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UNRWA-Leiter Philippe Lazzarini: “Der Status quo ist nicht mehr tragbar”

Philippe Lazzarini
Der höchste Schweizer in den Vereinten Nationen: Philippe Lazzarini amtet seit 2020 als Generalkommissar des UNRWA und ist zugleich Untergeneralsekretär der UNO. Thomas Kern/swissinfo.ch

Das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA steckt in einer finanziellen Notlage – dies nicht zum ersten Mal. Das wahre Problem liege aber in der fehlenden politischen Lösung, sagt dessen Leiter Philippe Lazzarini.

Wann hört ein Provisorium auf, ein Provisorium zu sein? Seit 74 Jahren unterstützt das Uno-Hilfswerk UNRWA Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Finanzielle Schwierigkeiten begleiteten diese Institution dabei ständig. Seit ungefähr 2010 hat sich die Situation aber kontinuierlich zugespitzt, da mehrere Geldgeber ihre Beiträge senkten. Ein grosses Loch verursachte insbesondere die zeitweilige Aussetzung der amerikanischen Finanzierung unter dem Ex-Präsidenten Donald Trump 2018, die unter seinem Nachfolger wieder aufgenommen wurde.

Es klaffe eine Lücke zwischen dem, was von der Organisation erwartet werde, und den Mitteln, die man ihr dafür zur Verfügung stelle, sagt deren Leiter Philippe Lazzarini. Er hat die Finanzierung der Agentur weit oben auf seiner Prioritätenliste, dazu gehört auch Öffentlichkeitsarbeit. Drastisch warnt Lazzarini: “Diese wachsende Diskrepanz zwischen Erwartungen und Mitteln könnte zu einer Implosion der Organisation führen.”

Es wäre ein Untergang mit Ansage. Die gesprochenen Beiträge stagnieren seit mehr als einem Jahrzehnt – ein Jahrzehnt, das der Region mehrere Krisen brachte: Der Krieg in Syrien, der Kollaps des Libanon, die Corona-Pandemie, zuletzt das Erdbeben und die erneute Zunahme von tödlicher Gewalt in Israel und Palästina. Diese haben die bei der UNRWA registrierten palästinensischen Flüchtlinge wiederholt getroffen, und oft ist die Organisation das einzige Auffangbecken für sie. Ohne zusätzliche Mittel könne man aber auf die steigenden Bedürfnisse nicht reagieren. “Der Status quo ist schlicht nicht mehr tragbar”, sagt Lazzarini.

Mehr Flüchtlinge, wachsende Ansprüche

Die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, war einst als temporäre Organisation gegründet worden, um palästinensische Flüchtlinge nach 1948 zu versorgen. Seither wird das Mandat alle drei Jahre verlängert. Längst ist daraus eine Institution entstanden, die staatliche Aufgaben erledigt – so bietet sie etwa medizinische Versorgung, Bildung und Erziehung sowie humanitäre Massnahmen an. Dies für eine registrierte Bevölkerung von 5,6 Millionen Menschen in Jordanien, Syrien, dem Libanon und den palästinensischen Autonomiegebieten, die je nach politischer Grosswetterlage in unterschiedlichem Masse darauf angewiesen ist.

Darunter befinden sich zurzeit 550’000 Schüler:innen, jeweils zwei Millionen Menschen sind auf medizinische Erstversorgung oder Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Das Spezielle daran: Die rund 30’000 Mitarbeitenden der UNRWA sind grösstenteils selber Palästinenser:innen. Und die Organisation hat nicht nur zunehmend Mühe, ihre Hilfsdienste aufrechtzuerhalten, sondern auch deren Löhne auszuzahlen.

Da der Flüchtlingsstatus vererbt wird, wächst die Zahl der Flüchtlinge kontinuierlich – und damit auch die Anforderungen an die UNRWA. Finanziert wird all das über freiwillige Spenden. Der Grossteil des Budgets, im Jahr 2022 waren es 1,6 Milliarden Dollar, kommt von westlichen Staaten. Die Schweiz beteiligt sich seit langem mit rund 20 Millionen Franken jährlich.

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Augenfällig ist die geringe Beteiligung arabischer Staaten, die zudem in den letzten Jahren abgenommen hat. “Man sieht eine Diskrepanz: Es wird viel Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung ausgedrückt, aber gleichzeitig werden immer weniger Mittel gesprochen”, sagt Lazzarini. Das ist Ausdruck der geopolitischen Verschiebungen in der Region: Manche arabischen Staaten wollen ihr Verhältnis zu Israel normalisieren, die schwindende Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge ist eine Konsequenz davon.

Für die Palästina-Flüchtlinge, die in zunehmend schwierigeren Umständen überleben müssten, habe das nicht nur finanzielle Konsequenzen, sagt Lazzarini: “Es macht sich vermehrt das Gefühl breit, von der internationalen Gemeinschaft vergessen worden zu sein.” Gepaart mit der weit verbreiteten Armut und Perspektivlosigkeit eine gefährliche Mischung.

Unrealistische Erwartungen und ein hochpolitisches Umfeld

Auch die Kritik an der UNRWA hatte in den letzten Jahren zugenommen. Es gab Vorwürfe wegen Missmanagement und antisemitischen Inhalten in Schulbüchern. So sagte der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis nach einem Besuch in einem Lager in Jordanien 2018, die UNRWA sei zu einem “Teil des Problems” geworden – die Organisation sei also bei der Lösung der Palästinenserfrage ein Hindernis. Ein Narrativ, das insbesondere rechte Gruppierungen in Israel und den USA bereits länger verbreiten.

Der Vorgänger von Lazzarini, der Schweizer Diplomat Pierre Krähenbühl, musste 2019 seinen Hut nehmen, nachdem er wegen Managementproblemen stark kritisiert wurde. Auch das hatte zu Staus in den Spendenflüssen geführt. Europäische Staaten, darunter auch die Schweiz, hatten ihre Zahlungen suspendiert.

Man nehme Kritik ernst, sagt Lazzarini und verweist auf interne Umstrukturierungen und rigorose Kontrollen des Schulmaterials, das von den Behörden des jeweiligen Einsatzgebiets bereitgestellt wird. “Aber die UNRWA wird oft für die Probleme in der Region verantwortlich gemacht. Diese können jedoch nur auf politischer Ebene gelöst werden – und dafür gibt es leider schon länger keine Anzeichen”, so Lazzarini.

Durch die Weiterführung des Flüchtlingsstatus und dem Festhalten an das Rückkehrrecht würden Friedensverhandlungen verunmöglicht, ist eine oft angebrachte Kritik. Stattdessen solle mehr in die Integration der Flüchtlinge im jeweiligen Land investiert werden. “Die Voraussetzungen dazu gibt es jedoch in keinem dieser Länder”, sagt der Leiter des Hilfswerks.

Unrealistische Erwartungen im Zusammenhang mit der Organisation sind auch Ausdruck der starken Politisierung des Themas. Nüchterne Fehleranalysen und eine Reformierung der Organisation werden teilweise dadurch verunmöglicht, dass alles durch eine Entweder-oder-Brille gesehen wird: Der Vorwurf einseitig pro-palästinensisch, respektive pro-israelisch zu sein, ist schnell zur Hand.

Keine Änderung in Sicht

Im Jahr 2024 feiert die UNRWA ihr 75-jähriges Bestehen. Wie wenig sich manche Dinge verändert haben, erläutert Lazzarini anhand eines kürzlichen Besuchs eines Flüchtlingslagers in Beirut: “Nach einem Dreivierteljahrhundert verteilen Sie immer noch Essen”, habe sich ein junger Bewohner an ihn gerichtet.

Wie also weiter? “Unser Ziel ist klar: Wir möchten eine Situation, in der es die UNRWA nicht mehr braucht”, sagt Lazzarini. Da das Mandat der UNRWA auf Beschlüssen der Uno-Generalversammlung basiert, kann jede Änderung der Situation der palästinensischen Flüchtlinge nur über einen politischen Prozess eingeleitet werden. Für den Moment bleibt ihm also nichts anderes übrig, als die Lücken zu schliessen und Wege zu finden, die Finanzierung der UNRWA mittelfristig zu stabilisieren.

Bis eine politische Lösung gefunden wird, bleibt aber die Organisation unersetzlich, da seien sich alle Akteure einig, sagt Lazzarini. Zumindest aus Israel klingt das anders, auch wenn er die Beziehungen zu den israelischen Behörden als pragmatisch bezeichnet und ein Kollaps der Organisation kaum in deren Interesse sein kann. “Zurzeit ist in der Region viel in Bewegung. Wir müssen optimistisch bleiben, dass eine Lösung gefunden werden kann – das sind wir den Palästina-Flüchtlingen schuldig.” Das bedeutet aber auch: Das Provisorium wird auf absehbare Zeit bleiben.

Editiert von Balz Rigendinger.

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