwärtig nicht sprechen.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Sibilla Bondolfi

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Die Schweiz sträubt sich gegen die Unionsbürgerrichtlinie. Sie fürchtet eine Einwanderung in ihre Sozialwerke. Zum Artikel Unionsbürger-Richtlinie: Ist sie das Monster, das wir fürchten?

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Frühere Debatte in der EU

«In jüngster Zeit ist die Unionsbürgerrichtlinie in der EU kein kontroverses Thema mehr», sagt auch Panu Poutvaara. Der Finne ist Leiter des Zentrums für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung am ifo Institut in München und Professor für Volkswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität.

Vor einigen Jahren lief die Kontroverse noch heiss. Laut Poutvaara kam es besonders nach der Osterweiterung zu intensiven Diskussionen innerhalb der EU. «Vor der Osterweiterung war die EU viel homogener, die Frage der Sozialleistungen daher weniger kontrovers», erklärt er. In Osteuropa ist das Lohn-, Preis- und Sozialleistungsniveau deutlich tiefer als in Westeuropa. Zudem haben die EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedliche Sozialversicherungssysteme.

Nachdem der deutsche Arbeitsmarkt 2014 für Bürgerinnen und Bürger aus Bulgarien und Rumänien geöffnet wurde, verdreifachte sich in Deutschland die Zahl der Hartz-IV-Empfänger aus diesen Ländern innert fünf Jahren. «Es gibt Bulgaren, die Hartz-IV beziehen, aber die Unionsbürgerrichtlinie sieht Restriktionen vor, die das Problem klein halten», sagt Poutvaara. Einen «Sozialhilfetourismus» gebe es daher nur in sehr geringem Ausmass.

Wäre die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz wirklich so schlimm? Dieser Frage ging SRF am 21. April 2021 nach:

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«Die Schweiz profitiert insgesamt»

Poutvaara versteht zwar die Ängste der Schweiz, gerade wegen des unterschiedlichen Sozialleistungsniveaus. «Insgesamt überwiegen aber die positiven Aspekte für die Schweiz, denn sie profitiert auf der anderen Seite stark vom gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt», findet Poutvaara. Für den einzelnen Angestellten oder Handwerker sei Lohndumping durch die billige Konkurrenz aus dem Ausland zwar unerfreulich, doch für die Volkswirtschaft insgesamt sei die Freizügigkeit ein Gewinn.

Die Schweiz würde seiner Meinung nach mit Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie nicht von ausländischen «Sozial-Einwanderern» überrannt, weil die Unionsbürgerrichtlinie genügend starke Restriktionen vorsehe. Mehr als drei Monate in einem Land aufhalten darf sich beispielsweise nur, wer arbeitet, genügend Geld für die Existenzsicherung hat oder ein Angehöriger ist.

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Die eingangs geschilderte Geschichte kennt übrigens ein Happy EndExterner Link: Ein österreichisches Gericht stoppte kürzlich die Ausweisung der deutschen Familie. Mit der Begründung, die Familie habe genug Geld und sei nicht auf den Sozialstaat angewiesen. Schliesslich ging es bloss um einen Job in einer Behindertenwerkstätte.

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