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UNRWA-Finanzierung: Wie reagiert die Schweiz auf die jüngsten Vorwürfe?

Personen vor einer Schule in Gaza - tristes Betongebäude, Stromleitungen
Binnenvertriebene Palästinenser:innen versammeln sich vor einer von der UNRWA betriebenen Schule in Rafah im südlichen Gaza-Streifen. Keystone / Haitham Imad

Mehrere Länder haben ihre Finanzhilfen für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge ausgesetzt, während die Vorwürfe gegen dessen Mitarbeiter:innen immer lauter werden. Die Schweiz hat die Mittel für 2024 noch nicht ausgezahlt, sie wartet die Ergebnisse einer Untersuchung ab.

In der Schweiz wird schon länger über die Rolle der UNO-Agentur und ihre mögliche Beteiligung an der Spaltung zwischen Palästinenser:innen und Israelis diskutiert. Doch seit den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober hat die Diskussion eine neue Intensität.

Wie hat sich die Debatte über die UNRWA in der Schweiz entwickelt?

Am vergangenen Freitag gab die UNRWA bekannt, dass es 12 Mitarbeitende wegen ihrer angeblichen Beteiligung an den von der Hamas am 7. Oktober verübten Anschlägen entlassen hat. Am Montag schrieb das Wall Street JournalExterner Link, dass etwa 10% der UNRWA-Mitarbeitenden in Gaza Verbindungen zur Hamas oder zur palästinensischen Bewegung Islamischer Dschihad hätten.   

Während mehrere Länder fast sofort die Finanzierung der UNRWA ausgesetzt haben, beschloss die Schweiz, ebenso wie die Europäische Union (EU), die Ergebnisse einer Untersuchung der UN abzuwarten, bevor sie über ihr weiteres Vorgehen entscheidet.   

Bereits im Jahr 2018 hatte Aussenminister Ignazio Cassis der UNRWA vorgeworfenExterner Link, Teil des übergreifenden Problems im Nahen Osten zu sein. Seine damalige Behauptung löste bei vielen Empörung aus. Dieses Mal hat Cassis offenkundig mehr Unterstützung. 

Im vergangenen Dezember stimmte der Nationalrat dafür, die Mittel für das Hilfswerk zu kürzen. Die darauf folgende Diskussion führte zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Kammern des Schweizer Parlaments, doch schliesslich wurde ein Kompromiss erzielt.

Man einigte sich auf eine Kürzung des allgemeinen humanitären Budgets um 10 Millionen Franken (11,6 Millionen Dollar), ohne genau festzulegen, wo das Geld eingespart werden sollte.

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Nun scheint die Stimmung in Richtung von Cassis Kritik zu kippen, gerade auch bezgogen auf den Vorwurf, die UNRWA schüre an ihren Schulen in Gaza den Antisemitismus.

Wer spricht sich gegen die UNRWA aus?    

Nach Angaben des Wall Street Journals waren unter den 12 UNRWA-Mitarbeitenden, die wegen ihrer angeblichen Verbindungen zu den Anschlägen entlassen wurden, 7 Lehrpersonen.

Pierre-André Page von der rechtskonsrvativen Schweizerischen Volkspartei sagte am Samstag gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Schweizer Radio RTS, dass ihm beim Besuch einer UNRWA-Schule im vergangenen Jahr der Zugang zu Klassenzimmern und die Einsicht in Lehrbücher verwehrt worden sei.

«Das beweist, dass es ernsthafte Probleme mit dieser Organisation gibt», sagte er.

Einige sind auch besorgt darüber, dass Schweizer Gelder in die Hände von Terrororganisationen gelangen könnten, und fordern eine Nulltoleranz. 

Der vom Wall Street Journal zitierte Geheimdienstbericht hält fest, dass die Hamas seit dem 7. Oktober UNRWA-Lieferungen im Wert von mehr als 1 Million Dollar (862’700 CHF) gestohlen hat.

In dem Bericht wird behauptet, dass Hamas-Agenten an der Koordinierung der Hilfslieferungen für die UNRWA beteiligt sind.

Hans-Peter Portmann von der liberalen FDP sagte gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF: «Wir werden die Schweizer Regierung auffordern, Massnahmen zu ergreifen und die Gelder sofort zu stoppen, ohne den Umweg über das Parlament.»

Frauen mit Transparenten bei einer Protestaktion
Palästinensische Einwohner:innen im Libanon tragen Plakate mit der Bitte um dringende Hilfe für den Gazastreifen während einer Protestaktion gegen die Entscheidung mehrerer Geberländer, die Finanzierung der UNRWA einzustellen. Keystone / Wael Hamzeh

Wer verteidgt die UNRWA?

Während diese Schweizer Politiker darauf hinweisen, dass es andere Organisationen gibt, die der Bevölkerung in Gaza helfen könnten, namentlich das Rote Kreuz, halten andere die UNRWA für praktisch unersetzlich. 

Der Sozialdemokrat Carlo Sommaruga sagte gegenüber RTS, dass «die Bestrafung der UNRWA vor allem eine Bestrafung der bedürftigen Bevölkerung in Gaza ist, und es gibt keine Alternative».

Die Organisation kümmert sich um rund 5,9 Millionen Nachfahren der Palästinenser:innen, die nach der Gründung des Staates Israel aus ihrer Heimat geflohen sind.

Neben dem Betrieb von medizinischen und schulischen Einrichtungen leistet die UNRWA nach eigenen Angaben lebensrettende Hilfe für 2 Millionen Menschen in Gaza.   

Felix Wettstein von den Grünen und Franziska Roth von der Sozialdemokratischen Partei verteidigten im Gespräch mit SRF die UNRWA und betonten, dass die katastrophale Situation vor Ort berücksichtigt werden müsse.

«Der einzigen lokalen Hilfsorganisation sollte nicht ohne klare Beweise die Unterstützung entzogen werden», sagte Roth.

Was sind die möglichen Folgen der Mittelkürzung?

Der in der Schweiz geborene Leiter der UNRWA, Philippe Lazzarini, warnt seit langem vor den finanziellen Problemen des Hilfswerks, doch die jüngsten Anschuldigungen könnten einen schweren Schlag bedeuten.

Über 90 % des Budgets der Organisation stammen aus freiwilligen Spenden verschiedener Länder, und die wichtigsten Geberländer, die Vereinigten Staaten und Deutschland, haben bereits angekündigt, dass sie ihre Mittel einstellen werden.

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Obwohl andere Länder wie China, Russland und einige reiche arabische Staaten den Palästinensern Unterstützung zugesagt haben, könnte die UNRWA ohne konkrete Finanzierung zusammenbrechen.

«Die Palästinenser in Gaza haben diese zusätzliche kollektive Bestrafung nicht verdient. Das betrifft uns alle», schrieb Lazzarini in einer Erklärung.

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Was ist die internationale Reaktion?

2018, während der Trump-Regierung, hatten die Vereinigten Staaten die Hilfe für die Organisation ausgesetzt. 2021 wurden sie wieder aufgenommen. Nun hat sich auch die Regierung Biden für eine Aussetzung der Finanzierung entschieden, per sofort.

Das Vereinigte Königreich folgte diesem Beispiel umgehend, aber auch die Kritik an der Entscheidung der Regierung liess nicht lange auf sich warten. Amnesty International UK erklärte, die Aussetzung der Finanzierung sei eine «schreckliche» Entscheidung, die rückgängig gemacht werden müsse.   

Auch Australien, Estland, Deutschland, Italien, Japan, Rumänien und die Niederlande gehören zu den Ländern, die ihre Unterstützung ausgesetzt haben.   

Im Gegensatz dazu hat der irische Premierminister Micheál Martin die weitere Finanzierung der UNRWA zugesichert und dabei die «lebensrettende Hilfe für 2,3 Millionen Menschen unter unglaublichen persönlichen Kosten» in den Vordergrund gestellt.

Auch der norwegische Aussenminister Espen Barth Eide bekräftigte angesichts der «katastrophalen» Lage in Gaza die Fortsetzung der Unterstützung.  

Am Dienstag traf UN-Generalsekretär Antonio Guterres in New York mit Vertreter:innen der wichtigsten UNRWA-Geberländer zusammen. Guterres sagte, er sei «entsetzt über die Anschuldigungen», forderte die Länder aber dennoch auf, «die Kontinuität der Arbeit des UNRWA zu gewährleisten».

Editiert von Reto Gysi von Wartburg/amva/livm, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger

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