Die UNO braucht mehr Demokratie – ein Job für die Schweiz?
Die Vereinten Nationen kämpfen mit einem Defizit an Demokratie. Als angehendes Mitglied des mächtigen Sicherheitsrates möchte die Schweiz bei Reformen eine aktive Rolle spielen.
Und plötzlich waren sich alle einig: Ende April beschloss die Generalversammlung, das wichtigste Gremium der Vereinten Nationen, dass ein Veto im Sicherheitsrat künftig immer zu einer Debatte in der Generalversammlung führen muss. «Dies ist ein Aufruf dazu, die Anwendung des Vetos einzuschränken, wenn ein ständiges Mitglied des Rates dieses Recht ausübt», erklärt die Schweizer UNO-Botschafterin Pascale Baeriswyl den Beschluss – gegen welchen sich kein einziger der 193 Mitgliedsstaaten ausgesprochen hatte. «Dieser Entscheid ist die Frucht von über zwei Jahrzehnten Arbeit für einen transparenteren und effizienteren Sicherheitsrat», fügte sie an.
Trotzdem kommt der Konsensbeschluss überraschend. Denn die UNO zeigte sich angesichts des völkerrechtwidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zuletzt wieder einmal höchst zerstritten und uneinig. Im Sicherheitsrat mit 15 Mitgliedern machte Russland in den letzten Wochen wiederholt von seinem Vetorecht Gebrauch und lähmte damit die Handlungsfähigkeit des Gremiums, dessen Aufgabe die Sicherung von Frieden und Sicherheit ist. Künftig muss sich Russland also in Veto-Fällen einer Debatte in der Generalversammlung stellen – wie auch alle vier weiteren Vetomächte: China, Frankreich, Grossbritannien und USA.
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René Schwok, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Genf spricht von «einem grossen Erfolg für kleinere UNO-Mitgliedsstaaten wie die Schweiz und Liechtenstein». Letzteres präsentierte das Anliegen vor der Generalversammlung: «Am Ende hatten wir 80 Co-Sponsoren», sagt Liechtensteins UNO-Botschafter Christian Wenaweser und redet von einem, «Fortschritt für den Multilateralismus und ersten Schritt für weitere Innovationen» der Weltorganisation.
Tatsächlich war diese Reformbemühung kein Einzelfall. Schon seit Jahren gibt es Bestrebungen, die bestehenden Demokratiedefizite innerhalb der Uno zu beheben und das Vetorecht zu reformieren – auch seitens der Schweiz.
2019 schrieb der Bundesrat in einer Antwort auf ein PostulatExterner Link im Schweizer Parlament: «Der Bundesrat begrüsst eine Diskussion über eine Modernisierung und Stärkung der Vereinten Nationen, zu der auch die Demokratisierung gehört.» 2020 legte er auch einen BerichtExterner Link zur Demokratisierung der Uno vor.
Innenpolitisch tut sich die Schweizer Regierung aber weiterhin schwer, bei der Ausarbeitung der Positionen und Schwerpunkte für die Arbeit im Sicherheitsrat das eigene Parlament und die Bevölkerung einzubeziehen. Rechtlich gesehen hat die Schweizer Bevölkerung keine direkten Mitspracherechte in der Aussenpolitik.
Der Bundesrat ist gemäss Verfassung zuständig für die auswärtigen Angelegenheiten. Er vertritt die Schweiz nach aussen und unterzeichnet Verträge. Das Parlament muss manche Verträge genehmigen, andere fallen aber auch in die alleinige Zuständigkeit der Regierung.
Laut ParlamentsgesetzExterner Link muss der Bundesrat die für die Aussenpolitik zuständigen Kommissionen regelmässig informieren und zu wesentlichen Vorhaben konsultieren. Das Parlament hat im Bereich der Aussenpolitik also ein Informations- und Konsultationsrecht. Die Aussenpolitischen Kommissionen können eine Empfehlung oder Stellungnahme abgeben. Der Bundesrat muss sie jedoch nicht berücksichtigen. Er kann sie ohne weitere Begründung ablehnen.
Rein rechtlich gesehen haben Bevölkerung und Zivilgesellschaft keine direkten Mitspracherechte in der Aussenpolitik. Nur bei der Genehmigung von völkerrechtlichen Verträgen hat die Stimmbevölkerung ein Vetorecht: Es kann das Referendum ergriffen werden.
Der Bundesrat bezieht die KantoneExterner Link in die Aussenpolitik ein, wenn aussenpolitische Entscheide die Zuständigkeit oder wesentliche Interessen der Kantone berühren. Gemäss Verfassung informiert er die Kantone und holt ihre Stellungnahmen ein.
Immerhin: Wenn der Sicherheitsrat in der Phase des Schweizer Einsitzes ein völlig neues Sanktionsregime beschliessen oder eine militärische Aktion autorisieren sollte, dann würden die Präsident:innen der aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments konsultiert. Der Bundesrat will zudem die Bevölkerung regelmässig über das Abstimmungsverhalten der Schweiz im Sicherheitsrat informieren – nachträglich. Zudem gibt es Pläne, die Zivilgesellschaft in Geschäfte des Sicherheitsrats miteinbeziehen, wie dies Norwegen teilweise macht.
Damit geht die Schweiz im internationalen Vergleich recht weit. «Historisch ist die Aussenpolitik in allen Ländern immer schon Sache der Exekutive gewesen», erklärt die Völkerrechtlerin Anna PetrigExterner Link von der Universität Basel. Auch in der Schweiz seien erst mit der neuen Verfassung von 1999 umfassende Mitwirkungsrechte des Parlamentes eingeführt worden.
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In den meisten Ländern wurde das Monopol der Regierungen in der Aussenpolitik lange still hingenommen. Doch dann mischten zwei globale Trends die Debatten auf:
Erstens werden (nicht nur) bei der UNO immer mehr Fragen völkerrechtlich geregelt, wodurch der politische Gestaltungsraum der nationalen Legislativen schwindet. Denn die Normsetzung auf völkerrechtlicher Ebene findet über die Regierungen statt. «Die Parlamente merkten, dass ihnen gewisse Materien entgleiten, weil immer mehr Sachverhalte internationalisiert werden», sagt Petrig.
Zweitens werden immer häufiger so genannte Soft Law-Lösungen angestrebt, also unverbindliche Übereinkünfte, Absichtserklärungen oder Leitlinien, die nicht den zeitintensiven «normalen» Gesetzgebungsprozess durchlaufen müssen. Ein Beispiel dafür ist der umstrittene Uno-Migrationspakt, der Standards für den Umgang mit Migrant:innen setzt. «Der Migrationspakt war in vielen Ländern wie ein Weckruf in Sachen Soft Law», sagt Petrig, die für die Schweiz ein GutachtenExterner Link über den Einbezug des Parlamentes bei Soft Law verfasst hat.
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«Sicherheitsrat als Brennglas»
Durch die Internationalisierung verlieren Stimmbevölkerung und Parlamente an Einfluss, während die Regierungen an Entscheidungsgewalt zulegen. Das ist eigentlich auch in der Schweiz nichts Neues. Doch laut Petrig gewinnt das Thema nun an Publizität. «Die Kandidatur im Sicherheitsrat ist wie ein Brennglas für die Frage, wie weit die Mitwirkungsrechte reichen», so Petrig.
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Dabei wäre es durchaus ein Gewinn, wenn auch die Tagesordnung der Vereinten Nationen in demokratischeren Prozessen bestimmt werden könnte. Tatsächlich ist dieser Gedanke auch bereits bei der UNO angekommen. So entstand im Rahmen von Bürger:innen-GesprächeExterner Linkn aus Anlass des 75-jährigen Bestehens der UNO der Vorschlag einer Weltbürger:innen-InitiativeExterner Link. «Die Menschen sollen künftig auch eine Stimme in der UNO haben», erklärte die jamaikanische Parlamentarierin Angela Brown Burke kürzlich bei der Präsentation des Vorhabens. Die Idee wird von Parlamentsmitgliedern aus bislang 40 UN-Mitgliedsstaaten und über 200 zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt.
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Für die Schweizer Völkerrechtlerin Anna Petrig wäre die Weltbürgerinitiative aber nicht die Lösung aller Probleme. «Es gibt hunderte internationaler Akteure, nicht nur die Uno, das System ist extrem fragmentiert.» Die Bandbreite sei dabei enorm: Von Experten, die in einem «Old Boy’s Club» ein Handbuch verfassten, das mangels Alternativen zum Standard werde, bis zu hochformalisierten Prozessen mit öffentlichen Debatten wie beim Migrationspakt, gebe es alles. «Es ist deshalb schwierig, zu sagen, wie man die Mitwirkung von Parlamenten bei dieser Vielfalt am besten regelt.» Immerhin geht der internationale Trend laut Petrig bereits in Richtung mehr Transparenz und Partizipation.
Dazu gehört der jüngste Veto-Beschluss der Generalversammlung. Dieser markiere, so der Genfer Professor für Internationale Beziehungen René Schwok, «einen wichtigen Meilenstein» auf dem Weg zu einer demokratischeren Weltorganisation.
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